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In der Tradition verwurzelt und offen für Reformen

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Die Grundzüge der Musikerziehung in der Tschechischen Republik
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Seit Jahrhunderten ist das tschechische Schulsystem eng mit der Musik verbunden. In jeder Volksschule wurde nicht nur die allgemeine Bildung, sondern auch Gesang und Instrumentalmusik gepflegt. Die Schule hatte primären Einfluß auf die Musikalität des Volkes, das Volkslied war einer der wichtigsten Faktoren für den Erhalt der tschechischen Sprache und der nationalen Identität. Jeder Dorflehrer mußte mehrere Instrumente beherrschen, besonders die Orgel, denn zu seinen Pflichten gehörte die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes. Etliche Lehrer waren talentierte Komponisten, und ihre Werke erklingen auch heute noch in Kirchen und Konzertsälen. Später, als die Bindung von Schule und Kirche schwächer wurde, blieb die Musikerziehung ein wichtiger Bestandteil der allgemeinen kulturellen Bildung der Gesellschaft. Im folgenden soll versucht werden, ein möglichst umfassendes Bild der tschechischen Musikerziehung, sowohl im Rahmen der allgemeinen Schulbildung als auch der darüber hinausgehenden, zu vermitteln.

Allgemeinbildende Schule: Die Schule soll jeden jungen Menschen auf das Leben und das Bestehen in der Gesellschaft vorbereiten, deshalb gehört auch die ästhetische Erziehung zu den wichtigsten Zielen. Von Beginn an wird das Kind systematisch an das Medium Musik mit all seinen Ausdrucksmöglichkeiten herangeführt. Das Verstehen der musikalischen Sprache bedeutet das Entwickeln spezifischer Fähigkeiten für das Wahrnehmen der musiksprachlichen Elemente und das Erleben des musikalischen Inhaltes. Der Weg zu diesem Verständnis führt über die aktive, sinnliche Erfahrung, sowohl in der vokalen und instrumentalen Erziehung als auch im Bereich Bewegungserziehung/Schauspiel; Anregungen aus anderen künstlerischen Bereichen (Bildende Kunst, Tanz, Literatur) werden dabei mit einbezogen. Musikalische Kenntnisse und manuelle Fertigkeiten werden aus eigenen schöpferischen Versuchen des Schülers heraus entwickelt. Der Kindergarten: In der vorschulischen Musikerziehung stehen neben dem Erlernen einfacher Lieder musikalische Bewegungsspiele im Mittelpunkt. In Verbindung mit Kinderversen und Erzählungen wird das Empfinden einfacher Stimmungsbilder und musikalischer Gegensätze (lustig – traurig, erregt – ruhig, Fest- und Trauermusik) entwickelt. Zu den Spielzeugen und Instrumenten gehören im Kindergarten Orff-Instrumentarium und auch Blockflöten. Die Grundschule: Die Schüler der ersten Stufe der Grundschule (erste bis vierte/fünfte Jahrgangsstufe) singen Volks- und Kinderlieder, spielen einfache Musikinstrumente, entdecken die Welt der Musik im Spiel und im aktiven Musizieren. Sie lernen, dem Zeitverlauf des Musikereignisses zu folgen und die elementaren Möglichkeiten seiner Ordnung zu begreifen. Mittels eigener schöpferischer Tätigkeiten „betasten" die Kinder das musikalische Grundmaterial (hoch – tief, schnell – langsam, laut – leise). Stimmerziehung, rhythmische Erziehung und Gehörbildung werden in Grundzügen vermittelt, systematisch gewonnene Erfahrungen ermöglichen die praktische Orientierung im Notentext. In der zweiten Stufe der Grundschule (fünfte bis achte Klasse) werden die sinnlich-emotionalen Erlebnisse zunehmend systematisch rationalisiert. In dieser „Krisenzeit" der physischen und psychischen Entwicklung des Jugendlichen liegt der Schwerpunkt der Musikerziehung vor allem im theoretischen Bereich. Die Interessen der Kinder werden vertieft und spezialisiert, in den Schulen gibt es Kinderchöre und in der letzten Zeit auch zunehmend Vokal- und Instrumentalensembles. Auch regionale und nationale Wettbewerbe und Kinderchor-Festivals bringen den Lehrern Inspiration für die Idee und Gestaltung des schulischen Musizierens. Im Lehrplan der allgemeinen Grundschule ist für die Musikerziehung eine Wochenstunde vorgesehen Es gibt aber in der Tschechischen Republik mehr als 30 Grundschulen mit erweiterter Musikerziehung. Erste Versuche begannen in den siebziger Jahren und führten zur Verbindung des Musizierens in den ehemaligen Volkskunstschulen (auf die im folgenden noch genauer eingegangen werden wird) mit der oben angedeuteten kreativen Konzeption der Musikerziehung in den allgemeinbildenden Schulen. Im Rahmen dieser Initiative wurden die üblichen Wochenstunden der allgemeinen Grundschule um drei bis vier Musikschul-Wochenstunden erweitert – so entstand genügend Spielraum für die Förderung und Betreuung begabter Kinder. Die Mittelschulen: In der Tschechischen Republik gibt es zwei Grundtypen von Mittelschulen: achtjährige, in welche die Schüler nach der fünften Klasse der Grundschule eintreten, und vierjährige für Schüler, die nach Beendigung der Pflichtschuljahre (achte oder neunte Klasse der Grundschule) eine Übertrittsprüfung bestehen. Die Schulpläne der ersten vier Klassen der achtjährigen Gymnasien sind dieselben wie in der zweiten Stufe der Grundschule. In den höheren Klassen der achtjährigen Gymnasien (Quarta bis Oktava) und an den vierjährigen Gymnasien wird die künstlerische Bildung im Rahmen einer „Ästhetischen Erziehung" abgedeckt: In den ersten beiden Jahren kann der Schüler zwischen Musik und Bildender Kunst wählen, danach werden Wahlkurse angeboten; am häufigsten sind Chorgesang, Tanz, Dramatische Erziehung, Popularmusik oder Musikgeschichte. Ausbildung der Musiklehrer: Die Kindergärtner/-innen erhalten ihre Ausbildung an den Pädagogischen Mittelschulen. Die Musik gehört hier zu den wichtigen Lerninhalten. Die Lehrerkandidaten der ersten Grundschulstufe absolvieren ein vierjähriges Studium mit selbstgewähltem Studienschwerpunkt (erweiterte Musikerziehung, Körpererziehung, Kunsterziehung). Das fünfjährige Studium qualifiziert den Lehrer für die zweite Stufe der Grundschule oder für die dritte Stufe in zwei Gegenständen. In der Zweifächerapprobation können zusammen mit Musikerziehung auch Chorleitung oder das erweiterte Studium eines Instrumentes gewählt werden. Einige Fakultäten ermöglichen auch das Studium der Musikerziehung mit professioneller Vorbereitung für Lehrer von Musikschulen („Grundkunstschulen") in einigen Fächern. Tschechische Musikgesellschaft: Als Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Musikerziehung (ISME) vereinigt diese breit ausgedehnte Organisation mehr als 3.500 Mitglieder – Profi-Musiker wie Amateure – aus allen Zweigen der Musikkultur. Im Rahmen dieser Organisation arbeiten Gesellschaften und Vereinigungen, die sich zum Beispiel dem Erbe berühmter tschechischer Künstler widmen oder sich mit bestimmten Themenkreisen beschäftigen (zum Beispiel die Gesellschaft für Alte Musik, die Tschechische Orff-Gesellschaft oder die Musikökologische Vereinigung). Den größten Teil der Tschechischen Musikgesellschaft bildet die „Gesellschaft für Musikerziehung". Die Hauptaufgabe dieser Organisation besteht in der Modernisierung der Musikerziehung, in der Propagierung neuer Methoden und Gedanken der modernen Pädagogik. Die Gesellschaft veranstaltet hauptsächlich Wochenendkurse und Sommerschulen, die teils zentral, teils auf regionaler Ebene organisiert werden. In diesen Kursen unterrichten erfahrene Lehrer aus der Schulpraxis sowie Hochschulpädagogen. Dieses System der Weiterbildung ersetzt oft die fehlende Initiative der Schulorgane, überprüft die aktuelle integrative Konzeption der Musikerziehung und ihrer Methoden, Lehrmittel und Lehrbücher. Im Bereich der Unterrichtsmaterialien wurde darüber hinaus das ehemalige Monopol des staatlichen Verlages nach 1989 durch die Initiative mehrerer Privatverleger ersetzt, die Lehrbücher und Lehrmittel, Kassetten und CDs anbieten. Außerschulische Musikerziehung – Grundkunstschulen: Im Jahre 1961 wurden die ehemaligen Musikschulen um weitere Kunstfächer (Bildende Kunst, Tanz, Literatur-Dramatik) erweitert, und so entstand ein im europäischen Vergleich einmaliges Schulmodell, die Volkskunstschule, seit 1991 Grundkunstschule, GKS. Die GKS kann entweder alle vier Fächer umfassen oder, je nach Situation, nur einige davon. Das Studium wird altersbezogen in zwei Stufen geteilt. Darüber hinaus bietet die Schule auch Erwachsenenunterricht. Im Musikfach wird der individuelle Instrumentalunterricht durch Zusatzfächer wie allgemeine Musiklehre, Gesang und Musikgeschichte ergänzt. Im Fach der Bildenden Kunst werden die Anfänge von Zeichnen, Malen, Graphik und Modellieren vermittelt, eventuell wird auch Photographie unterrichtet. Im Tanzfach lernen die Kinder die Grundzüge des klassischen und modernen Tanzes, des Volkstanzes, der Pantomime und historischer Tanzformen. Im Fach Literatur-Dramatik gewinnen die Schüler Einblick in Drama, Poetik, Literatur und Puppentheater. Die Einschreibung an der GKS erfolgt aufgrund einer Begabungsprüfung; für außerordentlich begabte Kinder kann die Schule ein erweitertes Unterrichtsprogramm organisieren. Das Studium wird mit einer Abschlußprüfung beendet, die die Form eines Abschlußkonzertes oder einer Ausstellung haben kann. In der Grundkunstschule werden Amateure erzogen, aber die Absolventen gewinnen auch Qualifikation für den Unterricht in den höheren Schulen. Zur Arbeit der Schule gehören untrennbar Schulkonzerte und Ausstellungen. In den Schulen existieren verschiedene Kammerensembles und Orchester (von Jazzbands und Blaskapellen bis zum symphonischen Orchester). Die Arbeit der GKS bedeutet – besonders in kleineren Städten – einen wichtigen Faktor für das Kulturleben der Stadt und des Kreises. Die Grundkunstschule wird vom Schulamt der Stadt oder des Bezirks und der Gemeinde oder auch der Kirche getragen. Im vorigen Schuljahr wirkten in der Tschechischen Republik 468 staatliche Grundkunstschulen (mit 342 Filialschulen in kleineren Gemeinden), 21 Privatschulen und zwei Kirchenschulen. In diesen Schulen studierten fast 3.000 Schüler, davon 62 Prozent in den Musikfächern. Das Schulgeld deckt ungefähr ein Viertel der Kosten. Lehrerbildung: Die Pädagogen der Grundkunstschulen erwerben ihre Qualifikation an den Konservatorien. Das Hochschulstudium für Künstler und Pädagogen bietet die Prager Akademie der Musischen Künste (mit den Fakultäten: Musik, Theater, Film und Fernsehen) sowie die Akademie in Brno. Wettbewerbe: Das Ministerium für Schulwesen, Jugend und Körpererziehung organisiert Wettbewerbe der Grundkunstschulen (in dreijährigen Zyklen wechseln sich verschiedene Instrumental- und Vokaldisziplinen ab). Darüber hinaus werden noch mehrere nationale und internationale Wettbewerbe junger Musiker und Sänger organisiert. Der bekannteste internationale Wettbewerb ist das Concertino Praga im Tschechischen Rundfunk für junge Solisten und Kammerensembles, ähnliche Bedingungen hat der nationale Rundfunkwettbewerb Concerto Bohemia für Schul- und Studentenorchester. Musikgymnasium: Vor einigen Jahren entstand in Prag das erste Musikgymnasium, das in Zusammenarbeit mit der Musikschule der Hauptstadt Prag außerordentlich begabte Schüler in allen Instrumentalfächern sowie in Musikgeschichte, Musiktheorie und elementarer Kompositionslehre unterrichtet und darüber hinaus eine umfassende humanistische Bildung vermittelt. An diesem Gymnasium unterrichten die besten Lehrer der Prager Musikschule, Mitglieder der Prager Orchester oder Professoren der Musikhochschule.

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