„Es gibt in der heutigen Welt nur Koexistenz oder keine Existenz.“ So hieß es in der Ansprache, die am 3. Juli 1988 in der Berliner Philharmonie Abrüstung und ein Ende aller Atomtests forderte und eine denkwürdige Aufführung von Beethovens „Missa solemnis“ einleitete. Mitwirkende waren Gesangssolisten aus Dänemark, der DDR, den USA und der Sowjetunion, ein US-amerikanischer Chor und Musiker aus 39 ost- und westeuropäischen Orchestern, aus Berlin ebenso wie aus London, Paris, Dresden, Budapest, Genf, Warschau und Moskau. Mit diesem Berliner Konzert begann eine von den „Ärzten gegen Atomkrieg“ (IPPNW) organisierte Tournee, welche Beethovens „Bitte um inneren und äußeren Frieden“ innerhalb einer Woche in vier Städten – West-Berlin, Moskau, Dresden und London – zu Gehör brachte.
Das Projekt hatte Antal Doráti angeregt, der auch die musikalische Leitung übernahm. Die „Missa solemnis“ begriff er als einen „riesigen Wegweiser“ auf dem schwierigen Weg zu einem wirklichen Frieden. Wie bedroht dieser war, hatte sich gerade an jenem 3. Juli gezeigt. Nach dem Konzert, das vormittags um 11 Uhr begann, flogen alle Mitwirkenden mit einer Maschine der Interflug nach Moskau. Schon auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld verbreitete sich die Nachricht vom Abschuss einer iranischen Zivilmaschine über dem Persischen Golf. Später hörte man, dass ein US-amerikanisches Kriegsschiff das Flugzeug fälschlich als Militärobjekt identifiziert hatte. Der Tod aller 290 Passagiere führte zu internationalen Protesten, an denen sich auch der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow beteiligte. Anders als geplant nahm er deshalb an dem Konzert im Moskauer Tschaikowsky-Saal nicht teil. Erst zwei Tage später in Dresden informierte Antal Doráti die Mitwirkenden über den Zwischenfall und appellierte: „Was auch immer passieren mag, wir lassen uns von unserer gemeinsamen Mission nicht abbringen.“ So wurde die Tournee wie geplant fortgesetzt.
Über Funk und Fernsehen hatten schon in der ersten Woche mehr als 200 Millionen Menschen an den Aufführungen teilnehmen können. „Dies war das größte Erlebnis meiner künstlerischen Tätigkeit“, schrieb Doráti im Rückblick, „und eines der größten meines ganzen Lebens überhaupt“. Der Dirigent war damals 82 Jahre alt. Nur wenige Monate nach der Tournee, am 13. November 1988, erlag er seiner Krankheit. Die vier Beethoven-Aufführungen mit dem Europäischen Symphonie-Orchester waren sein Vermächtnis. Die Bitte um inneren und äußeren Frieden hat seitdem nicht an Bedeutung verloren. Sie ist heute sogar aktueller denn je.
Mehr Oratorium als Oper
Antal Doráti, 1906 in Budapest geboren, hatte schon im Alter von 18 Jahren als Dirigent im dortigen Opernhaus debütiert. Fritz Busch engagierte ihn sogleich als seinen Assistenten in Dresden. Schon bald begann eine Weltkarriere mit Chefpositionen in Monte Carlo, Dallas, Minneapolis, London, Stockholm, Washington und Detroit. Mit dem Exilorchester Philharmonia Hungarica spielte Doráti sämtliche Haydn-Symphonien ein. Der Neffe Ernst von Dohnányis hatte in Budapest bei Leó Weiner und Zoltán Kodály Komposition studiert. Er war deshalb auch schöpferisch tätig, schrieb Symphonien und Solokonzerte, wobei es sein Anspruch war, erkennbar zeitgenössisch zu sein, ohne Angst vor der Melodie zu haben.
Noch vor der Missa-solemnis-Tournee hatte Doráti 1988 dem jungen Dirigenten Martin Fischer-Dieskau, der 1978/9 sein Assistent in Detroit gewesen war, seine 1983 entstandene Oper „Der Künder“ vorgespielt. Dieser war davon so beeindruckt, dass er beschloss, sich für die Uraufführung zu engagieren. Dem Werk liegt das alttestamentarische Mysterienspiel „Elija“ von Martin Buber zugrunde. Als Sohn einer Schauspielerin hatte sich der bekannte jüdische Religionsphilosoph schon früh mit dem Theater befasst. Starken Eindruck hinterließ bei ihm das katholische Mysterienspiel „L’annonce faite à Marie“ von Paul Claudel, das er 1913 in Hellerau erlebt hatte (Walter Braunfels machte daraus sein Bühnenwerk „Die Verkündigung“). Vermutlich gehört die Beschäftigung mit dem Theater zu den Wurzeln des dialogischen Prinzips, welches den Kern von Bubers Philosophie ausmacht. In Jerusalem, wo er seit 1938 lebte, schuf er 1955 sein einziges Theaterstück „Elija“, das er wie Claudel als Mysterienspiel bezeichnete. Die Hauptfiguren sind der Ziegenhirte Elija, den Gott zum Künder, zum Propheten erwählt, und dessen Gegenspieler Ahab, der König von Jesreel. Mit diesen beiden Personen stehen sich der jüdische Gott und der Götze Baal gegenüber. Während Gott als „das ewige Du“ das dialogische Prinzip verkörpert, ist Baal ein Feind der Rede. Buber bezog mit seinem Drama auch Stellung zur Politik Israels. Den Sieg des Leisen über das Laute verstand er als einen Appell, einen Ausgleich mit den Arabern zu suchen. Auf Anraten seiner Freunde hat Buber sein Stück erst 1963 veröffentlicht. Bis heute wurde es nicht in einem größeren Rahmen aufgeführt.
„Gleißender Politthriller“
Auch Dorátis Oper harrt noch der szenischen Uraufführung. Martin Fischer-Dieskau konnte für diesen „gleißenden Politthriller“ bislang noch keine geeignete Bühne finden. Tatsächlich mag die Zahl von 17 Solopartien manche Interessenten abgeschreckt haben. So entschloss er sich, die Oper zunächst mit einer CD-Produktion und einem Film vorzustellen. Die CD-Aufnahme leitete er mit internationalen Solisten, dem Chor des Teatr Wielki Poznán und dem Orchester der Beethoven-Akademie Krakau im August 2021 im Penderecki-Studio in Krakau. Der Regisseur und Produzent Reinhold Jaretzky hat die Produktion in einem Dokumentarfilm begleitet. Dieser wurde nun zusammen mit der großen Martin-Buber-Werkausgabe und der CD-Gesamteinspielung im Jüdischen Museum Berlin in Ausschnitten der Öffentlichkeit vorgestellt.Anders als Buber oder Schönberg und Weill war Doráti kein Zionist. Seine Eltern hingen einem liberalen Judentum an. Die 23 Szenen von Bubers umfangreichem Drama hat der Komponist für seine Oper auf 13 Szenen in drei Akten reduziert. Obwohl Gott dabei eine zentrale Rolle spielt, wird er nicht von einem Sänger verkörpert. Gott ist vielmehr „die Stimme“ – es ist immer die Stimme desjenigen Menschen, den sie anspricht. Die Gesangssolisten nahmen deshalb alle Partien der mit ihnen sprechenden „Stimme“ auf Tonband auf; diese werden dann jeweils per Lautsprecher eingespielt. So hört jeder Sänger, wenn er mit Gott spricht, seine eigene Stimme. Die Gott-Mensch-Dialoge sind somit auch innere Monologe, der Idee des Gebets und Bubers „Ich und Du“-Prinzip entsprechend.
Mit Ausschnitten aus der Orfeo-CD-Produktion waren einzelne Szenen aus dem zweieinhalbstündigen Werk zu hören, beginnend mit der Stimme Gottes in der Wüste, die den Ziegenhirten zum Künder beruft. Wie Mendelssohn in seinem Oratorium hat auch Doráti Elia als Bass und den Gegenspieler Ahab als Tenor komponiert. Das Volk wartet dringend auf Regen, der mit Gottes Hilfe schließlich kommt. Das Herannahen der Wolke realisierte Doráti als dichte Klangfläche, den Regenfall als wirkungsvolles Klanggewitter. Nach einer tumulthaften Schlacht und dem Tod Ahabs endet die Oper in einer Friedens-Vision mit dem Psalm „Der Herr ist mein Hirte“ und ruhigen Dur-Akkorden. Martin Fischer-Dieskau vermutet, dass die Auseinandersetzung mit Buber die Hinwendung des Komponisten zum Pazifismus beeinflusst hat.
Dorátis oberstes Ziel war die Vermittlung des lakonischen Textes bei größtmöglicher Verständlichkeit. Dies erreichte er durch den Verzicht auf Ensembles, Duette und Arien zugunsten eines Nacheinanders von Solo- und Chorpartien. So gleicht sein Werk eher einem Oratorium. Die Musik drängt sich nicht in den Vordergrund, ist oft nur dünnstimmig und pentatonisch einfach, steigert sich bei dramatischen Szenen aber zum mächtigen Tutti, auch zu Anklängen an Béla Bartók, Richard Strauss („Elektra“ und „Salome“) oder Alban Berg („Wozzeck“). Nicht zuletzt ist „Der Künder“ eine Sängeroper mit dankbaren Partien, sogar Belcanto. In der transparenten CD-Produktion beeindruckten vor allem Tomasz Konieczny als Elia und Michael Schade als König Ahab. Die gelungene Aufnahme erweckte das Werk musikalisch zum Leben. Wann wird es auch szenisch zu erleben sein?