Stefan Weinzierl: Beethovens Konzerträume – Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen. Frankfurt am Main, Verlag Erwin Bochinsky, 2002 (Fachbuchreihe Das Musikinstrument, Bd. 77), ISBN 3-9236 39-42-2.
Stefan Weinzierl: Beethovens Konzerträume – Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen. Frankfurt am Main, Verlag Erwin Bochinsky, 2002 (Fachbuchreihe Das Musikinstrument, Bd. 77), ISBN 3-9236 39-42-2.Um die Beschaffenheit und Spielpraxis historischer Musikinstrumente oder um die Wiederherstellung ursprünglicher Orchesterbesetzungen hat man sich im 20. Jahrhundert reichlich Gedanken gemacht. Eine minder bedeutsame Rolle spielte dagegen die Frage, in welchen Räumlichkeiten einzelne Werke denn überhaupt uraufgeführt worden sind, ob und inwieweit die akustischen Gegebenheiten den Urheber bei der Komposition beeinflusst haben oder nicht. Ansätze zur Klärung unternahm man – wenn überhaupt – am Beispiel der Kirchen, weil erstens diese Aufführungsräume zu großen Teilen noch erhalten sind und zweitens vornehmlich die Bach-Forschung daran interessiert war, die geistlichen Werke des Thomaskantors vor diesem Hintergrund zu beleuchten.Der Verlag Erwin Bochinsky kündigte zum Sommer diesen Jahres eine Neuerscheinung („Kirchen-Akustik“) an, die auch die Erkenntnisse rund um die von Bach genutzten Kirchenräume einmal mit allen physikalisch-akustischen Details und einem reichen Dokumentationsapparat zusammenfasst. Beim gleichen Verlag ist Stefan Weinzierls exzellente Arbeit über „Beethovens Konzerträume“ erschienen, die gewissermaßen exemplarisch die akustischen und technischen Fragen mit einer daran orientierten kulturgeschichtlichen Darstellung verbindet. Der Autor vermeidet es, seine Leser mit abstrakten Diagrammen, Tafeln und Chronologien zu überhäufen, und erschließt sein Thema zunächst aus einem musikhistorischen Blickwinkel heraus. In flüssig formulierten und gut geordneten Abschnitten führt er Räumlichkeiten vor – an Quellenmaterial orientiert eben auch solche, die mittlerweile nicht mehr existieren – und beschreibt die Besonderheiten dieser Säle sowie ihre Entwicklung im Zuge von Renovierungen und Neuerrichtungen. Das Palais des Fürsten von Lobkowitz, der Beethoven einst eine Pension zugestanden hatte, die sogar noch über den wirtschaftlichen Ruin des Gönners hinaus Fortbestand haben sollte, ist bis auf eine bemalte Putzverzierung an der Decke nahezu unverändert erhalten geblieben. Anders verhält es sich bei den Theatersälen, allen voran des Burgtheaters oder des Kärntnertortheaters, oder bei den zahlreichen privaten Veranstaltungsräumen wie dem Lokal Augarten oder dem Haus zur Mehlgrube am Neuen Markt in Wien. Wenn möglich liefert Weinzierl bildliche Darstellungen dieser Lokalitäten in historischen Zeichnungen, Graphiken oder Gemäldereproduktionen. Rückschlüsse über die Akustik dieser (verlorenen) Räume sind natürlich spekulativ, wohl aber gewissenhaft an den noch greifbaren Details nachempfunden und – wie man am Ende des Buches noch sehen wird – mit Hilfe des Computers simuliert. Weinzierls Thesen ergeben sich teilweise aus der vergleichenden Betrachtung. Im Rahmen seiner umfangreichen Materialsammlung sind Berichte über Bestuhlung, Beschaffenheit der Tapeten und Vorhänge oder die Anzahl der Sitzreihen ebenso wichtig wie die eigentlichen, zum Teil auch nur vermuteten Ausmaße dieser Räume.
Um seine Einzelbetrachtung des Wiener Kulturraums zu Beethovens Zeit auszuweiten, betrachtet Weinzierl eingangs internationale Konzertsäle und gelangt zu einer Analyse von Aufführungsräumen symphonischer Musik um 1800 im Allgemeinen. Aufschlussreiche Daten liefert er zum Raumvolumen und zur Nachhallzeit beispielsweise im Haydn’schen Musiksaal Esterháza, den Hanover Square Rooms, dem King’s Theatre, dem Gewandhaus Leipzig, dem Konzertsaal im Schauspielhaus Berlin und der Berliner Singakademie. Den Zirkel immer enger ziehend wendet sich Weinzierl dann Wien zu und speziell solchen Aufführungsorten, in denen Beethovens Musik – nicht nur die symphonische – erklungen war. Zeitgenössische Dokumente wie Berichte und Zeitungsrezensionen (vor allem der Allgemeinen Musikalischen Zeitung), die teilweise auch über die akustischen Verhältnisse Hinweise enthalten, ergänzen das Bild. Aber auch Briefe Beethovens, in denen der Komponist gewünschte Orchesterbesetzungen angibt und bei seinen Auftraggebern unmissverständlich fordert, werden herangezogen.
Die Systematik seiner Darstellung niemals aus den Augen verlierend, schlägt der Autor dennoch weite Kreise. Eine verlässliche und vollständige Dokumentation von Aufführungen Beethoven’scher Werke ist nicht zu leisten, wohl aber hat sich die Quellenlage im Vergleich zu Mozarts Zeit verbessert. Neben bedeutenden Periodika wie der Allgemeinen Musikalischen Zeitung forscht Weinzierl in literarisch-intellektuellen Zeitschriften wie dem kurzlebigen Wiener Journal für Theater, Musik und Mode und darüber hinaus in Verwaltungsakten, Tagebüchern oder Reiseberichten. Auch subjektive Äußerungen von Zeitgenossen, die ihre Konzerteindrücke und ihre Kritik an einzelnen Räumlichkeiten äußern, werden in die Argumentation mit einbezogen. Auf diese Weise entsteht eine unterhaltsam zu lesende und höchst informative Dokumentation mit soziologischen und kulturhistorischen Aspekten, die in der Beethoven-Literatur eine Sonderstellung einnimmt. Beiläufig gelingt es Weinzierl, Konstanten und Veränderungen herauszuarbeiten, die Architekten beim Bau neuer Konzertsäle beeinflusst haben mögen und die bis weit ins 20. Jahrhundert wirkten.
Physikalischer geht es dann zu im zweiten Abschnitt dieser Arbeit, wo raumakustische Kriterien wie Nachhallzeit, Bassverhältnis, Stärke- beziehungsweise Klarheitsmaß und Seitenschallgrad einzelner Räume die Diskussionsgrundlage bilden. Erhaltene Räume hat Weinzierl akustisch vermessen und die nicht mehr erhaltenen anhand historischer Architekturpläne mit Hilfe von Computermodellen rekonstruiert. Die Ergebnisse seiner Untersuchung passen das subjektive Empfinden des Hörers wie Räumlichkeit, Intimität, Nähe und Dynamik in ein Daten-Korsett ein, ohne dass sich der Autor dabei verzettelt. Mit Blick auf die Gegebenheiten in Beethovens Konzerträumen waren die originalen Besetzungsstärken wie vermutet angemessen, man sollte aber nicht den Versuch unternehmen, sie in einen modernen Konzertsaal transferieren zu wollen. Bestechend ist Weinzierls zusammenfassende These am Ende seines Buches, wo er sagt, ein Orchester müsste in der Größenordnung von 1.000 Musikern besetzt sein, um in der Berliner Philharmonie ein vergleichbares Klangvolumen hervorzubringen wie die Lobkowitzsche Kapelle bei den Aufführungen der 3. Symphonie im fürstlichen Palais. So gesehen laufen Karajans viel kritisierte Besetzungsverstärkungen bei Aufführungen Beethoven’scher Symphonien den Intentionen des Komponisten nicht entgegen, sondern erscheinen fast noch bescheiden. Die Entwicklung von Konzertsälen läuft, wie Weinzierl eindrucksvoll beweist, parallel zu gesellschaftlichen Veränderungen. Zu Beethovens Zeit spiegelten die Nutzung alter und die Errichtung neuer Räume den Rückzug der Aristokratie aus dem Musikleben wider, die Grenzen zwischen den Ständen lösten sich auf. Wohl aber bewegen sich Beethovens Konzerträume an der Schwelle zum modernen Konzertwesen und zeichnen eine Entwicklung vor, die die Errichtung großer Konzertsäle des 19. und 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusste.