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Anfang der 20er Jahre wurde das Kirchenmusikalische Institut (KI) am Leipziger Landeskonservatorium für Musik vom damaligen Thomasorganisten Karl Straube gegründet. 1925 kam es zu einem Vertrag zwischen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und dem Konservatorium, womit das KI als Institut der Landeskirche am Landeskonservatorium juristisch fixiert wurde. Mit der Ernennung des Landeskonservatoriums zur Staatlichen Hochschule für Musik im Jahre 1941 wurde das KI aufgelöst und durch die Abteilung „Chorleitung und Orgelspiel“ ersetzt. 1956, nach dem Tod Günther Ramins, verschwand der Begriff „Kirchenmusik“ als Unterbezeichnung der Abteilung. Es gab lediglich eine Fachrichtung „Orgel“ als Bestandteil der Abteilung „Tasteninstrumente“. 1992 wurde das KI unter der Leitung von Professor Christoph Kummacher neu geründet. Seit zwei Jahren ist Krummacher auch Rektor der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Barbara Lieberwirth sprach mit ihm.
nmz: Lassen Sie uns zuerst einen Rückblick in die immer noch nahe Vergangenheit unternehmen. Wie sah die Kirchenmusikausbildung in der DDR aus? Hinter dem Abschluß „Orgel“ oder „Organist und Chorleiter sowie Pädagoge für Orgel und Klavier“ verbarg sich doch eine vollständige Kirchenmusikerausbildung. Wie sah diese Ausbildung im stillen Kämmerlein der Leipziger Hochschule aus?
Krummacher: Hinter dem Orgelabschluß stand auch noch der Begriff Kantor. Das war schon merkwürdig, offiziell war die Orgelausbildung, als ich 1970 hier anfing zu studieren, ein Unterbestandteil der Abteilung Tasteninstrumente und hieß dann auch nicht mehr der Studiengang Kirchenmusik. Unter der Hand wurde natürlich in diese Richtung gearbeitet, es gab also auch Lehrveranstaltungen in Liturgik. Diese fanden zwar außerhalb statt und wurden offiziell nicht bekannt gegeben, aber immerhin tauchte es als Fach auf dem Zeugnis auf. Es wurde auch unter schwierigen Bedingungen etwas Chorleitung unterrichtet, ohne Lehrstuhl und ohne richtigen Chor. Es waren nur Rudimente, die weitergeführt wurden und dann hat dieser schleichende Prozeß dazu geführt, daß es in den späten siebziger und achtziger Jahren auch Studenten gab, die ohne Chorleitung ihr Studium absolvierten. Das war alles mehr und mehr in der Grauzone. Deswegen war es schon allein aus diesem Grunde notwendig, nach der deutschen Vereinigung, diesen Studiengang wieder so zu installieren, daß die Studenten in Leipzig einen voll anerkannten Abschluß hatten.
nmz: Neben den Ausbildungsstätten an den Musikhochschulen in Weimar und Leipzig gab es die Kirchenmusikschulen in Dresden und Halle, die sich in kirchlicher Trägerschaft befanden. Wurde die Ausbildung der Musikhochschulen von den Landeskirchen akzeptiert?
Krummacher: Ja, und das war das Glück. In Dresden führte die landeskirchliche Ausbildung nur bis zur B- Prüfung. Den höheren kirchenmusikalischen Abschluß konnte man kirchlicherseits in Halle abschließen oder in diesen nicht mehr offiziell mit Kirchenmusik benannten Studiengängen in Weimar und Leipzig. Die evangelischen und katholischen Landeskirchen haben diesen Abschluß anerkannt, allerdings gab es Regelungen, daß man nach dem Examen ein Anerkennungsjahr zu absolvieren hatte oder Kolloquien besuchen mußte, um seine kirchliche Bildung nachzuweisen. Wenn die Anerkennung kirchlicherseits nicht da gewesen wäre, hätte man mit den Studiengängen noch radikaler verfahren können.
nmz: Durch die weite Vernetzung der Theater auch in ländlichen Gegenden sollte ein Gegengewicht zu den musikalischen Aktivitäten der Kirche geschaffen werden. Glauben sie, daß die Kirche als Kulturträger in der DDR abgeschafft werden sollte?
Krummacher: Das war schon zum großen Teil so. Natürlich fand in der Kirche Kulturarbeit statt, diese wurde offiziell aber nicht zur Kenntnis genommen. Die Kirche bot auch solchen Leuten ein Dach, die keine anderen Auftrittsmöglichkeiten hatten. Diese Veranstaltungen waren quer durch die DDR gut besucht, auch von Leuten, die an Kirchenmusik interessiert waren, aber keinen weiteren Kontakt zur Kirche hatten. Aber eine Würdigung in Kritiken war nahezu null. Einmal abgesehen von Thomanern und Kruzianern, eine Kirchenmusik fand offiziell nicht statt.
nmz: Bis 1992 lehrten Sie an der theologischen Fakultät der Universität Rostock Liturgik und Hymnologie und waren Universitätsorganist. Sie folgten dem Ruf nach Leipzig, um dort im gleichen Jahr das Kirchenmusikalische Institut der Hochschule für Musik und Theater neu zu gründen. Eine schwere Aufgabe vor dem wechselvollen Hintergrund der Entwicklung der kirchenmusikalischen Ausbildung in Leipzig. In Ihrer Antrittsrede wünschten sie sich, daß das KI einmal zu den „innovativen Pluspunkten“ in der Geschichte der Musikhochschule zählen sollte. Kann man jetzt, nach den ersten sieben Jahren, schon eine Tendenz zu solchen Pluspunkten beobachten?
Krummacher: Wir haben ja nicht vom Nullpunkt angefangen. Gerade in der instrumentalen Ausbildung hatte Leipzig immer einen guten Ruf. Ich glaube schon, daß es Pluspunkte in diesen sieben Jahren gibt. Ein ganz entscheidender Punkt ist, daß wir seitdem wieder eine richtig funktionierende regelmäßige Chorarbeit haben. Das hat es vorher nicht gegeben. Ein zweiter wichtiger Punkt sind die Fäden, die zwischen der Kirchenmusik und der Alten Musik entstanden sind. Wir machen ziemlich viel gemeinsam, hatten beispielsweise beim letzten Bachfest gemeinsame Projekte. Das läßt sich nicht statistisch aufrechnen, aber die Tatsache, daß Kirchenmusik hier wieder stärker präsent ist mit dieser großen Vielfalt, die zu diesem Studiengang gehört, und daß Beziehungen in die unterschiedlichsten Fachrichtungen hinein existieren, wirkt sich im täglichen Leben der Hochschule aus. Selbst die Zahl der Studenten ist im Studiengang Kirchenmusik sechs mal so hoch wie vor acht Jahren.
nmz: Wieviel Studenten studieren am Kirchenmusikalischen Institut? Ich habe den Eindruck, daß mehr weibliche Studenten immatrikuliert werden. Wird es in Zukunft mehr Kantorinnen in Deutschland geben?
Krummacher: Ab dem kommenden Wintersemester werden ungefähr 35 Kirchenmusikstudenten hier sein. Der Anteil von Damen und Herren hält sich die Waage, vielleicht mit leichtem Übergewicht der Anzahl der Damen. Das ist eine ganz normale Sache und ich kann nicht sagen, daß Kirchenmusiker ein typisch männlicher Beruf ist.
nmz: Sind sie als Rektor der Hochschule auch weiter mit kirchenmusikalischer Ausbildung beschäftigt?
Krummacher: Wir haben, als ich das Rektorat wechselte, im Institut vereinbart, daß ich im wesentlichen die Außenkontakte des KI weiterhin wahrnehme. Das ist vor allem die Arbeit in den zuständigen deutschlandweiten Konferenzen für evangelische und katholische Kirchenmusikausbildung. Da sind ja nun Überlegungen hinsichtlich eines anderen Ausbildungskonzeptes im Gange, woran ich sehr intensiv beteiligt bin. Es wird ganz entscheidende Veränderungen geben. Sie wissen ja, daß es zwei verschieden abgestufte Diplome in der Kirchenmusik gibt und dementsprechend zwei unterschiedliche Stellendotierungen, die A- und B-Stellen. Die Praxis, und zwar die Praxis der Ausbildungsstätten als auch die konkrete Stellensituation in den Kirchen, hat uns gelehrt, daß diese Unterscheidung zwischen A- und B-Stellen zunehmend unsinnig wird. Deswegen ist es unsere Überlegung, auf ein einheitliches kirchenmusikalisches Diplom zuzugehen, das dann sicherlich nicht in acht Semestern zu erwerben wäre, sondern eine längere Studienzeit braucht. Danach gibt es sicherlich die Möglichkeiten zu Aufbaustudien, wenn man bestimmte Dinge vertiefen will, so wie es jetzt auch ist. Auch an Stellen werden wir dann nur noch hauptamtliche haben, die sicher unterschiedliche Profile haben. Ob jemand dafür geeignet ist, muß er durch seine konkreten Fähigkeiten nachweisen, aber nicht dadurch, daß er quasi eine juristische Zugangsberechtigung für bestimmte Stellen hat. Es ist heute so, daß man in der Stellenpraxis oft gar nicht mehr zwischen A- und B-Stellen unterscheiden kann. Oft haben die Stellendotierungen nur historische Gründe. Es führt oft dazu, daß sogenannte B-Kirchenmusiker eine hervorragende Arbeit leisten, sich aber für bestimme Stellen nicht bewerben dürfen, nur weil sie in ihrer Jugendzeit dieses A-Diplom nicht erworben haben. Auf der anderen Seite ist dieses achtsemestrige Studium bis zum B-Diplom eine völlige Überforderung. Das ist der vollste musikalische Studiengang und es ist die kürzeste Studiendauer. Die Studienzeit müßte verlängert werden und man könnte sich auf der Hälfte treffen, daß man dann vielleicht durchweg zehn Semester erreicht. Und das würde für diejenigen, die die Hochschulen zu finanzieren haben, auch nicht teurer werden, wenn man die derzeitigen acht plus vier Semester betrachtet. In einer neuen Rahmenordnung für die Ausbildung ist künftig den neuen Notwendigkeiten des Kirchenmusikerberufes dadurch Rechnung zu tragen, daß man sagt, zehn bis zwölf Prozent der gesamten Studiendauer sind wahlobligatorisch vom Studenten selbst zu gestalten. Der Student soll selbst entscheiden, in welchen Fächern er sein Wissen vertiefen will, sodaß bei
diesen breit gefächerten Anforderungen des Kirchenmusikstudiums doch stärker persönliche Neigungen berücksichtigt werden können. Bisher wird davon ausgegangen, daß jeder alles gleich gut beherrscht. Ich halte das für eine Überforderung angesichts der zunehmenden Spezialisierung und Professionalisierung der Einzelbe- u
u reiche. Ein bestimmtes Sockelniveau sollte man erreichen, aber wenn die Neigung des Studenten in die Richtung Kinderarbeit oder die Richtung des Komponierens geht, dann sollte man ihm die Freiheit lassen, dies stärker auszubauen. Das sind die Überlegungen, die derzeit im Gange sind und über die wir uns innerhalb der Ausbildungsstätten abstimmen. Im nächsten Schritt muß dann alles durch die Kultusministerkonferenz abgesegnet werden, damit die kirchlichen und staatlichen Ausbildungsstätten damit in gleicher Weise umgehen können.
nmz: Werden Kirchenmusiker in Zukunft ihre Tätigkeit auch noch mit anderen Tätigkeiten kombinieren?
Krummacher: Es gibt in einzelnen Gegenden Deutschlands deutliche Tendenzen zu einer stärkeren Kombination zwischen Kirchenmusik und Schulmusik, wie es im 19. Jahrhundert üblich war.
nmz: Sie meinen jetzt die C-Stellen?
Krummacher: Nein, es sind vielleicht auch B-Stellen, die zu fünfzig oder sechzig Prozent besetzt sind. In Baden-Würtemberg hat man zwischen der Kirche und dem Kultusministerium Vereinbarungen für solche Stellenteilungen gefunden. Es ist möglich, daß ein Musiklehrer nicht noch in einem Nebenfach beschäftigt wird, sondern wirklich nur eine Teilbeschäftigung für Musik hat. In den westlichen Hochschulen ist es sehr verbreitet, ein Schulmusik- und ein Kirchenmusikstudium zu kombinieren. Sie lassen sich auch gut kombinieren, weil sie viele Berührungspunkte haben.
Ich bin sehr gespannt, ob es bei uns auch so eine Tendenz geben wird. Die Ausgangslage ist auf Grund der Säkularisierung eine andere. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß es auch in Sachsen solche Entwicklungen in der Schul- und Kirchenmusikausbildung gibt. Oder eine andere Kombinationsmöglichkeit wäre Schulmusik und Religionslehre.
nmz: Gibt es in Leipzig diesbezügliche Pläne, nachdem die Schulmusikausbildung ab kommendem Semester von der Uni Leipzig an der Musikhochschule angesiedelt wird?
Krummacher: Wir werden sehen, ob auch solche Fächerkombinationen hier verbreitet werden. Ich weiß von den Schulmusikern, die ja jetzt noch an der Uni sind, daß es ganz vereinzelt solche Kombinationen gibt, zum Beispiel Schulmusik und Religionspädagogik. Bei den Aufnahmeprüfungsanmeldungen für die Schulmusik hatten wir jetzt drei Leute, die Orgel als Hauptfach angegeben haben. Ich bin sehr gespannt, wie es sich entwickelt.
nmz: In der evangelischen Kirche Deutschlands gibt es fast die doppelte Anzahl von musikalischen Ensembles, wie Chöre, Orchester oder Bläserchöre, gegenüber der katholischen Kirche. 226.000 stehen da 14.000 gegenüber. Trotzdem ist eine beängstigende Tendenz zu beobachten. Kantorenstellen werden gestrichen, A- und B-Stellen werden nach und nach in nebenberufliche C-Stellen umgewandelt.
Zirka 2.300 hauptberuflichen Kirchenmusikern stehen 28.000 neben-berufliche gegenüber. Wie stellt sich das Kirchenmusikalische Institut solchen Tendenzen? Müssen sich Absolventen mit A- und B-Ausbildung jetzt mehr und mehr mit C-Stellen begnügen? Oder werden zu viele Kirchenmusiker ausgebildet?
Krummacher: Daß wir diese augenblickliche Tendenz der Reduzierung der Stellen, die in den Landeskirchen unterschiedlich stark, aber insgesamt nicht zu übersehen ist, mit großer Sorge betrachten, ist klar.
Im Rückblick auf die letzten Jahre könnte man den Eindruck gewinnen, es gibt zu viele Ausbildungsstätten, allein in der evangelischen Kirche sind es 28. Trotzdem haben wir den Eindruck, daß die Absolventen, die in einen kirchenmusikalischen Beruf wollen, bisher Stellen bekommen haben. Das sind oft keine Traumstellen, aber man darf nicht übersehen, daß das Studium der Kirchenmusik ein so breites und vielfältiges ist, das dann anschließend auch unterschiedliche andere Wege öffnet.
Nicht jeder Kirchenmusiker will unbedingt in ein kirchenmusikalisches Amt und trotzdem ist es nicht sinnlos, daß er eine so gute Ausbildung gehabt hat. Ich bin dagegen, immer alles eins zu eins aufzurechnen. Wieviel bilden wir aus und wieviel kommen dann auch in einen Beruf. Bildung trägt auch zu einem erheblichen Selbstwert bei. Arbeitslose Kirchenmusiker sind nach dem Erkenntnisstand aller Ausbildungsstätten relativ selten. Natürlich liegt das auch daran, daß Frauen heiraten, Familie haben und deshalb nicht arbeiten können. Ich will nicht verschweigen, daß es Probleme gibt, was die augenblickliche Tendenz der Stellenzusammenlegungen anbelangt. Insgesamt haben die jungen Menschen schon darauf reagiert, indem die Zahl der Studienbewerber zurückgeht. Auf Leipzig trifft das allerdings nicht zu. Wir sind als einzige Ausbildungsstätte in den letzten Jahren gewachsen, während die anderen kleiner geworden sind.
nmz: Sie erwähnten oben die Zusammenarbeit zwischen der Kirchenmusik und der Alten Musik an der Hochschule. Wie sieht es aber mit der zeitgenössischen Kirchenmusik aus? Auch Spirituals, Gospels und populäre Musikinstrumente ziehen zumindest in der evangelischen Kirche mehr und mehr im Gottesdienst ein.
Krummacher: Im Bereich der musiktheoretischen Ausbildung, des Kompositionsunterrichtes und des Arrangementunterrichtes sind diese Dinge im Blick, vielleicht für manche noch nicht genügend. Und im Bereich der Improvisation ohnehin.
Zum Beispiel auch dadurch, daß das neue evangelische Gesangsbuch schon zahlreiche neue Gemeindelieder enthält, mit denen man sich auch im Improvisationsunterricht und im liturgischen Orgelspiel auseinandersetzen muß. Das Problem bei der Kirchenmusikausbildung ist allerdings, daß dies ein so umfassender Studiengang ist, daß man in ihn nicht ständig noch neue Inhalte hineinpumpen kann. Und deswegen sind wir, wie bereits erwähnt, mit dieser Umgestaltung der Studienstruktur beschäftigt.
Den Studenten wird dann die Möglichkeit gegeben, einen bestimmten Teil ihres Studiums wahlobligatorisch zu gestalten. Und dabei ist es der Vorteil einer großen Hochschule, daß die Spezialisten dafür auch im Hause sind. Außerdem gehen die Studenten heute mit den verschiedenen musikalischen Richtungen parallel sehr viel selbstverständlicher um, als wir das zu unserer Studienzeit gemacht haben. Sie sind eben viel weitgefächerter aufgewachsen.