Für das Publikum bedeutete das diesjährige Jerusalem International Chamber Music Festival eine besondere und neue Herausforderung. Soviel Neue Musik war nie zuvor. Zwar hörte man in den zurückliegenden Jahren immer wieder Musik von Webern, Berg und vor allem von Schönberg, zuletzt auch von Elliott Carter, doch immer so dosiert, dass man damit keine Probleme bekam. In diesem Jahr freilich – Berio, Dusapin, aber vor allem Pierre Boulez, „c’est quelle chose autre...“, so hörte man es unter den Konzertbesuchern. Fühlte man sich da an einer unüberwindbaren Grenze? [aus nmz 11-2010]
Die Geschichte des Jerusalem International Chamber Music Festivals ließe sich erzählen als eine „Entdeckungsreise“, deren Erfolg einer Reiseleiterin zuzuschreiben ist, die auf Vertrauen setzte und dieses auch gewonnen hat. Elena Bashkirova hat ihr Publikum immer mit größter Sorgfalt an die Hand genommen und es in unbekannte und dünnluftige Musikbereiche geführt. Sie hat Zugänge zu den verschiedenen nationalen Schulen eröffnet, Programmkonstellationen im Spannungsbereich Alt/Neu gewagt, die diesem Publikum zunächst mehr Irritationen als Erkenntnisse vermittelten; und sie hat mit ihren stets sehr sorgfältig ausgesuchten und eingesetzten Musikern Jubilare der Vergangenheit und Gegenwart gefeiert, eben im vergangenen Jahr in einer beispielhaften Fülle Elliott Carter und in diesem Jahr Pierre Boulez, der 85 Jahre alt geworden ist.
Auf den Programmen standen „Le marteau sans maître“, „Dérive“ I und II sowie „Domaines“ für Klarinette solo, von Paul Meyer so vollendet und meisterlich gespielt, dass man im Publikum geradezu spürte, wie die Abwehrhaltung brach. Und doch: „sehr befremdlich“, – bemerkte ein Zuhörer, um sich dann bei nächster Gelegenheit von Daniel Barenboim in die Welt von „Dérive II“ einführen zu lassen. Wie dieser das machte, wie er seinen Freund Pierre Boulez und dessen Kompositionswelt darstellte, das war so anschaulich und fasslich, dass sich so mancher aus den Reihen des Publikums als Fachmann empfinden durfte und sich am Ende des als Matinee angesetzten Konzerts gewundert hat, dass nahezu vier Stunden vergangen waren. Die Aufführung selbst mit Musikern aus Israel und der Berliner Staatskapelle galt in ihrer poetisch eingefärbten Klarheit einem wahren Meisterwerk. Sie wurde durchaus dem Publikum zuliebe ergänzt durch das Klaviertrio Es-Dur op. 70 Nr. 1 von Beethoven und das Klavierquintett Es-Dur op. 44 von Robert Schumann.
Das Verblüffende bei solchen Konzerten ist, dass die Souveränität im interpretatorischen Zugriff und die Virtuosität des Musizierens die Zugänglichkeit zu fremder und ungewohnter Musik beachtlich erleichtern. Das entnahm man so manchem Nachgespräch wie beispielsweise mit einem älteren Besucher, vormals Arzt, der nahezu jedes Konzert der bislang dreizehn Festivals miterlebt hat. Und er ist da keine Ausnahme. Das Festival hat bei nahe zu 100 Prozent Auslastung sein Publikum, wobei die Besucher nicht nur aus Jerusalem, sondern auch aus Tel Aviv, aus Haifa und anderen Städten kommen. Beachtlich ist das Kontingent an Gästen aus dem Ausland, die eigens zu diesem Kammermusikfestival kommen. Alle Konzerte sind live im Radio zu hören und sorgen damit für Gesprächsstoff im ganzen Lande.
Der organisatorische Aufwand wird von dem Anwalt Yeheskell Beinisch ganz einfach gehalten, sogar ohne eigenes Büro. Man lebt von Sponsoren und vom Engagement der mitwirkenden Künstler. Da hat Elena Bashkirova von Anfang an eine überaus glückliche Hand gehabt, mit der Folge, dass das Publikum sich ausgesprochene Favoriten erkoren hat wie beispielsweise den Bass Robert Holl, den Geiger Nikolaj Znaider oder den Pianisten Kirill Gerstein. Neben Pierre Boulez waren es in diesem September die Jubilare Chopin und Schumann, aber auch Brahms als „Vater“ eines konstruktivistischen musikalischen Denkens von starker Einflusskraft auf die nachfolgenden Generationen, die programmatisch besonders herausgestellt wurden, so in bewegenden Liederabenden von Robert Holl und Dorothea Röschmann, die von erstaunlich guten jungen Pianisten begleitet wurden.
Als Tochter des weltberühmten, aktiv wirkenden Klavierpädagogen Dmitri Bashkirov, lädt die Leiterin des Festivals ständig die interessantesten Vertreter der jungen Klavierelite nach Jerusalem ein. Da konnte man den pianistischen Klangkünstler David Kadouch ebenso bewundern, wie den selbstbewusst gestaltenden und die sinnlich-emotionale Komponente betonenden Martin Helmchen oder den jüngsten Preisträger des Brüsseler Wettbewerbs, Denis Kozhukhin, der durch sein großdimensioniertes und farbenreiches Spiel faszinierte.
Auch die einheimischen, hier bei uns noch unbekannten Pianisten, wie Shai Wosner, Miri Yampolsky und Matan Porat haben größtes künstlerisches Format bewiesen, vor allem bei Liedbegleitungen und im kammermusikalischen Duospiel.
Matan Porat, der auch Komponist ist und zur Zeit in Berlin lebt, hat ein Auftragswerk für das diesjährige Festival geschrieben: „Shooting an Elephant“ für Ensemble. Es basiert auf einer Story von George Orwell und pointiert durch seine extreme Expressivität das Thema Individuum und Kollektiv überaus eindringlich. Dagegen wirkte „Zafuf Bazug“ von Tamar Muskal (geb. 1965) auf Texte von David Grossman, vom Autor selbst vorgelesen, recht blass und hilflos.
Jahr für Jahr findet man in den Programmen des Festivals Werke von Arnold Schönberg, der auch in diesem Jahr vor allem durch seine Streichquartette Nr. 2 und 3, die „Phantasy“ für Violine und Klavier sowie „Pierrot lunaire“ wiederum sehr stark vertreten war.
„Pierrot lunaire“, hochartistisch und zugleich glühend vor Sinnlichkeit dargeboten durch die israelische Sängerin Hila Baggio unter der Leitung von Daniel Cohen, war das Ausnahmeereignis. Beseelt und auf romantische Atmosphäre hin angelegt, erklang das 2. Streichquartett op. 10 fis-Moll durch Hila Baggio und das Berliner Erlenbusch-Quartett.
Höhepunkt freilich war im Finalkonzert die Aufführung von Schönbergs Fünf Orchesterstücken op. 16 in der bislang unbekannten Webernschen Version für 2 Klaviere, gespielt von Elena Bashkirova und Daniel Barenboim. Da war gelebte Musik zu hören und deren ganze Größe spürbar.