In der Oper „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal stimmt der junge Komponist am Ende eines schmerzlichen Gesprächs mit der Primadonna und dem Musiklehrer schließlich befreit „mit fast trunkener Feierlichkeit“, wie es im Libretto heißt, einen Hymnus auf die Musik an: „Musik ist eine heilige Kunst, zu versammeln alle Arten von Mut wie Cherubin um einen strahlenden Thron, und darum ist sie die heilige unter den Künsten! Die heilige Musik!“
Es ist kein Zufall, dass einem diese Sätze in den Sinn kamen, als die Nachricht eintraf, dass Gerard Mortier gestorben sei. Mortier war eine Art alter ego des Komponisten, wie ihn Hofmannsthal und Strauss vor einem Jahrhundert erfanden. Mortier hat zwar nie komponiert, nie inszeniert. Aber auf schon raffinierte Manier erschien er in der Musikwelt als eine Art „Retter der Musik und der Oper“. Retter wovor und vor wem? Das lässt sich leicht sagen, auch ohne Heiligkeitsbeschwörungen.
Dazu braucht man nur den Beginn zu betrachten. Gerard Mortier, 1943 in Gent geboren, hat zunächst einmal Jurisprudenz studiert. Das taten einst der Regisseur und Hamburg/Münchener Intendant Günther Rennert auch, ebenfalls der Dirigent Karl Böhm. Anscheinend ist die Rechtswissenschaft kein schlechter Einstieg für spätere künstlerische Engagements – ein bisschen trockene intellektuelle Schulung kann niemandem schaden. Entscheidend wurde die Begegnung mit dem Dirigenten Christoph von Dohnányi, der ihn 1973 an die Frankfurter Oper holte. Dohnányi, Chefdirigent und Operndirektor in Personalunion, erhob sein Haus bald zu einer ersten Adresse im internationalen Opernhaus-Wettbewerb. Spektakuläre Inszenierungen von Opern-Quereinsteigern wie Volker Schlöndorff, Klaus Michael Grüber oder Achim Freyer läuteten eine neue Ära dramaturgisch durchdachter Opern-Darstellungen ein.
Der Grund hierfür lag nicht allein an Dohnányi, sondern an seinen beiden engsten Mitarbeitern: Gerard Mortier und Peter Mario Katona, dessen umfassende Kenntnisse des internationalen Sängermarktes später so berühmte Künstler wie Eva Marton, Julia Várady oder Agnes Sgourda an die Frankfurter Oper brachte. Als Mortier dann 1981 die Direktion der Belgischen Nationaloper, des Théâtre de la Monnaie in Brüssel übernahm, konnte er mit seinen Vorstellungen von einer „Oper heute“ auf festem Grund bauen.
Mortiers Frankfurter Erfahrungen bewirkten in Brüssel einen wahren Opernfrühling. Mortier erfand dafür auch eine eigene Klassifikation: nicht „Oper“ sollte es fürderhin heißen, sondern „Opern-Theater“. Oper und Theater als gleichberechtigte und gleichgewichtige Elemente eines modernen Musiktheaters. Dazu bedurfte es Dirigenten und Regisseure, die verstanden, was gemeint war. Gerard Mortier fand sie, nicht zuletzt durch seine Frankfurter Erfahrungen. Manche Kritiker schrieben in ihren Nachrufen, Mortier habe die Oper wieder gesellschaftlich relevant machen wollen. Das hört sich so nach 1968 an. Da erlebte man oft haarsträubende, dramaturgisch wirre Relativierungen alter Opernstoffe. Mortier aber wollte immer etwas anderes: Die Oper ist eine hochartifizielle „Erfindung“ des späten sechszehnten, frühen siebzehnten Jahrhunderts, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer hochkomplizierten, verkomplizierten Kunstform entwickelt hat. Routineaufführungen lassen davon meist nichts ahnen. Da wird gesungen und chargiert, dass es keine Freude ist. Dagegen aber sind die Gerard Mortiers – es gab immer einmal welche – aufgestanden. Sie gaben der Kunstform Oper die Würde zurück. Und die Intelligenz ihrer Erfinder, die eigentlich nichts anderes im Sinn hatten, als über die Oper die antike Tragödie für das damals aktuelle Theater zurückzugewinnen.
Gerard Mortier hat in Brüssel vor allem damit begonnen, das tradierte und verschlossene Mozart-Bild à la Salzburg und Wien zu korrigieren. Was waren das für wunderbare Begegnungen mit Mozart: Der Regisseur Luc Bondy näherte sich Mozarts „Cosi fan tutte“ von Marivaux her und zauberte ein subtiles Seelenspiel in das nur scheinbar lustige Liebesspiel: Wie kann es kommen, dass wir unsere Gefühle von gestern heute nicht mehr wahrnehmen? Eine Tragödie – nichts zum Lachen. Patrice Chéreau offenbarte in „Lucio Silla“die Brutalität der Machtmechanismen. Und Karl-Ernst und Ursel Herrmann öffneten in der „Clemenza di Tito“ die Gebrochenheit der Milde eines Mächtigen: Es war eine Aufführung, die Mortiers Vorstellungen einer gesellschaftlich relevanten Opernaufführung perfekt erfüllte, nicht durch plumpe Aktualisierung, sondern durch eine genaue Durchdringung und Erforschung der menschlichen Psyche, die sich immer gleich bleibt, nur in verschiedenen Kostümierungen erscheint. Dass der Brüsseler Mozart-Zyklus bis heute in lebendigster Erinnerung geblieben ist, ist auch ein Verdienst der von Mortier ausgesuchten Sänger und Sängerinnen, die, gleichsam über Nacht, zu kompetenten Mozart-Sängern wurden, weil sie begriffen hatten, dass sich hinter dem Gesang stets psychologische Räume öffnen, die ausgefüllt werden müssen. In Sylvain Cambreling hatte Brüssel damals auch einen Dirigenten, der das musikdramaturgische Konzept des Hauses glänzend mitrealisierte.
Über Mortiers Brüsseler Zeit könnte man seitenlang schwärmen. Nicht nur Mozart stand im Zentrum, von der konzentrierten Arbeit im Théâtre de la Monnaie profitierten auch viele andere Komponisten. Und zum Schluss sogar der von Mozart nicht so enthusiastisch empfundene Richard Wagner: der Regisseur Herbert Wernicke schaffte den „Ring“ à la Bayreuth in einer Woche zyklisch auf die eher kleine Bühne – eine geniale Konzeption, die bis heute intelligenteste „Ring“-Interpretation überhaupt, trotz Bayreuth und Chéreau oder Ruth Berghaus in Frankfurt.
Der Mozart-Ruhm von Brüssel strahlte bis Salzburg aus. Es war wohl der ebenfalls unvergessene Hans Landesmann, der sich im Kuratorium der Festspiele für den „Belgier“ einsetzte, der sich damit bedankte, dass er Landesmann nicht nur als Geschäftsführer des Festivals akzeptierte, sondern ihn zugleich als Chef des Konzertreferats einsetzte. Es waren, nach Karajans gloriosen, gleichwohl in Marmor erstarrten Festspielzeiten die vielleicht lebendigsten Jahre, die den Salzburger Festspielen zu einer kaum noch zu erwartenden Revitalisierung verhalfen.
Darüber ist damals auch in der neuen musikzeitung immer wieder ausführlich berichtet worden. Olivier Messiaens komplex-komplizierte Oper „St. François d‘Assise“ geriet schon im ersten Mortier-Jahr in der Inszenierung von Peter Sellars und mit dem Los Angeles Philharmonic unter Esa-Pekka Salonen zu einem einmaligen Triumph, den Mortier dann später noch in seinen Amtszeiten bei der Ruhrtriennale und an der Pariser Bastille-Oper sowie in Madrid geradezu genüsslich auskostete. Auch das gehörte zum Charakter Gerard Mortiers: die Treue zu den Künstlern, die für ihn Großes geschaffen hatten. Davon sollten immer auch andere etwas lebendig erfahren, wenn sie maßstabsetzende Auführungen aus großen Brüsseler oder Salzburger Zeiten noch einmal „live“ in Paris, bei der Ruhrtriennale oder zuletzt in Madrid erleben konnten.
Man könnte Gerard Mortiers Intendantenleben nach den Jahreszeiten gliedern. Brüssel, das war der wundersame, hell leuchtende Frühling, Salzburg der strahlende, sonnenüberglänzte Sommer, in dem es allerdings auch manches Sommergewitter gab, wenn der stets streitlustige Mortier mit dem Kuratorium aneinander geriet und sogar einmal die zu teuren Wiener Philharmoniker durch ein eigenes Festspielorchester ersetzen wollte. Da pflanzten sich die Erdbebenwellen bis in Hohe Haus der Staatsregierung in Wien fort und die Philharmoniker, tief beleidigt, wollten ihr eigenes Festspiel in Wien aufziehen. Na ja, Hans Landesmann und andere besänftigten die hochgehenden Wogen. Mortier leitete die Festspiele mit künstlerischem und ökonomischem Erfolg zehn Sommer lang, was man von seinen Nachfolgern nicht unbedingt sagen kann, die es nur fünf (Peter Ruzicka) und vier Jahre (Jürgen Flimm) aushielten, und Alexander Pereira schafft derzeit nur noch drei Jahre. Irgendetwas ist faul im Staate Salzburg, der Festspielstadt. Vielleicht sind alle ein wenig zu sehr Mortier-verwöhnt.
Zum Schluss darf es einem Kritiker vielleicht einmal ausnahmsweise gestattet sein, auch ein persönliches Wort zu sagen. Gerard Mortier habe ich, zunächst eher flüchtig, in Frankfurt kennen gelernt. Was dort damals auf der Bühne geschah, beeindruckte in ungewöhnlichem Maße. Erst nach und nach wurde deutlich, welche Kräfte zusätzlich zu den Dirigenten und Regisseuren und Sängern wirkten. Da war ein doppelter spiritus rector hinter der Bühnenerscheinungen Flucht am Werke – Peter Mario Katano und eben: Gerard Mortier. In Brüssel war ich dann wohl einer der ersten kritischen Beobachter des „Neuen“. Aus einem bis dahin eher schläfrigen, gleichwohl mit großer Tradition behangenen Opernhaus war über Nacht ein springlebendiges modernes „Opern-Theater“ geworden, dessen wachsender Ruf immer mehr Opernfreunde aus aller Welt anlockte. Schon damals führte man immer wieder Gespräche über die Oper, die Musik, die Zukunft, die manchmal gar nicht so rosig aussah. In Salzburg schwärmte mir persönlich Mortier manchmal zu sehr über die große europäische Ausstrahlung der Festspiele – die, und das darf man ruhig feststellen, unter Gerard Mortier wenigstens halbwegs ihren immer wieder angemeldeten Anspruch erfüllten. Bei manchen der Salzburger Intendanten hatte und hat man immer den Eindruck, sie benötigten den Titel „Salzburger Festspielintendant“ nur für ihre persönliche Biografie. Bei Gerad Mortier war es umgekehrt: die Festspiele brauchten jemand, der ihnen die künstlerische und geistige Ausformung und Würde zurückgab, die sie (vielleicht!) einmal zu den Zeiten Max Reinhardts und Hugo von Hofmannsthals besaßen. Dass Gerard Mortiers „Guter Geist“ danach auch noch die Opernhäuser in Paris und Madrid befeuerte, mag man als ein hoffnungsvolles Zeichen dafür nehmen, dass es gelingen könnte, die Musik, die Oper in ihre Wichtigkeit für die Menschen einzusetzen. Wenn es weiterhin Künstler gibt, die ihre Arbeit so auffassen, wie Mortier sie begriff, dann ist die Hoffnung nicht verloren.