Mit diesen Sätzen leitet Hubert Stuppner sein neues Buch „Endzeit-Sonate“ ein, das die ConBrio Verlagsgesellschaft jetzt im modernen Publishing-on-demand-Verfahren anbietet. Der Text mit dem Untertitel „Frankenstein oder Die Minnesänger des Untergangs“ versteht sich als Parabel auf den Zustand der Neuen Musik Ende des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die neue musikzeitung, selbst nicht ganz unbeteiligt am Geschehen im zeitgenössischen Musikbetrieb, druckt vorab ein Kapitel über Minimal Music ab. Stuppners Sicht auf die Dinge ist extrem, exzentrisch und subjektiv und wird Widerstand hervorrufen. Ein Grund mehr, ihn kritisch – und sicher auch mit Vergnügen – zu lesen:
„Dieses Jahr einmal nicht nach Donaueschingen, sagte ich mir, als ich vergangenen Herbst, unmittelbar vor Antritt der Fahrt zu den berühmten Donaueschinger Musiktagen, deren Besuch für meine musikalische Kunst- und Geistesverfassung zu einem wahren, alljährlich wiederkehrenden ästhetischen Bedürfnis geworden war, zufällig und ganz nebenbei im Kulturteil einer mir bis dato unbekannten ‚Schwarzwälder Chronik‘ von der Eröffnung eines modernen ‚Kur- und Krankheitszentrums für leidende zeitgenössische Komponisten‘ las. Dieses Sanatorium sei, so der Chronist, am Ende eines unglücklichen musikalischen Jahrhunderts in bezeichnender Weise vis-à-vis zum exzessivsten musikalischen Dionysos-Fest der Neuzeit, eben jenen Donaueschinger Musiktagen, die alljährlich vom Südwestfunk Baden-Baden veranstaltet werden, für alle jene Komponisten eingerichtet worden, die aus der ‚musikalischen Krankheit dieses Jahrhunderts, der Neurose eines kontroversen und schockierenden Kunst-Verständnisses nicht mehr ein und aus wussten und physisch wie musikalisch dem Wahnsinn verfielen.‘“ Mit diesen Sätzen leitet Hubert Stuppner sein neues Buch „Endzeit-Sonate“ ein, das die ConBrio Verlagsgesellschaft jetzt im modernen Publishing-on-demand-Verfahren anbietet. Der Text mit dem Untertitel „Frankenstein oder Die Minnesänger des Untergangs“ versteht sich als Parabel auf den Zustand der Neuen Musik Ende des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die neue musikzeitung, selbst nicht ganz unbeteiligt am Geschehen im zeitgenössischen Musikbetrieb, druckt vorab ein Kapitel über Minimal Music ab. Stuppners Sicht auf die Dinge ist extrem, exzentrisch und subjektiv und wird Widerstand hervorrufen. Ein Grund mehr, ihn kritisch – und sicher auch mit Vergnügen – zu lesen: Musik ohne Vergangenheit„Minimal“, sagte Doktor Scardanelli nach einer Weile, „ist die amerikanische Ikonographie der Banalität. Diese Ästhetik ist frei von Kunstproblemen und Wertkonflikten. Die Kunst ist durch die Mechanisierung aller Bereiche an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden und Musik selbst durch Rotation unter die Räder geraten. Der hohe Standard des Fortschritts durch Mechanisierung und Wiederholung markiert das Ende des Fortschritts selbst. Wo es nichts mehr zu erfinden gibt, tritt die Zivilisation auf der Stelle, die Kunst gar kommt zum Stillstand. Die Funktionstüchtigkeit von Maschinen wird zur Funktionstüchtigkeit von Künstlern. Ein Minimal-Musikstück wird nicht mehr erfunden, sondern montiert: Komposition degeneriert zur Synthese von vorfabrizierten musikalischen Fertigteilen.“
Das Montieren von Tönen und Pausen wie Auto-Türen, dachte ich, das Einfügen von Metren wie Motorteile, das Installieren von Bässen wie Trittbretter und Stoßstangen, das Anschrauben von Akkorden wie Gummireifen, erweckt die Assoziation eines musikalischen Chassis aus vorgeformten Design-Elementen. Eine minimalistische Komposition gleicht der anderen, Musik von der Marke „All American Cars“, Minimal-Musik als Fragment der gesellschaftlichen Anpassung und Einsamkeit, der industriell geförderten Berührungsangst unter den Musikmenschen, die am Fließband ihrer ewig gleichen Stücke ein trauriges Single-Dasein führen. In der Ausdruckslosigkeit ihrer anonymen Stücke, dachte ich mir, verbirgt sich die Trauer und die Scham der Vereinzelung, so wie sich in der Mechanisierung des Metzger-Handwerks von Cincinnati und Chicago die Scham über die verbrecherische Einzel-Schlachtung der Schweine verbirgt.
Alle Nischen des Pavillons waren, wie die vorhergehenden, in kleinere akustische Unterbereiche eingeteilt, in denen über Lautsprecher verschiedene minimalistische Stilrichtungen dargestellt wurden. Hier war es javanisches Gamelan, dort eine tibetanische Gebets-Litanei, hier Musik von Perotin, dort ostinate Tanzrhythmen aus Afrika, vom Kronos-Quartett elektrisch interpretiert. Ohne sich von der surrenden Vielfalt der Stücke, die simultan abliefen, stören zu lassen, übte ein junger minimalistischer Compositeur am offenen Flügel „Lightning“ von Philip Glass, ein anderer versuchte sich auf einem Stehklavier an „Changing Opinion“, ebenso von Phil Glass, während ein dritter auf einer Pianola mit der linken Hand die Begleitung zum Glass-Song „Freezing“ spielte.
„Alle diese minimalistischen Tonkünstler“, fuhr nach einer Weile mein Begleiter fort, sind von den mumifizierten Kadenzresten aus einer funktionslosen Tonalität europäischer Prägung besetzt. Sie konsumieren grundsätzlich nur Musik von Phil Glass. Sie verzehren sie wie ,Fast food‘, sie essen und trinken sie täglich, ähnlich wie Andy Warhol, der, bevor er ans Malen ging, zwanzig Jahre lang nur ,Campbell‘-Suppen aus der Dose zu sich nahm. Wir haben es hier mit dem Problem eines gesteigerten ästhetischen Metabolismus zu tun. Da diese Komponisten mit dem Verzehr von alter, teilweise schlecht gewordener Tonalität übertrieben haben, sind ihr musikalischer Verdauungsapparat und die Geschmacks-Wahrnehmung aufs äußerste gestört. Sie wiederholen manchmal stundenlang eine tonikale oder dominante Kadenzformel und merken nicht, daß sie damit ihren konsonanten Kalorien-Haushalt überfordern. Es kommt im Tonalen zu Kongestionen und Verstopfungen, dem komponierenden Selbst gelingt es nicht mehr, die signifikanten tonalen Module zu verdauen: eine schwer zu kurierende Indisposition, eine musikalische Stoffwechsel-Krankheit ist die Folge.“
Mir fiel zu dieser eintönigen, ostinat minimalistischen Tonkost à la Phil Glass das patriotische Ernährungs-Credo von Andy Warhol ein. „Das Großartige an diesem Land“, dachte ich, hat Andy Warhol gesagt, „ist, dass in Amerika die reichsten Konsumenten im wesentlichen die gleichen Dinge kaufen wie die ärmsten. Du sitzst vor dem Fernseher und siehst Coca-Cola und du weißt, der Präsident trinkt Coke, Liz Taylor trinkt Coke und stell dir vor, auch du kannst Coke trinken.“
So, dachte ich, denken diese Minimal-Komponisten, wenn sie die einfachsten tonalen Kadenzen von Phil Glass hören. Warum noch kompositorische Ideen haben, denken sie, wenn man die wohlklingendsten Formeln in der Dose kaufen und ohne Schwierigkeiten auf jedes beliebige Notenpapier übertragen kann? „Diese Komponisten“, fuhr Scardanelli fort, „schütteln über jene, die geniale Einfälle haben, den Kopf und finden die Zeit, in der jemand über irgend etwas nachdenkt, verlorene Zeit. Die musikalische Menschheit, sagen sie, hat lange genug nachgedacht, es sei jetzt an der Zeit, das Denken zu beenden und die Ästhetik an den Nagel zu hängen.
Aus diesem Grunde halten sie sich von Akademien fern, sie schauen in die Zeitung und nicht in die Literatur, sie schauen fern und sehen dabei nah. Sie denken, daß die aufregendsten Musikstücke immer auch die aktuellsten und einfachsten sind. Sie komponieren deshalb am liebsten Eintags-Stücke und lassen die Meisterwerke Meisterwerke sein. Pop, sagen sie, kommt von außen und nicht aus einem inneren Bedürfnis. Also ist es ihnen nicht peinlich, andere Leute zu fragen, was sie denn komponieren sollen. In dieser Angelegenheit lassen sie sich am liebsten von kunstsinnigen Geldgebern beraten und empfangen regelmäßig gutbezahlte Kompositions-Aufträge. Damit, sagen sie, können sie sich in ihrer Karriere besser entwickeln. Auf diese Weise verwandeln sie ihre Komponier-Stube in ein Musik-Atelier.
Sie kennen, was die Auftrags-Agenturen betrifft, keine soziale Grenze: sie schreiben für die Gesellschaft ganz oben, ganz unten und in der Mitte. Auf Grund der eher günstigen Auftragslage haben diese Komponisten auch gar keine Zeit mehr, sich an die Musik der Vergangenheit zu erinnern oder sich die Musik der Zukunft vorzustellen. Es ist schon viel, sagen sie, wenn wir uns um das kompositorische Jetzt kümmern. Sie lieben die Medien und den Konsum, weil nur diese beiden Gebrauchsformen in der Gegenwart stehen.
Die Banalitäts-Ikonen der Aktualität, sagen sie, sind tausendmal mehr wert als die Requisiten aus dem Fundus der Vergangenheit. Weil ihre Stücke kein historisches Gedächtnis mehr haben, sind sie vorne so und hinten nicht anders. Ein Takt am Beginn und ein Takt am Ende ihrer eintönigen Werke zeigt die gleichen Merkmale, dieselben Unterschiede wie ein menschliches Gesicht vor der Nasenkorrektur und nachher.“
Die Minimalisten, dachte ich, geben ihrem Land genau das, was es verdient: eine bestimmte Menge an Ausdruckslosigkeit, eine gewisse Quantität Langeweile und eine nicht zu berechnende Anzahl an gleichförmigen klanglichen Fließbändern. Das ist die Ikonographie der amerikanischen Faktizität, dachte ich mir, die gleichmäßige Lieferbarkeit von Musik mit der Verläßlichkeit des Immergleichen.
Harmonische Siebdrucke
„Die Kompositions-Technik der Minimalisten“ sagte mein Begleiter, „gleicht einer ausgeleierten ,Rock and Roll‘-Nummer auf einer Fünfundvierziger-Scheibe, die tagein, tagaus die Hitparade der industriellen Gefühlsverarmung begleitet: kalte ,no comment‘-Musik mit einer gewissen Menge an Melodie und Rhythmus und für das rituelle ,Advertising‘ der täglichen Leerläufe der Seele zurechtgemacht. Auf den Schablonen dieser Komponisten, mit denen sie harmonische Siebdrucke, thematische Bildschnitte und rhythmische Linienschärfungen ausführen, sind die Werbespots des Simplen und Banalen eingraviert. Es ist so einfach, sagen sie, du nimmst wie beim Siebdruck die Photographie einer Hand voll bekannter Noten, vergrößerst sie, überträgst sie ein wenig poliert auf das Liniensieb des Notenpapiers, gibst ein wenig instrumentale Farbe dazu und wiederholst den Vorgang ein paar mal, bis sich einige Ungenauigkeiten, Vergrößerungen oder Verkleinerungen der Noten ergeben, und das Ganze ist gemacht.
So einfach ist das, sagen sie, und sind froh, ihre Stücke halb mechanisch gemacht zu haben, aber noch lieber möchten sie sie ganz mechanisch machen. Das Ziel der Minimalisten ist also, das Sonderbare zu eliminieren und das Einmalige zu verallgemeinern. Durch die ewige Wiederkehr des Banalen wollen sie jede Individualität von Musik rückgängig machen. So wie im minimalistischen Puppenspiel kein Tonkünstler mehr selbst die Fäden zieht, sondern die Figuren unabhängig voneinander gewähren läßt, so wird es nach der musikalischen Sintflut, deren Kommen angekündigt ist, keine Komponisten und keine komponierte Musik mehr geben. Dann werden die Musikstücke, wenn es sie überhaupt noch geben wird, wie die Katzen Andy Warhols alle ,Sam‘ heißen, dann wird man konservierte Musik in Dosen aus dem Kühlschrank nehmen und nach dem Konsum die leere Hülle wegwerfen, einfach, um nicht mehr an sie denken zu müssen.“