Man stelle sich einen Handwerker klassischen Stils vor: einen der letzten seiner Zunft, einen, der noch um die „Geheimnisse“ seiner Gewerke weiß, um Farbmischungen, um Materialbeschaffenheit und um ganz besondere Verarbeitungstechniken, die im technologieberstenden vorangegangenen 20. Jahrhundert immer mehr von Maschinen übernommen worden sind. Ein solcher Handwerker ist in der Regel gut ausgelastet, denn er wird immer dann gerufen, wenn es um das „Besondere“, das „Einzigartige“ geht. Handwerkliche Perfektion wird auch bei Musikern vorausgesetzt, und je schärfer das musikalische Profil eines Orchesters ist, umso intensiver wird es in der Öffentlichkeit wahrgenommen.
Studiert man die aktuellen Rezensionen von Aufführungen des WDR Rundfunkorchesters Köln, so fällt auf, dass in diesem Zusammenhang immer öfter von einem „Spezialorchester“ die Rede ist, das musikalische Aufgaben übernimmt, die von keinem anderen ARD-Klangkörper in dieser Form und Professionalität umgesetzt werden. Dieser Umstand ist schon eine genauere Betrachtung wert.
Mehr als sechs Jahrzehnte ist das WDR Rundfunkorchester Köln als eines der beiden Orchester des Westdeutschen Rundfunks in Köln nun im Geschäft. Eine Festschrift, die aus Anlass des 50. Jubiläums vor etwas mehr als 10 Jahren veröffentlicht wurde, steht unter dem Motto: „Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer.“ Diese Sentenz umreißt sehr präzise das musikalische Betätigungsfeld des aus 56 Musikern bestehenden Orchesters, das im Grenzbereich zur so genannten Ernsten Musik angesiedelt ist. All das, was im normalen Sprachgebrauch als „gehobene Unterhaltung“ bezeichnet wird, also Filmmusik, Operetten, sinfonische Dichtungen, bildet den Hauptaufgabenbereich des Ensembles.
Winfried Fechner, Manager des WDR Rundfunkorchesters, übt seinen Job mit Leidenschaft aus und ist dennoch über die allgemein gebräuchliche Terminologie nicht glücklich: „Die Trennung zwischen U- und E-Musik ist nicht gut, denn sie verführt dazu, Wertmaßstäbe anzulegen, die nicht gerechtfertigt sind. Was wir hier machen, ist im doppelten Sinne „Programmmusik“: Es ist sinfonische und vokale Musik auf allerhöchstem Niveau, geschrieben von der überwiegenden Mehrheit der noch der Tonalität verpflichteten Komponisten des 20. Jahrhunderts, und gleichzeitig Musik für den Einsatz in unseren Hörfunkprogrammen WDR 3 und WDR 4, die es in dieser Qualität eben nicht auf handelsüblichen CDs zu kaufen gibt. Sie ist ein Privileg des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die uns eine enorme Hörer- und Publikumsbindung sichert.“
Jeder Dirigent, der einen der zahlreichen Konzertabende mit dem WDR Rundfunkorchesters bestritten hat, kann von der Komplexität der Materie im wahrsten Sinne des Wortes ein Lied singen. Eine Sinfonie von 20 bis 40 Minuten Dauer mit ihren klaren Satzbezeichnungen und Angaben über Phrasierungen und Tempi ist ein Spaziergang gegen das, was einen beispielsweise in der Musik eines Franz Grothe (1908–1982) erwartet. Schnelle, rasante Tempowechsel, komplizierte Übergänge und Klangeffekte, bei denen es ausschließlich auf die richtige Intuition des Dirigenten und ganz besonders auf die Flexibilität der Orchestermitglieder ankommt. Die „Wahrheit“ dieser Musik liegt nicht in den gedruckten Noten, sondern in dem, was zwischen den Zeilen steht. Aus diesem Grunde ist Winfried Fechner auch ganz besonders stolz auf seine Musiker: „Sie schaffen etwas, das nicht viele können. Sie gehen vorbehaltlos an jedes neue Stück heran und können auch innerhalb eines Konzerts ihre Spieltechnik den Erfordernissen jeder einzelnen Nummer anpassen. Und das hat sehr oft faszinierende Klangwirkungen zur Folge.“
Ein Weiteres kommt hinzu: Gerade diese Musik sah sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten zahlreichen willkürlichen stilistischen Eingriffen ausgesetzt. Nahezu hemmungslos wurde neu arrangiert, harmonisch bis zur absoluten Verstümmelung geglättet und dem jeweiligen musikalischen Zeitgeschmack angepasst. Auf diese Weise wurde der Ruf vieler Komponisten nachhaltig negativ beeinflusst, ihre Musik mit Attributen wie „seicht“, „oberflächlich“ oder „kitschig“ versehen. Fechners Zauberwort für die Zukunft heißt „historische Aufführungspraxis“, also etwas, dass es in der „Hochklassik“ schon lange gibt. Durch intensive Recherchen gelingt es immer häufiger, auf die originalen Instrumentierungen zurückzugreifen, und wo dies nicht gelingt, ermöglichen vorhandene historische Aufnahmen aus dem WDR-
Archiv den Zugang zum ursprünglichen musikalischen Konzept eines Werkes. Besonders wichtig ist dies bei Komponisten, die in Deutschland nach 1933 als unerwünscht galten und in die Emigration getrieben wurden oder gar ein schlimmeres Schicksal erleiden mussten. So werden beispielsweise bis Herbst 2010, zum 50. Todestag des Komponisten Paul Abraham, dessen drei große Operettenerfolge „Viktoria und ihr Husar“, „Blume von Hawaii“ und „Ball im Savoy“ wieder in ihrer Originalgestalt als Produktion vorliegen. Abrahams Originalpartituren galten für Jahrzehnte als verschollen, wie so vieles andere auch. Nun sind sie – dank intensiver Recherchen, die ebenfalls nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk in dieser intensiven Form leisten kann – wieder zugänglich. Der ganze wilde, verrückte Jazz Abraham’scher Musik, der nach dem Krieg in überdimensionierten Streicherteppichen „versuppte“, ist jetzt wieder hör- und spürbar. Das Lebensgefühl einer ganzen Epoche, die am Vorabend des 3. Reichs auf dem Vulkan tanzte, erschließt sich plötzlich dem Publikum. Und was für die Musik von Paul Abraham gilt, passt ebenso auf die Werke eines Leo Fall, Leon Jessel, Oscar Straus und vieler anderer Zeitgenossen. Es ist ein enormes Arbeitsfeld, was sich da für die Zukunft des WDR Rundfunkorchesters erschließt.
Diese kulturelle Herausforderung anzunehmen, ist die eine Seite der Medaille, die andere ist die Verpflichtung für eine möglichst hohe Publikumsakzeptanz der Programme zu sorgen. Durch das Experiment „Symphonic Shades“ gelingt es Fechner mittlerweile, ein junges Publikum für seine Konzerte zu begeistern, das bislang keinen Zugang zu sinfonischer Musik hatte. Mit „Symphonic Shades“ wurden die Kompositionen des „Gurus der Computerspiel-Musik“, Chris Huelsbeck, erfolgreich aus der digitalen Ebene der Midi-Files auf ein großes sinfonisches Orchester übertragen, mit unglaublichem Erfolg. Das erste Konzert war schon wenige Stunden nach Bekanntgabe des Termins ausverkauft und vielfach saßen jugendliche Konzertneulinge im Publikum.
Mit den „Symphonic Shades“ wurde der Repertoirefächer des WDR Rundfunkorchesters um eine weitere, extrem spannende Facette erweitert: Einerseits die Musik der Computerspielegeneration, andererseits selten gespiel-te Opern, wie zum Beispiel „Russalka“ von Alexander Dargomyshi – eine Erst-einspielung, die in Kürze als CD herauskommen wird – und dazwischen das breite Spektrum der oben bereits erwähnten „Programmmusik“. Vielseitiger und flexibler geht es nicht. Das ist wohl auch der Hauptgrund für eine Einladung der chinesischen Regierung nach Peking im Juli 2009. Winfried Fechner stellt mit einiger Genugtuung fest: „Andere versuchen, sich dort für viel Geld einzukaufen, uns hat man geholt.“ Ein weiterer Schritt zum „Global Player“ ist geschafft. Mehr als 60 Jahre Pflege einer musikalischen Tradition zahlen sich jetzt aus.