„Eines der großartigsten Merkmale Gretes ist, dass sie nicht auf das Klavier einhämmert. Ihr Kennzeichen ist ihr Pianissimo.“ (John Cage)
Geschichte, das ist, im Idealfall, die Geschichte selbst und die Erinnerung daran. In der Realität hinkt letztere hoffnungslos hinterher. Da mag diese oder jene Geschichte noch so bewunderswert, berührend, bestürzend sein – es nutzt ihr nichts. Irgendetwas hakt. Es dauert und dauert. Und wenn dann doch noch etwas passiert, wenn das Nach- und Anfragen, das Recherchieren und Spurensichern, so zögerlich auch immer, endlich einsetzt – kommt es nicht selten aus Ecken, die man nicht vermutet hätte.
Wie im Fall der bei Schott erschienenen Biographie der 1906 in eine Berliner Musikfamilie hineingeborenen Pianistin Grete Sultan, verfasst von Moritz von Bredow, von Berufs wegen Kinderarzt. Von Bredow zitiert im Titel das Wort Adornos von der „rebellischen“ Pianistin, lässt allerdings offen, was damit genau gemeint sein könnte. Worauf es ihm ankommt, sind sechs dicht erzählte Kapitel, in denen er den Lebensweg der Künstlerin nachzeichnet. Die weitverzweigte Familie, die frühe gründliche Ausbildung, die große Karriere, die ihr Ende der 20er-Jahre offensteht, die Entrechtung, das Berufsverbot, das Exil und der Neubeginn. Eine ungemein fesselnde Lektüre, genau recherchiert, mit Empathie geschrieben.
Liebhaber-Lektüre – Liebhaber-Biographie
Im Nachwort erzählt der Autor, wie alles angefangen hat. Ein einfacher Plattenkauf ist der Auslöser. Irgendwann im Sommer 2000 hält von Bredow eine Einspielung Grete Sultans in den Händen: Goldberg-Variationen zusammen mit Schönberg, Cage, Debussy. Eigentlich schon das ganze Programm – jetzt, nach dem Tod der Künstlerin 2005, muss man von ihrem Vermächtnis sprechen: Die Musik ist eins. Es gibt keine Schubladen, soll es nicht geben, keine Revierzuweisungen, schon gar nicht das Entweder-Oder von „neu“ und „alt“.
Ähnlich ergeht es auch Plattenkäufer von Bredow. Dieser legt auf und hört das Spiel einer „vollendet musikalischen Pianistin“, vertieft sich in das mitabgedruckte Porträtfoto und in die Geschichte der Pianistin, der buchstäblich in letzter Minute, 1941, die Flucht aus Nazideutschland gelingt. Völlig mittellos kommt sie in New York an. Niemand erwartet sie. Und dann beginnt sie doch – die zweite Karriere der Grete Sultan. Wieder beginnt sie zu konzertieren, und dann steht auch bald schon dieser junge Mann in der Haustür, hat Geschenke in der Hand und einen Brief von Richard Buhlig, ihrem hochverehrten Berliner Klavierlehrer, einem gebürtigen Amerikaner. Das ist er dann, der Moment, in dem diese Jahrzehnte währende Künstlerfreundschaft beginnt: Grete Sultan – John Cage.
Recherche-Fleiß
Zurück zu von Bredow und seinem zunächst sehr privaten Faszinationserlebnis: dieses Spiel, dieses Gesicht, diese Geschichte. Es bleibt nicht dabei. Das ist das Bemerkenswerte. Jenseits der kontemplativen Faszination stellen sich ihm Fragen, die ihn zum Telefon greifen lassen. Ein fernmündlicher Kontakt entsteht. Dann ein Plan. Schon ein dreiviertel Jahr später reist von Bredow mit einem Spiegel-Journalisten nach New York. Der daraufhin entstehende Magazinbeitrag „Flucht und Fuge“ sorgt für ein breites Medienecho. Für von Bredow ist es erst der Anfang. „Schon nach der ersten Begegnung mit Grete Sultan war mir klar, dass es sich bei ihr um eine bedeutende Künstlerin handelte. Mir wurde es ein großes Anliegen, diese aufzuschreiben und die in Deutschland vergessene Pianistin sowie die Kunst ihres Klavierspiels wieder in Erinnerung zu rufen.“ Der Rest funktioniert erwartungsgemäß, so wie von Karl Valentin griffig auf den Punkt gebracht: Kunst, nachgerade die schöne, macht Arbeit.
In den Folgejahren ist der Autor beschäftigt mit „intensiven Recherchen in Archiven und Bibliotheken, in Datenbanken und bei Ämtern“. Von Bredow verbeißt sich in sein Thema. Schlussendlich umfasst die Namensliste seiner Danksagungen annähernd zwei Druckseiten. Und dazu schreibt Alfred Brendel ein animiertes Vorwort. Das Ergebnis ist aller Mühe wert: Eine vergessene Künstlerin, die unserem Gedächtnis zurückgegeben ist. Dank der Initiative, dies vor allem bleibt festzuhalten, eines interessierten Laien.
Musikalisches Opfer
Wobei von Bredow für den Grad dieses Vergessenseins ein überzeugendes Indiz an der Hand hat. Kurz nach seiner allerersten CD-vermittelten Hörbekanntschaft studiert der Autor den Auktionskatalog eines Berliner Antiquariats. Angeboten wird eine Porträtfototografie Grete Sultans. Niemand will sie haben. Ein Ladenhüter. Wobei man wissen muss, dass Grete Sultan zu diesem Zeitpunkt in ihrem 94. Lebensjahr steht, ein Jahr bevor die Künstlerin hierzulande „entdeckt“ wird. Übersehen hat man da sogar jenes denkwürdige Ereignis vom 25. Juni 1996 als Grete Sultan mit 90 Jahren in der bis auf den letzten Platz gefüllten New Yorker Merkin Hall ihr allerletztes Konzert gibt. Noch einmal die Goldberg-Variationen. Auswendig. Was zu diesem Zeitpunkt niemand weiß: Nur unter größten Schmerzen kann sie diesen Abend durchstehen, muss sich schon am nächsten Tag einer Operation unterziehen. „Der Abschied von der Konzertbühne ist ein endgültiger.“ Auf jeden weiteren Kommentar verzichtet der Autor, überlässt es dem Leser, welchen Reim er sich auf dieses tatsächlich schonungslose Opfer an die Kunst machen möchte.
Klarheit – enthoben, gelöst
Welche Art von künstlerischer Haltung hier dahinter steht, lässt sich anhand der bei WERGO erschienenen CD-Sonderedition hörend erfahren. Vom ersten Ton der Aria der Goldberg -Variationen ist man gebannt. Eine Aufnahme aus einem fernen Jahr 1959. Mittlerweile sind uns die Worte für ein solches Bach-Spiel abhanden gekommen. Neben einem überirdischen Bach bietet die 4-CD-Box weitere Überraschungen. Zunächst die, dass klar wird, inwiefern man als Künstler/-in in den Vereinigten Staaten Tradition und Moderne durchaus gleichzeitig pflegen konnte. Ferner, dass Grete Sultan tatsächlich mehr als nur auf zwei Komponisten fixiert gewesen ist.
Die Werkauswahl ist mit Bach, Beethoven, Schubert, Schumann, Schönberg und mit der New Yorker Moderne denkbar reichhaltig. Wobei anzumerken bleibt, dass WERGO diverse Aufnahmen des US-Produzenten Heiner Stadler wiederveröffentlicht hat, remastert von Tonmeister Ingo Schmidt-Lucas. Ohne Retuschen. Wie die Musik.
Ein letztes Staunen machendes Tondokument hat das Mainzer Label ans Ende gehängt: „In memory of John Cage“ von Toshi Ichiyanagi. Es ist die letzte Aufnahme, die Grete Sultan eingespielt hat, mit 94 Jahren. Drei Minuten sieben Sekunden enthobene, gelöste Klarheit. Zusammen mit der Biografie von Moritz von Bredow ist diese Grete-Sultan-CD-Edition eine der wichtigsten Veröffentlichungen der letzten Jahre.
CD und Buch
- piano seasons. Grete Sultan, Klavier CD WERGO Wer 6776 2
- Moritz von Bredow: Rebellische Pianistin. Das Leben der Grete Sultan zwischen Berlin und New York, Schott 2012