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Der Komponist als „Selbst-Sponsor“: Gordon Sherwood. Foto: privat
Der Komponist als „Selbst-Sponsor“: Gordon Sherwood. Foto: privat
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Ein Lebenswerk am Rande der Gesellschaft

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Der Komponist Gordon Sherwood (1929–2013) · Von Norbert Florian Schuck
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Als am 5. Mai 1957 in der Carnegie Hall das New York Philharmonic Orchestra unter Dimitri Mitropoulos zum ersten Mal ein Orchesterwerk von Gordon Sherwood zur Aufführung brachte, konnte noch niemand ahnen, dass dem damals 27-jährigen, soeben mit dem Gershwin Memorial Award ausgezeichneten Komponisten eine ganz und gar nicht gewöhnliche Musikerlaufbahn bevorstand, dass ihn eine unstillbare Neugier auf künstlerische Anregungen durch mehr als 30 Länder auf fünf Kontinenten sowie über Jahre hindurch in eine Existenz als Almosenempfänger führen, und sich sein Ruhm schließlich von einem ganz anderen Teil der Erde aus zu verbreiten beginnen würde.

Am Ende seines bewegten Lebens umfasste sein Werkverzeichnis 143 Opuszahlen: Kompositionen in nahezu allen Gattungen von der Solominiatur bis zum Oratorium, denen man anhört, dass Gordon Sherwood nicht nur mit offenen Ohren und wachem Verstand durch die Welt, sondern auch durch die Musikgeschichte gereist ist.

Die Anfänge standen unter wenig günstigen Vorzeichen. Am 25. August 1929, in Evanston nahe Chicago geboren, wächst der spätere Komponist unter den Augen eines strengen Vaters auf, eines Prokuristen, der der sich früh abzeichnenden musikalischen Begabung seines Sohnes keinen Wert beimisst und ihn stattdessen zwingt, die Zeit zwischen seinem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr in Kadettenanstalten zu verbringen. 1944 hört Gordon Sherwood zum ersten Mal Beethovens Siebente Symphonie und fasst daraufhin den Entschluss, sein Leben gänzlich der Musik zu widmen, den er gegen den Vater mit einer solchen Hartnäckigkeit verteidigt, dass dieser schließlich nachgibt. Seine Jugend entfremdet Sherwood für immer vom American Way of Live, von der materialistischen Weltsicht und dem Funktionierenmüssen, als deren klingende Entsprechung ihm die primitive Musik des Exerzierplatzes und Stephen Fos­ters sentimentale Lieder erscheinen – es sollten dies seine einzigen musikalischen Abneigungen bleiben.

Leitsterne und Lehrer: Bach, Copland, Jarnach, Petrassi

Sein Kompositionsstudium eröffnet Sherwood die Vielfalt der zeitgenössischen und historischen Kompositionsstile abendländischer Musik. Sein großer Leitstern wird ihm Johann Sebastian Bach, doch beschäftigt er sich intensiv auch mit allem anderen, was ihm an Musik begegnet, bis hin zu Bartók, Stravinsky, Schönberg und den Nachkriegsavantgardisten. Aus einer Prüfungsaufgabe heraus entsteht seine Erste Symphonie op. 3, deren letzte beide Sätze er als „Introduction and Allegro“ 1957 zum Gershwin Memorial Award einreicht. Mit der Stimme von Mitropoulos wird ihm der Preis zugesprochen, es folgen die erwähnte Premiere in New York und ein Studienaufenthalt bei Aaron Copland in Tanglewood.

Mit einem Fulbright-Stipendium reist Sherwood 1958 nach Hamburg, wo er bis 1960 seine Ausbildung bei Philipp Jarnach fortsetzt. Sein dritter prominenter Lehrer wird 1963 Goffredo Petrassi an der Accademia Santa Cecilia in Rom. Auch dieses Studium beendet Sherwood preisgekrönt. Er hat nun beste Aussichten, eine feste Stelle im organisierten Musikbetrieb einzunehmen, doch entscheidet er sich anders. Mit seiner Frau Ruth, einer Sängerin aus Hamburg, geht er für mehrere Jahre in den Nahen Osten. In Beirut treten sie gemeinsam in Hotels auf, dazu arbeitet Gordon Sherwood als Bar- und Kinopianist und schreibt Musik zu einem ägyptischen Film. 1972 zieht das Paar nach Kenia, wo sich Sherwood Studien in Kisuaheli widmet und sie mit Diplom abschließt. Er knüpft freundschaftliche Beziehungen zur Familie des Staatspräsidenten Jomo Kenyatta, den er wie einen Vater verehrt.

Der radikale Schritt: Betteln für den Lebensunterhalt

Nach dessen Tod 1978 gelingt es Sherwood allerdings nicht, seine Aufenthaltsgenehmigung verlängern zu lassen. Da sich auch die Beziehung zu seiner Frau wegen zu unterschiedlicher Lebensauffassungen allmählich verschlechtert, entschließt er sich zu einem radikalen Schritt: Ohne seine Frau darüber zu informieren, begibt er sich auf Reisen durch Südostasien und landet anschließend ohne Geld in London. Als er dort erstmals bettelt, weist man ihn in die USA aus. Obdachlos kommt Sherwood in sein Geburtsland zurück. Er findet Zuflucht in einem New Yorker Heim und wird kurzzeitig von seinem alten Freund George Crumb finanziell unterstützt. 1982 geht er nach Paris. Nachdem er dort zunächst versucht, Kopien seiner Partituren auf der Straße zu verkaufen, merkt er bald, dass er durch Betteln schneller zu Geld kommt und entscheidet sich schließlich dafür, nach dem Vorbild buddhistischer Bettelmönche seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Seine Zeit teilt er streng ein: Täglich bittet er zwischen 9 und 23 Uhr Passanten und Touristen um Almosen, nur unterbrochen durch das Mittagessen in einem Café. Gelegentlich kann er in einer Bar außerhalb der Öffnungszeiten Klavier spielen. Hat Sherwood genug Geld zusammen bekommen, zieht er sich zum Komponieren in Domizile zurück, die ihm Freunde zur Verfügung stellen, oder geht auf Reisen quer durch die Welt, um sich Inspiration zu verschaffen. Stets trägt er dabei eine Stimmgabel bei sich und zeichnet mit einem Diktaphon interessante Klänge auf. Er komponiert im Kopf, kann somit seine Stücke, ohne Skizzen zu machen, gleich mit kalligraphischer Handschrift in Partitur bringen. Musik zu schaffen erlebt er immer wieder von neuem als einen Akt der Befreiung von den Fesseln und Demütigungen des rauen Alltags.

Dieser wird ihm 1988 durch ein ers­tes von insgesamt drei Stipendien der Helene Wurlitzer Foundation etwas erleichtert. Jedoch: Die frühen Erfolge des Komponisten sind lange vergessen, und nur eine kleine Zahl befreundeter Musiker weiß um Sherwoods Schaffen, das unaufgeführt und unverlegt in der Stille ununterbrochen um neue Werke anwächst. Dies beginnt sich 1995 zu ändern, als der Journalist Erdmann Wingert, ein Freund aus Hamburger Tagen, eine Dokumentation über ihn dreht: „Der Bettler von Paris“ wird auf Arte ausgestrahlt und berichtet erstmals einem deutschen Publikum über Gordon Sherwood. Zufällig sieht die in Bayern lebende russische Pianistin Masha Dimitrieva das Fernsehportrait und nimmt Kontakt zu dem Komponisten auf, der sich mittlerweile bevorzugt in Costa Rica aufhält. Ihrer Initiative ist es vor allem zu danken, dass Sherwood – mit fast 75 Jahren – sein CD-Debut feiern kann: 2004 erscheinen auf cpo die von Werner Andreas Albert dirigierten Ersteinspielungen des für Masha Dimitrieva komponierten Klavierkonzerts op. 107, der Sinfonietta op. 101 und der Ersten Symphonie, die 45 Jahre nach dem Erfolg ihres Finales in der Carnegie Hall zum ersten Mal vollständig in der Turnhalle von Hinterschmiding im bayerischen Wald erklungen war. Seit November 2005 lebte Gordon Sherwood in der diakonischen Einrichtung Herzogsägmühle in Peiting, Oberbayern, von wo aus er noch wenige Reisen unternahm, und wo er am 2. Mai 2013 gestorben ist.

Komponieren war Sherwoods Leben: „Wenn ich mit einem Stück fertig bin, muss ich gleich mit einem anderen anfangen.“ Sich um Publikationen und Aufführungen zu kümmern, verlange dagegen einen ganz anderen Typ von Energie. Außerdem betrachtete er seine zur Aufführungsreife gediehenen Kompositionen bereits als Teil seiner geistigen Vergangenheit, der er gegenüber seinem gegenwärtigen Schaffen keine Priorität einräumen wollte. Es war dieser Drang zu stetiger schöpferischer Arbeit, der den von der kommerziellen Seite des Musikbetriebs zutiefst befremdeten Komponisten schließlich auf die Straßen von Paris trieb: „Ich bin verpflichtet Musik zu komponieren. Und ich bin verpflichtet die Mittel zum Leben zu finden. Solange ich nicht für meine Werke direkt bezahlt werde, fühle ich mich berechtigt auf die Straße zu gehen und die Leute zu fragen, mich zu bezahlen.“ Als Bettler hat er sich dabei nie gesehen: Er war ein „Selbst-Sponsor“, der von den Leuten für seine Musik indirekt bezahlt wurde.

Freie Wahl der Gestaltungsmittel

Sherwoods umfangreiches Gesamtschaffen mag auf den ersten Blick betont uneinheitlich wirken. Eine stilistische Entwicklung von einem „Frühwerk“ zu einem „Spätwerk“ lässt sich kaum feststellen. Stattdessen folgen in der Liste der Opusnummern mitunter Stücke aufeinander, die sich in der Wahl der Gestaltungsmittel völlig voneinander unterscheiden. So gibt es von ihm expressive Werke voller scharfer Dissonanzen, wie das Klavierkonzert und die autobiographisch inspirierte Bettlerkantate op. 99, aber ebenso Stücke in klarstem Dur. Ohne Berührungsängste hat Sherwood auf alles reagiert, was ihn zu schöpferischer Auseinandersetzung reizte. Die abendländischen Klassiker seit Bach haben ebenso Spuren in seiner Musik hinterlassen wie Boogie Woogie, Blues und Jazz sowie Volksmusik aus zahlreichen der vom Komponisten bereisten Länder.

Stimmige Formen, vollendeter Kontrapunkt

Doch so vielfältig die Anregungen und die künstlerischen Ergebnisse sind: Ungefüge Zusammenstellungen disparater Elemente innerhalb einer Komposition finden sich bei ihm nicht; immer strebt der Komponist danach, seinen Stücken eine in sich stimmige Form zu geben. So stehen sich beispielsweise in dem Klavierzyklus Boogie Canonicus op. 50 nicht Boogie und Kanon als grundverschiedene Idiome gegenüber, sondern verschmelzen zur Einheit. Mit der Musik, die ihm auf der Straße und in Lokalen begegnet, geht Sherwood nicht anders um als seinerzeit Joseph Haydn: Er nimmt sie freundlich auf und schafft mit vollendeter Technik – schon die frühesten Stücke zeigen ihn als virtuosen Kontrapunktiker – aus ihr seine Kunstwerke.

Sherwoods Verhältnis zur musikalischen Vergangenheit lässt sich beispielhaft an zwei frühen Klavierkompositionen ablesen, den beiden 1956 entstandenen Wienerischen Rondos im klassischen Stil op. 4, die er ausdrücklich als „nach Joseph Haydn“ und „nach Franz Schubert“ kennzeichnet. In diesen Stücken lässt sich der Komponist nicht nur vom Idiom der Vorbilder zu eigenen Melodien anregen, sondern fügt völlig ungezwungen der großen Familie klassischer Sonatenrondos zwei weitere Exemplare hinzu, die problemlos als solche zu erkennen sind, ohne dass sie sich an Modellen orientieren würden, die weniger mit Haydn und Schubert als mit akademischer Formenlehre zu tun haben. Sherwood fügt sich nicht einer „klassischen Form“, sondern strebt der Souveränität der früheren Meister im Formen nach.

Reisender durch die Musikgeschichte

Dass die Rondos von einem Komponisten aus späterer Zeit stammen, lässt er nur an wenigen Stellen merken. Diese stechen allerdings nicht aus dem Verlauf heraus, sondern fügen sich unauffällig in die umliegende Musik ein. Es geht eben nicht darum, die zeitliche Distanz zu den Vorbildern zu betonen. Mit der Ästhetik des Neo­klassizismus, dessen distanziertes Spiel mit melodischen Floskeln und Lehrbuchformen – also mit oberflächlichen Vorstellungen von Musik vergangener Zeiten – Constant Lambert einmal als touristische Zeitreise bezeichnet hat, hat Sherwoods Vorgehen nichts zu tun. Auch er reist durch die Musikgeschichte, aber er ist kein Tourist.

Wollte man die Frage stellen, was nun bei aller Verschiedenheit der Werke untereinander „den“ Sherwood-Stil ausmacht, so ließe sich der Ernst anführen, mit dem Sherwood jedes musikalische Phänomen, das sein Interesse auf sich zieht, in seiner Eigenart zu erfassen strebt, um als schaffender Künstler davon zu lernen. Er distanziert sich von nichts, kennt kein Schema und biegt sich deshalb auch nicht seine Anregungen zu einem solchen zurecht. Sein Ziel ist stets das schöne, handwerklich perfekte, in sich ruhende Kunstwerk – und sein Schaffen zeigt beispielhaft, wie viele Wege zu diesem Ziele führen können. Um dieses Lebenswerk, so wie es vor uns liegt, vollbringen zu können, war er bereit, den Preis der Obskurität und des Lebens am Rande der Gesellschaft zu zahlen.

Als er starb, hatten nur wenige seiner Werke eine öffentliche Aufführung erlebt. Zum Großteil bis heute ungedruckt, sind sie in der Herzogsägmühle digitalisiert worden und werden von Masha Dimitrieva verwaltet. Sherwood hatte es vielleicht auch deswegen nicht eilig zu Verlegern zu gehen, da er sich sicher sein konnte, dass man seiner Musik, sobald man sie entdecken würde, Wertschätzung entgegenbringt. Freilich ist es besser, geschieht dies früher als später. Was bisher davon ans Licht gekommen ist, lässt keinen Zweifel daran, dass hier wahre Schätze auf ihre Ausgrabung warten.


Diskografie

  • Symphonie Nr. 1, Klavierkonzert, Sinfonietta: Masha Dimitrieva, Bayerisches Landesjugend-Orchester, Werner Andreas Albert (cpo)
  • Klavierwerke Vol. 1: Masha Dimitrieva (Sonus Eterna)
  • Sämtliche Lieder Vol. 1: Felicitas Breest, Masha Dimitrieva (Sonus Eterna)
  • Klavierwerke Vol. 2 erscheint voraussichtlich im Herbst

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