Ist die Rede von Wagner, Verdi, Bruckner, Brahms, Tschaikowsky, Debussy oder Richard Strauss, so haben wir eine ausgeprägte Vorstellung einer künstlerischen Persönlichkeit mit ihren Stärken und Schwächen vor uns, durchtränkt mit tief sitzenden Klischees. Auch das Bild des einsamen Organisten César Franck ist uns vertraut oder des in der Neuen Welt so erfolgreichen böhmischen Metzgersohns Antonín Dvorák. Doch wer war Gabriel Fauré? Was sind seine unverwechselbaren Kennzeichen als öffentliche Erscheinung? Oder war er vielleicht nicht bedeutend genug?
Gabriel Urbain Fauré ist das Paradebeispiel eines Komponisten, dessen Musik seit jeher äußerst beliebt ist und viel gespielt wird (wenngleich es sich eher um einen kleinen Ausschnitt seines Œuvres handelt, womit er allerdings keine Ausnahme darstellt), dessen Name jedoch kaum je genannt wird, wenn es darum geht, die „großen“, wirklich „einflussreichen“ Meister des Fachs zu nennen.
Dabei gibt es nur wenige, die bis heute einen so nachhaltigen Einfluss ausüben wie er. Es ist interessant, dass Fauré zwei Jahrzehnte nach Anton Bruckner und 20 Jahre vor Jean Sibelius geboren wurde, dass also hier so etwas wie eine durch die Generationen weitergereichte Kontinuität der Zurücksetzung, des kollektiven Unverständnisses von Seiten der musikalischen Meinungsbildner wirksam war, die bis heute fortwirkt. All diesen Meistern ist gemeinsam, dass sie gegenüber den „unbestritten Großen“ immer wieder infrage gestellt und verunglimpft wurden, dass sie sich als inkompatibel mit den Vorstellungen vom Fortschritt der Künste erwiesen, und dass der Siegeszug ihrer Musik zugleich unaufhaltsam war. Was Bruckner und Sibelius betrifft, ist dies heute offenkundig. Doch kann man das auch von Fauré sagen?
Man kann, unbedingt. Es braucht nur den entsprechenden Horizont der Wahrnehmung. Dass Claude Debussy die nachfolgenden Generationen beeinflusst hat wie kaum ein anderer, wird keiner ernsthaft bestreiten können. Sein freier Geist, seine unerschöpfliche Phantasie, das unerhört Neue in seiner Musik erschließen sich sofort und wirken in ihrer Faszinationskraft, hierin Wagner vergleichbar, unvermindert fort, und dabei wird keiner den Epigonen Debussys gleichen Rang konzedieren. Dass das mit Fauré im Grunde gar nicht so anders sei, erschließt sich erst auf den dritten Blick. Wer sind seine Nachfolger? Wo liegen die Inspirationsquellen heute so erfolgreicher Populärkomponisten wie Karl Jenkins oder Ludovico Einaudi? Jenkins’ Requiem beispielsweise, und damit der darin angesprochene Affekt, ist ohne das Vorbild Fauré unvorstellbar. Kann es sein, dass sich erst heute, in oftmals trivialer Form, der Einfluss Faurés ungehindert zu entfalten beginnt?
Flexible Tonverwandtschaften
Faurés Musik passt nicht in die Linearität einer auf dem Fortschrittsgedanken basierenden Musikgeschichtsschreibung. Man hat viel über die Dominanz des Männlichen geschrieben. Diese zielstrebige Linearität als männliches Attribut zu diagnostizieren, ist ein Gemeinplatz, der dadurch nicht an Gültigkeit einbüßt. Das Maskuline in der Harmonik spricht sich in der Zielgerichtetheit des Dominantischen, der Zuspitzung und Ausreizung der bezwingenden Grundspannung zwischen Oberquinte und Grundton aus, sei dies nun in einem so klaren diatonischen Bezug wie bei Händel, Beethoven oder später Carl Nielsen oder in der leidenschaftlich aufbegehrenden Chromatik eines Schumann, Wagner oder Richard Strauss. Die slawische Musik wich immer etwas ab von dieser geradlinigen, insbesondere für die deutsche Musik so typischen Ausrichtung. Aber auch Schubert und Brahms waren bereits fasziniert von anderen, flexibleren Formen der Tonverwandtschaft. In Brahms’ charakteristischer Introversion, der für ihn magischen Attraktion der Unterquintregion, kann man einen indirekten deutschen Vorläufer Faurés sehen, wenn auch rein auf der psychologischen Ebene. Fauré war viel mehr angezogen von der Musik Wagners, derentwegen er viele Reisen unternahm, und doch haben sich die Kenner gewundert, dass dies so geringen Niederschlag in seinem Schaffen fand.
Wie Bruckner war auch Fauré ein Kind der Kirchenmusikausbildung, doch hat ihn die Beschäftigung mit den alten Meistern, mit der Vokalpolyphonie zu einem ganz anderen Punkt geführt. Beide gelten als Spätzünder, die erst in reifem Alter ihre wahre stilistische Identität fanden (sein ers-tes wirklich herausragendes Werk, die erste Violinsonate, schrieb Fauré im Alter von dreißig Jahren). Bruckner war zutiefst Beethovenianer und Symphoniker, ein Pionier der mit extremer Innenspannung aufgeladenen Welt der aus maximalen Kontrasten sich aufbauenden großen Formen, dem das Erlebnis Wagner zur Entfaltung der orchestral-sinnlichen Komponente seiner Begabung verhalf. Fauré hätte zwar auch gerne in der gro-ßen Form reüssiert (was er lediglich in seinen beiden „Tragédies lyriques“ „Prométhée“ und „Pénélope“, wie ein geistiger Vorbote von Enescus „Œdipe“ fern der Popularität eines Wagner oder Debussy, verwirklichte), doch sein ganzes Naturell war nach innen gewandt. Seine Musik ist unmittelbarer Ausdruck von Anschmiegsamkeit, Fürsorglichkeit, Intimität, und von ungreifbarem Zauber. Sie erscheint in ihrer elastischen Anmut und absichtslosen Schönheit wie ein Symbol des Weiblichen in uns. Sie ist nicht in der Absicht geschrieben, sich zu behaupten innerhalb der Konkurrenz.
Als Fauré ein junger romantischer Komponist war, der Schumann über alles liebte, lag noch der Nachhall des selbstbesessenen Revolutionärs Berlioz über Frankreich. Als Fauré seinen sublimen Altersstil pflegte, legte sich der lange Schatten Debussys über alles, und die Rebellen der nächsten Generation wie Arthur Honegger lehnten den Impressionismus ab und pilgerten zu dem unprätentiösen Greis Fauré wie zu einem Heiligenschrein. Er blieb, wer er war. Ein bescheidener Mann mit großen Zweifeln über den Wert seines Schaffens, von unerschöpflichem Fleiß und durchaus resolut, und ein großzügiger, überaus toleranter, stets offener Förderer alles anderen, was mit Können und Inspiration aufwarten konnte.
Wer die magische Welt Gabriel Faurés mit ihren so eigentümlichen wie grazil fließenden modalen Wendungen exemplarisch kennenlernen möchte, sei auf Stücke wie die Elégie für Cello op. 24, die Pavane op. 50, die Sicilienne aus der Schauspielmusik zu Pelléas et Mélisande, den langsamen Satz der 2. Cellosonate oder natürlich das Requiem op. 48 verwiesen. All diese Musik ist äußerst bekannt, und es kann nur erstaunen, wie wenig Beachtung daneben ihr diskreter, innerlich aristokratischer und äußerlich bescheidener Schöpfer findet, der sich lediglich als durchlässigen Empfänger empfand und verstand und nicht als Macher und Führer, um den sich der Rest der Welt zu drehen hat.
Gabriel Fauré war ein vorzüglicher Pianist, nicht brillant-konzertant wie Saint-Saëns, sondern kammermusikalisch verspielt. Sein äußerst wertvolles Klavierschaffen ist von erlesener Eigenart, auch in technischer Hinsicht, und noch immer ein Fremdkörper in unseren Konzertsälen. Er war ein geborener Lyriker, für die Franzosen der Liedkomponist schlechthin, und sein gesamtes Werk ist Manifestation kantablen Ausdrucks, aber eben nicht opernhaft-theatralisch wie Massenet. Er beherrschte den Kontrapunkt, doch nicht in schulmeisterlicher und damit schulbildender Weise wie Franck oder d’Indy. Bei aller Lyrik spricht sich gerade in seiner Kammermusik auch glühende Leidenschaft aus, in seinen großartigen Klavierquartetten und -quintetten, Violin- und Cellosonaten (alle paarweise bedacht), doch ohne heroisch auftrumpfende Attitüde. In seinem Spätwerk, wie dem Klaviertrio oder dem Streichquartett, hat er zu letzter Verfeinerung gefunden, und doch spricht daraus auch noch derselbe unprätentiöse Musikant, der in Jugendjahren als „ganz normaler Romantiker“ galt. Alles Spektakuläre, Aufmerksamkeit Heischende lag ihm fern.
Zeichen später Anerkennung
Wir haben heute kein Fauré-Jubiläum. Sein 150. Geburtstag war 1995, sein hundertster Todestag ist 2024. Es ist wahrlich kein Zufall, dass die Zeit seiner umfassenden Anerkennung ohne Pauken und Trompeten kommt. 1990 erschien die erste wirklich grundlegende Biografie Gabriel Faurés, geschrieben von Jean-Michel Nectoux, der über Leben, Schaffen und Wirkung des Meisters mehr weiß und zusammengetragen hat als irgendein anderer. Nun ist sie bei Bärenreiter auch auf Deutsch erschienen, hervorragend übersetzt von Norbert Kautschitz. Dieses 644 Seiten umfassende Buch ist für jeden geeignet, der sich für Fauré interessiert. Es ist nicht von blindem Enthusiasmus gezeichnet, sondern von zutiefst verbundener Anteilnahme, klärt mit erzählerischer Begabung über alle Facetten der Persönlichkeit und des Künstlers auf, ohne sich ins Spekulative zu versteigen – eine ideale Monografie, wie wir sie eher aus dem Angelsächsischen erwarten würden.
Zugleich läuft bei Bärenreiter seit einigen Jahren die erste Gesamtausgabe der Werke Gabriel Faurés, die diese endlich in kritisch aufgearbeiteter Weise zugänglich macht. Bisher erschienen sind das Requiem (sein nach wie vor beliebtestes und bekanntestes Werk), die beiden Klavierquartette, das Klaviertrio und das Streichquartett, ein Band mit Klaviermusik, der sämtliche Barcarolles und Valses-Caprices sowie die Ballade op. 19 enthält, und ein erster Band mit symphonischer Musik, die Fauré so spärlich bedachte. Dieser enthält neben der Pavane op. 50 und der Konzertfassung der kaum bekannten Schauspielmusik zu Alexandre Dumas Pères „Caligula“ op. 52 das, was von den beiden Symphonien Faurés übrig geblieben ist. Die 1. Symphonie in F op. 20, auch als Suite d’orchestre bezeichnet, wurde 1874 uraufgeführt. Sie war viersätzig, doch hat Fauré das Finale später vernichtet. In der ursprünglichen Orchesterfassung sind nur das einleitende Allegro und die an dritter Stelle stehende Gavotte, die Transkription eines Klavierstücks von 1869, erhalten. Später fertigte Fauré eine Bearbeitung für Orgel und Streicher an, die auch den zweiten Satz, Andante, enthält, und sich im Konzert geradezu anbietet zur Kombination mit Werken wie dem Konzert für Orgel, Streicher und Pauken von Francis Poulenc. Faurés 2. Symphonie in d-Moll op. 40 kam 1885 unter der Leitung Vincent d’Indys zur Uraufführung und erklang danach nie wieder. Die Partitur ist verloren gegangen, es konnte lediglich die erhalten gebliebene Stimme der ersten Geigen publiziert werden. Den Andante-Mittelsatz daraus arbeitete Fauré für seine 2. Violinsonate um, und der Kopfsatz fand teilweise Eingang in seine 1. Cellosonate.
Bei Brilliant Classics ist unlängst eine Fauré-Box mit 19 CDs erschienen, die in teils sehr soliden Aufnahmen einen Überblick über sein Schaffen bietet, wobei Schlüsselwerke wie „Prométhée“, „Shylock“ oder „Caligula“ fehlen. Um die sanfte Macht dieser Musik in ihrer ganzen Pracht und Innigkeit zu erfahren, sei die berühmte Celibidache-Aufnahme des Requiems nachdrücklich empfohlen.
- Jean-Michel Nectoux: Fauré. Seine Musik, sein Leben (Bärenreiter)
- Fauré Gesamtausgabe (Bärenreiter)
- Fauré Edition (Brilliant Classics)
- Fauré: Requiem; Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache (EMI)