Noch vor ein paar Jahren musste der polnische Fan der Gegenwartsmusik nur ein Datum und einen Ort im Gedächtnis haben. Das Fest der Neuen Musik fand immer im September und immer in Warschau statt. Und obwohl der „Warschauer Herbst“ einen guten Ruf hat und zu den bedeutendsten Festivals in Osteuropa zählt, ist seine Vorrangstellung in Gefahr. Die Warschauer Veranstaltung hat jetzt nämlich einen Konkurrenten. Doch das Krakauer Festival „Sacrum Profanum“ hat andere Voraussetzungen und Ziele, es ist keine Veranstaltung, die suchen und provozieren will, die ästhetische Trends bestimmen möchte oder künstlerisches Risiko eingeht. Das geschickt erstellte Programm, aggressive Werbepolitik (Konzerte des Festivals fanden auch in Second Life statt!) und ein – für polnische Bedingungen – gewaltiges Budget, haben darauf Einfluss gehabt, dass das Festival von Jahr zu Jahr immer mehr Liebhaber der Gegenwartsmusik anzieht.
Die Idee der Organisatoren von „Sacrum Profanum“ ist einfach. Länderschwerpunkte sollen die Zuhörer neugierig machen. Zur Aufführung kommen dann Werke von Gegenwartskomponisten des gewählten Landes und als Attraktion werden Ensembles mit internationalem Renommee engagiert. Um junge, ästhetisch noch nicht festgefahrene Musikfans anzuziehen, verlassen die Organisatoren die pompösen Innenräume der Philharmonie und gehen in ein Straßenbahndepot oder in verlassene Fertigungshallen wie die Oskar-Schindler-Fabrik. Als Nachtisch empfiehlt es sich sehr, einen die Unterhaltungsmusik streifenden großen Namen anzubieten, der den Medien Stoff bietet und damit hohe Besucherströme garantiert. Es hat geklappt. Nach der letztes Jahr präsentierten amerikanischen Ausgabe mit gelungenen Porträts von Charles Ives, Elliott Carter, John Cage, Philip Glass und Steve Reich, war jetzt die Zeit reif für Musik aus Deutschland. Es erklangen Werke von Kurt Weill, Karlheinz Stockhausen, Helmut Lachenmann, Hans Werner Henze, Heiner Goebbels und Wolfgang Rihm. Den Abschluss bildete die Gruppe Kraftwerk.
Das Festival begann sehr sacht, mit Musik eines leichteren Kalibers: den selten in Polen aufgeführten Werken von Kurt Weill. Marc Minkowski, der immer öfter die Enklave der alten Musik verlässt und seine Kräfte in neuem Repertoire erprobt, führte mit der Sinfonietta Cracovia, heute eines der besten Orchester Polens, Weills zweite Sinfonie auf. Die im Klang recht klassische Komposition war eine hervorragende Hinführung zu den „Sieben Todsünden“. Die Hauptrolle in der Satire auf den „american dream“, mit einem brillanten „ballet chanté“ spielte Ute Lemper. Und obwohl die Künstlerin kürzlich eine Platte mit eigenen Songs herausgegeben hat, die gefährlich das Popcliché berührt, hat sie in Krakau bewiesen, dass ihr das Repertoire der 1920er- und 1930er-Jahre besser liegt. Lempers Interpretationen sind zwar etwas veraltet, aber sie haben an Authentizität gewonnen, sie sind voll von Sehnsucht und Glut – und sie haben hinterm Pult Enthusiasmus geweckt, der Minkowskis Ideen zupass kam.
Karlheinz Stockhausen hätte eigentlich nach Krakau kommen sollen, um auch in Polen seinen runden Geburtstag zu feiern. Die Verhandlungen waren fortgeschritten, eine erste Zustimmung war gegeben. Doch leider starb der Komponist im Dezember 2007. Die Präsentation seiner Musik war also eine Art Epitaph und gleichzeitig das wichtigste Ereignis auf dem Krakauer Festival. Die Aufführungen der frühen, mittleren und späten Werke für mittlere und kleine Ensembles dürften zu den schönsten polnischen Präsentationen des deutschen Genies gezählt haben. Besonders gut gelang die Wiedergabe von Stockhausens „Stimmung“ durch die Sänger vom „Theater of Voices“. Ähnlich herausragend die Interpretation von „Zeitmaße“ und „Adieu“ durch die Musiker der London Sinfonietta. Auch die jüngsten Werke Stockhausens, wie „Orchester-Finalisten“ und „Glanz“ – obwohl weniger präzise vom Asko & Schönberg Ensemble interpretiert –, weckten durch ihre vornehme kompositorische Disziplin Aufmerksamkeit.
In der öffentlichen Wahrnehmung durchs musikinteressierte polnische Publikum nimmt Helmut Lachenmann die Rolle einer Art bösen Hexenmeisters ein. Man erschreckt mit ihm junge Kompositionsschüler, indem man behauptet, dass seine Musik die Verkörperung enthumanisierter Avantgarde darstelle, eine Sammlung von unnötig überintellektualisierten Klängen, zusätzlich gesättigt mit ultralinker Ideologie. Nach dem Konzert des Klangforums Wien, bei dem die Musiker unter Johannes Kalitzke, zusammen mit dem Komponisten „Zwei Gefühle – Musik mit Leonardo“ und die „Concertini“ aufführten, wurde Lachenmann jedoch stark bejubelt. Recht so, denn seine Klangwelt ist attraktiv und interessant, logisch und gleichzeitig unvorhersehbar. Für viele eine Entdeckung war auch der Zyklus „Voices“ von Hans Werner Henze mit Musikern der London Sinfonietta. Propagandatexte, heute naiv klingend, in fantastischen, vielfarbigen, zeitweise amüsanten Klanggewändern konnten einfach nur entzücken.
Eine Schwachstelle des Krakauer Festivals waren Konzerte mit der Musik von Heiner Goebbels und Wolfgang Rihm. Goebbels’ Collagen und Patchworks konnten nicht überzeugen, woran auch die schwergängige Interpretation durch das Asko & Schönberg Ensemble unter Hans Leenders nicht ganz unschuldig war. Nicht besser war die Aufführung von Rihms „Chiffre IV“ durch das Ensemble musikFabrik gemeinsam mit Emilio Pomarico. Interessantester Teil dieses Konzert-abends war die Miniatur „Unguis incarnatus est“ von Mauricio Kagel, die von den Musikern als eine Huldigung für den einige Stunden zuvor verstorbenen Komponisten dargebracht wurde.
Ein spektakuläres Finale des Festivals mit drei Konzerten von Kraftwerk in einer monumentalen Verzinkungshalle sicherte der Veranstaltung, die sonst eher Nischencharakter besitzt, nochmals die Aufmerksamkeit des Krakauer Publikums. 10.000 verkaufte Tickets für die lebenden Legenden der Elektromusik überraschen, da die Ideen des Düsseldorfer Pop-Quartetts längst veraltet sind und scharfe Retroklänge neueren Tönen Platz machten, die mit Hilfe von komplizierten Computerprogrammen produziert wurden. Und doch scheint die Ästhetik der elektronischen Nostalgie, die Welt sensibler Roboter, die mehr zu den ersten Romanen von Stanis?aw Lem passt als zur effektvollen Matrix-Trilogie, auch den jüngeren Teil des Publikums zu faszinieren. Gut, dass der „Warschauer Herbst“ jetzt einen Konkurrenten hat. Gut, dass dieser aus Krakau kommt, mit seinem von konservativer Ästhetik geprägten bürgerlichen Publikum und seiner mutigen, Experimente nicht scheuenden Jugend. Was erwartet uns nächstes Jahr? Die Briten: In postindustriellen Räumen wird die Musik von Harrison Birtwistle, Peter Maxwell Davis, Brian Ferneyhough und Jonathan Harvey erklingen. Kurz vor der Fahrt zum „Warschauer Herbst“ sollte man also unbedingt in Krakau vorbeischauen.