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Die bessere Zukunft beginnt in der Gegenwart

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Das nationale System der Kinder- und Jugendorchester in Venezuela · Von Daniela Rüdiger
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Seit 25 Jahren existiert in Venezuela ein Netzwerk von Kinder- und Jugendorchestern, das mittlerweile über 110.000 Mitglieder zählt. Neben der musikalischen Arbeit, die tagtäglich in den 76 Musikzentren geleistet wird, erfüllt die „Fundación del Estado para el Sistema Nacional de Orquestas Juveniles e Infantiles (FESNOJIV)“ auch eine soziale Funktion, indem sie den Kindern und Jugendlichen, die zum Großteil aus sozial schwachen Familien stammen, eine sinnvolle Alternative der Freizeitgestaltung und eine mögliche Berufsaussicht bietet.

Die FESNOJIV ist damit zu einem Musterbeispiel sozialer Kulturarbeit geworden, das weltweit seines Gleichen sucht. Neue musikpädagogische Ansätze haben hier die traditionelle Art des Lernens und Erlebens von Musik revolutioniert und sind zum Modellbeispiel für viele andere Länder geworden. Als sich 1975 acht junge venezolanische Musiker in Caracas zusammenfanden um ein Jugendorchester zu gründen, geschah dies aus der Erkenntnis heraus, etwas müsse sich an der Situation junger Musiker im Land ändern. Damals exis-tierten in Venezuela genau zwei Sinfonieorchester, die jeweils zu 95 Prozent mit Instrumentalisten aus Europa und Nordamerika besetzt waren. Für venezolanische Musiker war es fast aussichtslos, in einem der beiden Orches-ter eine Anstellung zu finden.
Die Idee, ein Orchester für junge venezolanische Musiker ins Leben zu rufen, stieß daher auf soviel Interesse, dass binnen weniger Monate neben dem „Orquesta Nacional Juvenil de Venezuela“ mit Sitz in Caracas noch vier weitere Jugendorchester in Maracay, Barquisimeto, Valencia und Trujillo gegründet wurden.

Strukturen aufbrechen

Doch dies sollte nur der Anfang einer umfassenden Vision sein. José Antonio Abreu, Pianist, Dirigent und promovierter Wirtschaftswissenschaftler, hatte es sich zum Ziel gesetzt, die elitären Strukturen aufzubrechen, die seit Jahrzehnten im musikalischen Leben Venezuelas vorherrschten, sowie die Musikausbildung zu einem Grundrecht aller Kinder und Jugendlichen des Landes zu machen. Der Staat hatte die Notwendigkeit musikalischer Erziehung in Schulen noch nicht erkannt und der Unterricht in den privaten Musikschulen war für die Mehrheit der Bevölkerung nicht bezahlbar.

Abreu entwickelte mit der Gründung der FESNOJIV ein System von Musikzentren („Núcleos“), welches sich heute über ganz Venezuela erstreckt und mittlerweile in jedem der 22 Bundesstaaten Venezuelas zu finden ist. Unabhängig von sozialer Herkunft und Hautfarbe haben Kinder und Jugendliche hier die Chance ein Instrument zu erlernen und in einem Orchester mitzuspielen. Der Unterricht ist dabei kostenlos, und die Organisation stellt den Teilnehmern die benötigten Instrumente zur Verfügung.

Im idealen Fall sind in einem Núcleo ein Orchester für Kinder im Vorschulalter (4–7 Jahre), ein Kinderorchester (8–14 Jahre) und ein Jugendorchester (15–25 Jahre) zu finden. Neben dem individuellen Instrumentalunterricht erhalten die Teilnehmer außerdem Unterricht in Musiktheorie und Rhythmik, der Schwerpunkt liegt jedoch auf der Arbeit im Orchester.
Von Montag bis Freitag sind die Kinder und Jugendlichen jeden Nachmittag mehrere Stunden in die musikalische Arbeit der Núcleos involviert und erarbeiten im Individualunterricht sowie in Satz- und Orchesterproben ein sinfonisches Repertoire, welches regelmäßig in Konzerten dem lokalen Publikum vorgestellt wird.

Die musikpädagogischen Methoden, mit denen die FESNOJIV arbeitet, sind dabei ebenso revolutionär wie erfolgreich. Ein zentraler Punkt ist die unmittelbare Orchestereinbindung. Vom ersten Tag an spielen die Kinder in einem Orchester ihrer Altersklasse, um das gemeinsame Musizieren so schnell wie möglich zu erlernen. Die positiven Erfahrungen zeigen, dass der musikalische Lernprozess dadurch beschleunigt und die Motivation der Kinder durch das Zusammenspiel gesteigert wird.

Das Repertoire der Orchester umfasst das gesamte Spektrum europäischer und lateinamerikanischer Musik. Von Beethoven, Tschaikowsky und Mahler bis Ginastera, Villa-Lobos oder Estévez wird alles gespielt, was gefällt.

Frage nach dem Sinn

Der oft gestellten Frage, warum ein venezolanisches Kinderorchester die Ungarischen Tänze von Brahms spielt und warum in Venezuela überhaupt in einem traditionellen Sinfonieorchester nach europäischem Vorbild musiziert wird, können mehrere Antworten entgegengehalten werden:

Erstens hat die durch die ersten spanischen Siedler im 16. Jahrhundert importierte klassische Musik aus Europa den Grundstein für die eigenständige Entwicklung der klassischen Musik in Venezuela gelegt, die mit der „Schule von Chacao“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt erreichte. Nach einem hauptsächlich durch den Unabhängigkeitskrieg geprägten Jahrhundert erholte sich das venezolanische Musikleben gegen 1870 nur langsam und bekam erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder Aufschwung durch Vicente Emilio Sojo, der als Hauptfigur der modernen venezolanischen Schule bekannt ist und 1930 das erste Sinfonieorchester, das „Orquesta Sinfónica Venezuela“, gründete. Die Geschichte der klassischen Musik kann in Venezuela also rund 400 Jahre zurückverfolgt werden, so dass von der Übernahme einer rein europäischen Tradition nicht die Rede sein kann.

Zweitens macht es ganz einfach Spaß, weltbekannte Werke bedeutender Komponisten zu spielen, seien sie nun aus Europa oder aus Lateinamerika. Schließlich leben in Venezuela heute Bevölkerungsgruppen der verschiedensten Traditionen mit ihren kulturellen Besonderheiten zusammen, wobei karibische, spanische, indianische und kreolische Einflüsse die Bausteine eines vielschichtigen und abwechslungsreichen Musiklebens sind.

Drittens ist es inzwischen nahezu unumstritten, dass die Beschäftigung mit Musik die Ausbildung wichtiger sozialer Kompetenzen unterstützt und die Persönlichkeitsentwicklung fördert. Ein Sinfonieorchester, das in seiner Form mit dem Aufbau einer Gesellschaft vergleichbar ist, in der jeder Verantwortung übernehmen muss und eine Rolle beziehungsweise „Stimme“ zu spielen hat, ist dabei ein idealer Ort, um diese zu vermitteln. Solidarität, Teamfähigkeit, Kreativität, Geduld, Disziplin, Konzentrationsvermögen, Verantwortungsbewusstsein und Kontinuität können hier erlernt werden.

Doch die FESNOJIV versteht sich nicht in erster Linie als Kulturorganisation, sondern eher als ein soziales Musikprojekt, dessen Zielgruppe die Kinder und Jugendlichen Venezuelas sind. Oft stammen sie aus ärmeren Familien und werden durch die Musik davor bewahrt, ihre Kindheit in einem Umfeld bestehend aus einer ständigen Konfrontation mit Gewalt, Kriminalität, Drogen und Prostitution zu erleben. Es gibt Schätzungen, nach denen mehr als 30 Prozent der venezolanischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, die international bei fünf Mark pro Tag festgelegt wurde. Ihnen soll mit Hilfe der Musik eine neue Lebensperspektive eröffnet und eine Alternative zu ihrem bisherigen Leben angeboten werden.

Musik als Lebensmittelpunkt

Sehr deutlich wird der große Erfolg der FESNOJIV am Beispiel des Kinderorchesters im Heim „Gustavo H. Machado de los Chorros“ in Caracas. Hier leben Kinder, die von ihren Eltern verlassen oder misshandelt wurden, auf der Strasse gelebt haben und straffällig geworden sind. 70 von ihnen erhalten seit 1997 Musikunterricht, 35 spielen bereits im Orchester. Nach einer schwierigen Anfangsphase voller Skepsis und Zweifel seitens der Kinder ist die Musik für sie mittlerweile zu einem der zentralen Punkte ihres Lebens geworden. Besondere Aufmerksamkeit durch Individualunterricht, das Übernehmen von Verantwortung mit einer eigenen Stimme im Orches-ter, Anerkennung durch den Applaus des Publikums und eine Möglichkeit, Gefühle und Ängste auszudrücken, leisten hier einen wohl kaum zu bemessenen Beitrag zur Resozialisierung in die Gesellschaft und zur Verarbeitung der individuellen Schicksale, die die Kinder in ihrem bisherigen Leben erleiden mussten.

Der venezolanische Staat hat erkannt, dass die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen einer der Grundsteine für die erfolgreiche Zukunft des Landes ist, immerhin sind rund 50 Prozent der venezolanischen Bevölkerung jünger als 25 Jahre, 30 Prozent sogar jünger als 15 Jahre.
Bereits vier Jahre nach der Gründung der ersten Jugendorchester hat die Regierung das entstehende System der Kinder- und Jugendorchester 1979 zu einer staatlichen Stiftung, der „Fundación del Estado para el Sistema Nacional de Orquestas Juveniles e Infantiles de Venezuela“ (FESNOJIV) ernannt. Infolgedessen hat Venezuela als eines der wenigen Länder Lateinamerikas die Finanzierung einer auf dem kulturellen Sektor arbeitenden Organisation übernommen.

Ein Modell macht Schule

1995 beschloss die UNESCO, ein weltweites System von Kinder- und Jugendorchestern zu errichten, das auf den venezolanischen Erfahrungen basiert. José Abreu wurde 1998 zum Sonderbotschafter der UNESCO für diese Mission ernannt.

Wechselnden Regierungen und Präsidenten sowie kulturpolitischen Veränderungen zum Trotz hat die FESNOJIV all die Schwierigkeiten gemeistert, denen schon so viele andere Organisationen zum Opfer gefallen sind. Im Gegenteil, sie hat sich jedes Jahr vergrößert.

Bis heute haben sich in Venezuela 76 Núcleos mit 102 Jugendorchestern, 55 Kinderorchestern, 20 Orchestern für Kinder im Vorschulalter und 28 professionelle Orchester gebildet – und immer noch kommen mehr dazu. Zugleich ist das venezolanische Sys-tem zu einem Vorbild für andere Länder Lateinamerikas und der Karibik geworden, so haben sich etwa in Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Paraguay und der Dominikanischen Republik inzwischen Kinder- und Jugendorchester nach diesem Modell gebildet.

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