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„Es wäre ein Akt der Nächsten- und sogar Selbstliebe, sie zu zerschmeißen, wo immer sie zum Vorschein kommen.“  John Cage und Merce Cunningham schonen eine LP (1952). Foto: Western Regional Archives, State Archives of North Carolina
„Es wäre ein Akt der Nächsten- und sogar Selbstliebe, sie zu zerschmeißen, wo immer sie zum Vorschein kommen.“ John Cage und Merce Cunningham schonen eine LP (1952). Foto: Western Regional Archives, State Archives of North Carolina
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Die transatlantische Neuvermessung der klingenden Welt

Untertitel
John Cage und seine eklatanten Aufenthalte im Black Mountain College
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„Eine [...] Schule, bewegend und in sich bewegt, wird ungewollt zum Gradmesser der Erschütterungen [...] der Zeit [...]. Eine Umwertung der Werte, Wechsel von Standpunkt, Name und Begriff erlaubt das Gegenbild, den nächsten Glauben. Dada, Hofnarr in diesem Reiche, spielt Ball mit Paradoxen und macht die Atmosphäre frei und leicht. Amerikanismus auf Europa übertragen, die neue in die alte Welt gekeilt, [...] so schreitet mit Eroberergeste die Gegenwart einher.“

Was Oskar Schlemmer 1923 in seinem „Manifest zur ersten Bauhaus-Ausstellung“ proklamierte, gilt ebenso für das Black Mountain College. Zwischen 1933 und 1956 avancierte die weltabgeschiedene Kunstschule in Asheville (North Carolina) zu einem Magic Mountain, auf dem John Cage zur trans­atlantischen Neuvermessung der klingenden Welt ansetzte.

Als der europäische Faschismus seine innovativsten Kulturvertreter vom alten Kontinent schmiss, fanden viele am Black Mountain College eine neue Heim- und Werkstatt. In einer Umkehrung von Schlemmers Idee wurde unter der Leitung der Bauhaus-Meister Josef und Anni Albers zunächst ‚Eurozentrismus auf Amerika übertragen, die alte in die neue Welt gekeilt‘. Mit der Zeit aber bildeten europäische und amerikanische Kunst- und Lebensart eine neuartige Symbiose: „Wegen dem Bauhaus-Einfluss waren zu Beginn viele Deutsche am Black Mountain und beeinflussten das College. Mit dem Ende des Krieges kam dann ein Bruch. Viele deutsche Flüchtlinge kehrten zurück und hinterließen ein Vakuum – das dann von den aufstrebenden Kräften einer originären US-Kunst besetzt wurde.“

Infolge der deutschen Kapitulation und des Aufstiegs Amerikas zur Weltmacht schüttelte man die Ehrfurcht vor Europa ab und wurden die Triebe der amerikanischen Avantgarde gepflegt. Zu einem wurzelmächtigen Baum entwickelte sich John Cage, dessen eklatante Aufenthalte 1948 und 1952 den Anfang vom Ende der eurozentrischen Kulturhegemonie intonierten.

1948: „Beethoven war im Unrecht!“

Als Josef Albers 1948 den damals knapp 30-jährigen unbekannten Komponisten einlud, ein paar seiner Werke zu präsentieren, begann die kunstmusikalische Fassade der alten Welt zu bröckeln: „Drei Jahre nach dem Krieg war amerikanische Kunst noch immer nicht gleichwertig gegenüber der europäischen Kultur. Doch man war jetzt auf der Suche nach einem originär amerikanischen Ausdruck.“

Die Belegschaft des Colleges liest sich heute wie eine Hall of Fame amerikanischer Künstler der Moderne: Die Maler Robert Rauschenberg und Bill de Kooning waren Studenten; der Architekt Buckminster Fuller, die Dichter Charles Olson und MC Richards sowie der Komponist Lou Harrison gehörten dem Lehrkörper an. Merce Cunningham dozierte zu modernem Tanz, während David Tudor, Morton Feldman und John Cage der Neuen Musik ein amerikanisches Antlitz gaben. Diese jungen Männer machten Black Mountain zum Laboratorium einer originären US-Avantgarde, gerade weil am College die deutsche Lehre dominierte. Bei seinem ersten Besuch 1948 rebellierte John Cage, indem er Vatermord an seinem ehemaligen Lehrer Arnold Schönberg sowie dem wohl größten Vertreter der eurozentrischen Tradition übte: „Ich sage hier und heute deutlich und unmissverständlich: Beethoven war im Unrecht. Sein Einfluss ist ebenso immens wie bedauerlich und hat die Musik als Kunstform abgetötet. Beethoven brachte das Boot ins Schlingern wie niemand zuvor als er die Musik von ihren Strukturen und Prozessen trennte. Er übergab sie nicht nur der Gnade der Wellen, sondern ließ die Kunst an einer Insel der Dekadenz zerschellen.“Mit diesen Worten rebellierte John Cage gegen die deutsche Gedankenwelt der Romantik und zettelte einen wohl kalkulierten Skandal an: „Ich brachte die Anhänger der europäischen Kultur am Black Mountain zur Weißglut, die den Köder der europäischen Tradition samt Haken verschluckt hatten. Der Vortrag schlug ein wie eine Bombe!“1

Die Front der eurozentrischen und der amerikanischen Avantgarde ver­lief direkt durch das Gelände des Black Mountain College am Lake Eden und mündete im Sommer 1948 in einer dadaistischen Schlacht mit Wienerschnitzeln und Crèpes, die vier Jahre später mit theatralen Mitteln fortgesetzt wurde.

1952: „Unsere Ideale entsprechen nicht dem deutschen Modell“

Seit 1952 repräsentierte mit Stefan Wolpe wieder eine Deutscher die Musik am BMC – damit war der Konflikt bei John Cages zweitem Engagement vorprogrammiert, der einen kampflus­tigen Ton gegenüber der eurozentrischen Musik anschlug: „Die Frage nach Hierarchien und das Streben nach Kontrolle sind europäische Themen, keine amerikanischen […]. Es hat uns Jahrzehnte gekostet, uns von diesem Denken zu lösen [...]. Unsere Ideale entsprechen nicht dem deutschen Modell und seinen Regeln.“2

Cage hatte mittlerweile die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen: Anstelle von Hierarchie setzte er die Aufgabe des Subjekts; anstelle von Kontrolle die Hinwendung zum Zufall als kompositorischem Prinzip. 1952 entwickelte er am Black Mountain College mit David Tudor die Idee zu einem Theaterereignis, das die Ära der Aktionskunst mit einem Paukenschlag einleitete: Das Theatre Piece No. 1 ging als erstes Happening in die Musikgeschichte ein und wurde zum Gründungsfanal der Fluxus-Bewegung.

Die spontane Idee war ebenso einfach wie revolutionär: Cage fixierte lediglich time brackets, die mit frei wählbaren Aktionen durch Künstler verschiedener Sparten zu füllen waren: Die Dichter Charles Olson und MC Richards trugen Gedichte vor, Cage dozierte auf einer Leiter stehend zur Relation von Musik und Zen-Buddhismus und David Tudor spielte auf einem präparierten Klavier, während Merce Cunningham in Diagonalen durch das Publikum tanzte. An die Wände wurden Filme und Dias projiziert und Robert Rauschenberg, dessen All White Paintings aushingen, spielte auf einem alten Plattenspieler Edith-Piaf-Schallplatten in doppelter Geschwindigkeit ab. Rauschenbergs weiße Bilder hatten entscheidende Bedeutung für die Entstehung von Cages berühmtestem Werk – dem stillen Stück 4’33’’, das noch im Winter desselben Jahres uraufgeführt wurde; außerhalb des Colleges, aber nicht denkbar ohne John Cages Experimente und Begegnungen am Black Mountain. Dort allerdings provozierte das Theatre Piece No. 1 einmal mehr den transatlantischen Konflikt um die Zukunft der Musik: Stefan Wolpe lehnte in Verteidigung der europäischen Werte die Dekadenz der offenen Form vehement ab, woraufhin eine Studentin noch am Abend der Aufführung notierte: „Wolpe bitched! Er kommt von der radikalen deutschen Tradition und ist unfähig, den nächsten Sprung zu tun.“3

Nachspiel: Amerika in Europa

Während Europas Künstler schwer an der Last der Tradition trugen, sah John Cage den geschichtsfreien Raum der Neuen Welt als Vorteil für die Entwicklung einer neuen Neuen Musik:

„Bei einem Besuch in Amsterdam meinte ein holländischer Musiker zu mir: ‚Es muss schwer für Sie sein, in Amerika Musik zu schreiben, so weit weg von den Zentren der Musiktradition.‘ Ich antwortete ihm: ‚Im Gegenteil, es muss für Sie in Europa schwer sein Musik zu schreiben, so nah an den Zentren der musikalischen Tradition.‘“4

Die summer sessions 1952 waren sein letzter Besuch am Black Mountain. Er war auf dem Sprung in eine Welt, die nun auch außerhalb der College-Mauern bereit war für seine dort unter Laborbedingungen getesteten Experimente. 1956 schloss das BMC seine Tore und wirkte nun seinerseits zurück auf den europäischen Kulturraum – wiederum in Gestalt von John Cage, der an den Zentren der westlichen Avantgarde für Furore sorgte.

Donaueschingen 1954: „Wehrlose Klaviere“ in einer „akustischen Hölle“

Als David Tudor im Herbst des Jahres 1954 John Cages prepared piano bei den Donaueschinger Musiktagen präsentierte, „bestaunten uns die Menschen wie Idioten. Nein, eher wie Clowns.“5 In der Presse war von „wehrlosen Klavieren“ in einer „akustischen Hölle“ die Rede und das musikalische Establishment Europas fürchtete zunehmend um seine Deutungshoheiten. So attestierte Karlheinz Stockhausen: „Cages Distanz zum kompositorischen Stand der Epoche ist astronomisch“, verurteilte Pierre Boulez die Willkür von Zufallsmanipulationen in seinem Aufsatz Alea aufs schärfste und polemisierte Henry Pousseur gegen dieses „Dada-ähnliche Manifest gegen Stil und Wert der Musik“. Cage nahm die Herausforderung selbstbewusst an und brandmarkte die europäische Avantgarde als rückständig gegenüber den Techniken amerikanischer Komponisten wie Christian Wolff, Morten Feldman, Earle Brown und ihm selbst. Der Konflikt eskalierte im Schlüsseljahr 1958 bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik.

Darmstadt 1958: „succès de scandale“

Als Pierre Boulez seine Vortragstätigkeit absagte, übernahm ausgerechnet John Cage einen Teil der Seminare und bezog in seinem Vortrag Indeterminacy die Gegenposition zu Boulez’ Forderung nach einem geschlossenen Werk, die er im Concert for Piano and Orchestra kompositorisch fixierte: „Dem Pianisten steht es frei, Teile seiner Wahl ganz oder teilweise und in beliebiger Reihenfolge zu realisieren. Die Orchesterbegleitung kann jede beliebige Anzahl von Spielern einer beliebigen Zahl von Instrumenten umfassen, und eine Aufführung kann beliebig lange dauern […]. Ich betrachte es als niemals abgeschlossen, obgleich ich jede Realisation für endgültig halte.“

Das Klavierkonzert löste einen trans­atlantischen Skandal aus. Sowohl in der New Yorker Carnegie Hall als auch in Köln provozierte die Premiere ausufernde Reaktionen. Ein Zeuge der New Yorker Aufführung, der 1913 auch den legendären Premierenskandal von Igor Strawinskys ‚mas‘-sacre du printemps in Paris miterlebt hatte, verglich die beiden eklatanten Ereignisse – und in der Tat: Wie bei Strawinsky zementierte der Eklat den Aufstieg John Cages in den Olymp der Neuen Musik und war die transatlantische Neuvermessung der klingenden Welt nicht mehr aufzuhalten.

Anmerkungen

1    Alice Sebrell, Leiterin des Black Mountain College Museum and Art Center im Gespräch mit der Autorin.
2    Mary Emma Harris, Vorsitzende des Black Mountain College Research Project im Gespräch mit der Autorin.
3    John Cage: Defense of Satie, Vortrag gehalten 1948 am Black Mountain College.
4    Cage im Interview mit Martin Duberman (Martin Duberman-Research Papers).
5    Cage im Interview mit Richard Kostelanetz.

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