Ist Innovation eine Krankheit, womöglich eine ansteckende? Eine gefährliche? Das kommt auf die Perspektive an. Die Herausgeber der Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) haben ihr den Titel „Virus der Erneuerung“ gegeben und setzen sich damit den ambivalenten Bedeutungsgehalten aus, die den Begriff des „Virus“ im frühen 21. Jahrhundert prägen.
Zur Faktenlage: Das Ensemble Modern hat im Jahre 2003 die Internationale Ensemble Modern Akademie gegründet und bildet seither Jahr für Jahr besonders begabte Musiker – Instrumentalisten, Komponisten, Tontechniker, Dirigenten – in einjährigen Phasen aus, und zwar nicht zuletzt auf dem Wege einer intensiven Beteiligung an der konkreten Arbeit im Ensemble Modern und unter verantwortlicher Beteiligung der einzelnen Musiker. Das Projekt wurde bald erweitert um eine fruchtbare Kooperation mit der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Dort gibt es einen Masterstudiengang, den die IEMA-Stipendiaten durchlaufen. Bis heute sind 150 Musiker aus diesem Projekt hervorgegangen.
Das erstaunliche Niveau dieses Ausbildungsgangs wurde anlässlich des Jubiläums in drei Publikationen reflektiert und dokumentiert. Die eine ist die bereits erwähnte Festschrift „Virus der Erneuerung. 10 Jahre Internationale Ensemble Modern Akademie“ (80 Seiten, mit einer Audio-CD), die beiden anderen sind Tonträger, und zwar das Doppelalbum „they are. Das Internationale Kompositionsseminar“ und die CD „Euclidian Abyss“ der Internationale Ensemble Modern Akademie (alle drei erhältlich bei Ensemble Modern Medien).
Zurück zum Virus. Es erscheint uns heute fast als Metapher einer permanenten Bedrohung. Seit einem Menschenalter geistert es durch unsere Alltagsmythen als Gattungsgrenzen überschreitender Auslöser unheilbarer Erkrankungen, als heimtückisches Kleinstprogramm, das die Funktionsfähigkeit unserer Computer-Betriebssysteme stört, kurz: als nebelhafte, nicht zu ortende und daher nicht bekämpfbare Bedrohung des Homo Sapiens. Erneuerung, das sieht man unter dieser Viren-Perspektive, ist also durchaus eine bedrohliche Krankheit. Sie ist der Todfeind des Bestehenden, des Veraltenden.
Die Sachlage ist also diese: Das Ensemble Modern hat sich vor zehn Jahren, als es die IEMA gründete und damit begabten jungen Musikstudierenden die Chance einer bis heute einzigartigen Fortbildung im Spezialfach der zeitgenössischen Musik gewährte, seine schärfste und zudem permanente Konkurrenz selbst ins eigene Haus geholt. Denn der Markt, in dem es sich bewegt, ist klein. Qualitätvolle Konkurrenz könnte hier schnell das eigene Einkommen schmälern, die eigene Position unterhöhlen. So könnte man die Dinge sehen, wäre man nicht im oder vom Ensemble Modern sozialisiert.
Das Ensemble Modern hingegen hat gelernt, dass ein Markt, der nicht die Absicht hat, sich zu vergrößern und ständig neu zu beleben, mit seinem eigenen Untergang handelt. Es hat die konstitutive Idee in die Tat umgesetzt, dass ein demokratisches und daher zum lebendigen Pluralismus fähiges Bewusstsein nötig ist, um die Existenzbedingungen der zeitgenössischen Musik zu verbessern – und das ist das Virus, um das es hier geht. Es reicht nicht, sich um das eigene Ensemble, den eigenen Geschmack, um die Zugehörigkeit zu einer Schule, zu einem bestimmten Traditionsprozess zu kümmern. Zeitgenossenschaft ist ein umfassendes Projekt, dessen Aspektreichtum sein eigentlicher Reichtum ist.
Es geht also nicht darum, Konkurrenz zu kontrollieren, sondern um die Fähigkeit, sich selbst zu überraschen. Das Ensemble Modern hat sich nicht eine Bedrohung seiner selbst, sondern die Fähigkeit zur ständigen Selbst-überprüfung und Selbsterneuerung ins Haus geholt. Es profitiert von der Akademie, die es gegründet hat, genauso wie die Dozenten und die Stipendiaten, die als die eigentlichen Adressaten der Akademie-Arbeit gelten. Die IEMA ist die selbst zur Institution gewordene Selbstbehauptung und Zukunftshoffnung der zeitgenössischen Musik.