Hauptbild
Claude Debussy zirka 1908. Foto: Félix Nadar
Claude Debussy zirka 1908. Foto: Félix Nadar
Banner Full-Size

Die Glocken des Gamelan

Untertitel
Zum 100. Todestag von Claude Debussy
Publikationsdatum
Body

Debussys Begegnung mit der indonesischen Musik hatte weitreichende Folgen. Nicht nur Messiaen, Cage oder die Minimalisten ließen sich davon inspirieren. Auch Jazz-Arrangeure griffen auf Debussys Ganztonleitern und die davon abgeleiteten Akkorde zurück. Seine Emanzipation des Ostinatos hat sogar die Popularmusik revolutioniert.

Er hasste alles Doktrinäre und Dogmatische, vor allem in der Musik. Nach dem Studium am Konservatorium schämte er sich beinahe, ein Musiker zu sein, so unerträglich war ihm die schulmäßige Zurichtung von Musik durch „Gesetze“ und „Regeln“. Die klassische Form – Exposition, Durchführung, Reprise et cetera – langweilte ihn. Am schlimmsten fand Debussy die Harmonielehre, die konventionellen „Vorschriften“ der harmonischen Fortschreitung und Auflösung. „Was der französischen Musik am dringlichsten zu wünschen wäre“, schrieb er 1902 in der Zeitschrift „Musica“, „ist die Abschaffung des Studiums der Harmonielehre, wie man es an den Musikschulen betreibt. Eine pompösere und lächerlichere Art, Klänge zusammenzufügen, lässt sich nicht denken. [...] Glauben Sie mir, der alte Bach, der die gesamte Musik in sich fasst, scherte sich wenig um harmonische Formeln.“

Eine Loslösung der Musik von klassischen Dogmen und Konventionen – davon träumte Debussy. Seine Liebe zur Musik treibe ihn dazu, „sie von bestimmten sterilen Traditionen zu befreien, in denen sie bis zum Hals steckt“, sagte er 1911 in einem Interview. „Sie ist eine ungebunden hervorsprudelnde Kunst, die nur im Freien gedeiht, eine Kunst nach Art der Elemente, des Windes, des Himmels, des Meeres! Man darf aus ihr keine Schulstubenkunst machen.“ Immer wieder betonte er, dass er sich für die Musik „Freiheit“ wünsche: „Wagner verkündet das Gesetz der Harmonie, ich bin für die Freiheit. Die wahre Freiheit kommt von der Natur. Alle Geräusche, die Sie um sich herum hören, lassen sich in Töne fassen.“

Gamelan in Paris 1889

Debussy nahm sich diese „Freiheit“. In seiner Musik verlieren die Akkorde ihre harmonische Funktion, sie beginnen zu schweben, und die Tonleitern werfen ihren Anker ab. Seine Stücke streben nicht mehr nach Höhepunkt und Auflösung, sie scheinen auf der Stelle zu stehen und um ein Motiv zu kreisen. Die Musik tendiert zum Klangbild – kein Wunder, dass man sie mit dem Impressionismus in der Malerei verglich. Eine starke Bestätigung seiner musikalischen Ideen fand Claude Debussy 1889 beim Besuch der Weltausstellung in Paris. Zum 100-jährigen Jubiläum der Französischen Revolution wurde damals der Eiffelturm errichtet, Edison präsentierte seinen Phonographen, Daimler seinen Motor. Ein Schwerpunkt der Ausstellung galt dem Exotischen – oder besser gesagt: der kolonialen Eroberung. Es gab eine afrikanische Siedlung zu bestaunen und arabische Musik zu hören. Besonderen Eindruck hinterließ ein kleineres javanisches „Dorf“, das indonesische Tracht, Religion, Handwerk, Landwirtschaft und Musik präsentierte.

Die Auftritte des javanischen Gamelan-Orchesters auf der Messe zogen viele europäische Musiker an. Manche von ihnen sollen stundenlang zugehört, Motive transkribiert, Instrumente untersucht haben. Auch Debussy war fasziniert. Er schrieb sechs Jahre später an einen Freund: „Erinnerst du dich nicht an die javanische Musik, die jede Schattierung von Bedeutung auszudrücken vermochte, sogar unaussprechliche Schattierungen, und die unsere Tonika und Dominante wie Geister aussehen ließ?“ Das Gamelan-Orchester lieferte Debussy den Beweis: Es gibt überzeugende, ausdrucksstarke, kunstfertige Musik, die gegen alle europäischen Konservatoriums-Regeln verstößt! Dass die indonesischen Skalen die europäischen Tonleitern und Harmoniekonzepte durchkreuzten, brachte ihn zu diesem Bekenntnis: „Ich glaube nicht mehr an die Allmacht eures ewigen ‚do re mi fa sol la si do‘. Man braucht es nicht auszuschließen, aber man muss ihm Gesellschaft geben, von der sechsstufigen bis zur einundzwanzigstufigen Tonleiter. [...] Die Musik ist weder Dur noch Moll.“

Es war Debussys Eindruck, dass die Gamelanmusik den Klängen der Natur nahe sei und auch den uneingeweihten Hörer unmittelbar erreiche. Die geschichteten Stimmen und die perkussiven Timbres des Gamelan-Orchesters faszinierten ihn. Die javanische Musik, schrieb er 1913, gehorche „einem Kontrapunkt, gegen den derjenige Pales-trinas ein reines Kinderspiel ist. Und wenn man ohne europäischen Dünkel dem Reiz ihres Schlagwerks lauscht, kommt man nicht um die Feststellung herum, dass das unsrige nur ein barbarischer Jahrmarktslärm ist.“

Natürlich ließ sich Debussy von dieser faszinierenden Erfahrung inspirieren. In seinem Orchesterstück „Prélude à l’après-midi d’un faune“ (1893) suggerieren Fragmente einer Ganztonleiter und einer pentatonischen Skala eine archaisch-exotische Stimmung. Man kann diese Tonleitern als behelfsmäßige „Annäherungen“ an javanische Tonalität verstehen. Denn die (fast) äquidistante Pentatonik des javanischen „slendro“-Modus ist mit dem Tonvorrat temperierter Chromatik nicht wiederzugeben – und den Schritt in die Mikrotonalität scheute Debussy offenbar.

Pagoden und Glocken

Deutlicher wird der Gamelan-Einfluss in vielen von Debussys Klavierwerken zwischen 1902 und 1910. Aufgrund des zeitlichen Abstands zu 1889 muss man annehmen, dass eine erneute Gamelan-Erfahrung der Auslöser war. Vermutlich hörte Debussy auf der Pariser Weltausstellung 1900 eine balinesische Darbietung im Pavillon von Niederländisch-Ostindien. Dabei könnte ihm die Idee gekommen sein, einige typische Gamelan-Klänge (Glocken, Gongs, Metallophon, Xylophon) und Gamelan-Stilelemente (die Tonskalen, die Ostinati, die zyklische Form) auf dem Klavier nachzuahmen.

Beim Stück „Pagodes“ (aus: „Estampes“, 1903) verrät schon der Titel den asiatischen Bezug. Die Melodie ist pentatonisch, die Stimmung meditativ, die Dynamik reduziert, die Harmonik folgt keinen „Regeln“. Die perkussiven Ostinati schaffen den Eindruck einer vielschichtigen Motorik. Der Ablauf des Stücks wirkt kreisförmig und statisch, wie eine Improvisation über Kernmotive. Der weiche Anschlag mit Pedal und die Sekundakkorde imitieren Glockenklang. Die verschieden schnellen, übereinander geschichteten Abläufe suggerieren mehrere Instrumentengruppen. Selbst die Temposchwankungen erinnern an Gamelan-Praktiken. Das Stück scheint mit einem Gongschlag zu enden. Bei „Cloches à travers les feuilles“ (Glocken durch Blätter hindurch) aus dem Zyklus „Images II“ (1907) gibt der Titel auch gleich schon die klangliche Assoziation vor. Das Notenbild zeigt klar die kontrapunktische Schichtung von vier Stimmen, ganz ähnlich wie im Gamelan-Orchester. Eine Kernfigur in einer Ganztonskala schreitet in langsamen Achteln durch beinahe das ganze Stück.

Die Titel der beiden anderen Stücke im Zyklus legen ebenfalls einen asiatischen Bezug nahe. In „Et la lune descend sur le temple qui fut“ (Und der Mond senkt sich über dem einstigen Tempel) verbreitet die wiederkehrende pentatonische Melodie ein Gefühl von Weite und Zeitlosigkeit. Auch das Stück „Poissons d´or“ (Goldfische), inspiriert von einer kunstvollen japanischen Darstellung, spielt am Ende kurz auf Gamelanklänge an. In „Voiles“ (Schleier) (aus: Préludes I, 1910) treffen wieder eine pentatonische Skala und eine Ganztonleiter aufeinander – mit drei gemeinsamen Tönen. Die Ganztonleiter – ohne Quart und Quint – erlaubt nur übermäßige Dreiklänge und führt so ganz natürlich zu „schwebenden“ Harmonien ohne Grundton und Auflösung. Ein durchgängiger Orgelpunkt ist als regelmäßiger „Gong“ im Bass markiert. Die Wiederholungen schaffen eine Illusion von Statik.

Gamelan-Suggestionen finden sich auch im „Prélude“ aus „Pour le piano“ (1902) oder in „Des pas sur le neige“ (aus: Préludes I, 1910). Die disfunktionale Harmonik, die Ostinato-Schichtungen, die Pentatonik und Ganzton-Hexatonik, die statische oder zyklische Form – alle diese Elemente sind in Debussys gesamte Musik eingedrungen, rufen dabei aber nicht immer eine Assoziation zur Gamelanmusik wach. Ein tieferes Interesse an der Tradition und Bedeutung der indonesischen Musik hatte Debussy ohnehin nicht. Oberflächliche „Exotismen“ hat er abgelehnt. Ein östliches, meditatives Flair dagegen erschien ihm als Rahmen für seine Musik wohl durchaus passend. Aufs Titelbild der Erstausgabe von „La Mer“ ließ er Hokusais Bild der „großen Welle“ setzen. 

  • Ein Interview mit Debussy-Übersetzer Bernd Goetzke lesen Sie auf S. 48.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!