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Gerhard Nestler, Geschichte der Musik. Bertelsmann 1962. Serie Musik. Atlantis/Schott. Gütersloh 51997.Eine „Musikgeschichte“ ist immer ein Wagnis. Der Grund für die erneute Auflage dieses Werkes mag weniger in dem Faktum liegen, daß neueste musikgeschichtliche- und wissenschaftliche Erkenntnisse fehlen, sondern der anhaltende Erfolg des Buches beruht wohl auf zweierlei: Der Autor versteht es, in einem sehr lockeren, fast romanhaften, leicht faßbaren Stil musikalische Fakten dem Leser nahezubringen, sie ihm plastisch vor Augen zu führen, sei es die Schule von Notre Dame, die Entwicklung der Oper oder die „Neue Musik“. Gewürzt mit Anekdoten, einem immensen musikalischen Wissen und vor allem interdisziplinär, vollzieht er mit dem Leser einen Streifzug durch die Musikgeschichte. Die verschiedenen Entwicklungen und Strömungen werden von dem promovierten Kunsthistoriker in einem Weg verbunden, der sich von traditionellen Musikgeschichten abhebt. Anhand von ausgewählten Orten erläutert der Autor musikgeschichtliche Schwerpunkte, verbindet Musikgeschichte somit zur Kulturgeschichte. Der Weg als solcher wird zum Selbstzweck. Die Fülle des Stoffes – immerhin „von den Anfängen bis zur elektronischen Musik“ – verlangt, daß Prioritäten gesetzt werden müssen. Wer hier Tiefe oder musikwissenschaftlichen Diskurs erwartet, wird enttäuscht, natürlich, denn der Zweck des Buches ist ein anderer: Ein Überblick über die Entwicklung der Musik, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Eine kritische Hinterfragung und vor allem einzelne für die Entwicklung einzelner Stil- oder Gattungsfragen zu behandelnde Diskurse bleiben aus; die Vielfalt der Informationen ist schlicht beeindruckend, fast auch schon erdrückend. Trotzdem bleibt es ein beeindruckendes historisches Unikat, ein musikgeschichtliches Beispiel aus der Zeit, als es selbst für seriöse Forscher kein Problem darstellte, eine „Musikgeschichte“ zu schreiben.