„Die sorbische Kunstmusik ist ihrem Wesen nach organisch mit dem Schicksal des sorbischen Volkes verbunden.“ Man kann diese Feststellung des sorbischen Komponisten und Musikwissenschaftlers Jan Rawp noch zuspitzen: Es ist die Musik, der das kleinste slawische Volk zugleich mit der Pflege der sorbischen Sprachen seine Fortexistenz bis in unsere Tage hinein verdankt. Heute leben in der sächsischen und brandenburgischen Lausitz noch ungefähr 60.000 deutsche Staatsbürger sorbischer Nationalität. Die Geschichte ihrer Vorfahren ist geprägt durch die unentwegt von deutscher Seite erlittenen Repressionen. Vom Soldatenkönig, der das Sorbischsprechen unter Strafe stellte, über die aggressive Germanisierungspolitik des Bismarck-Reiches bis hin zum Rassenwahn der Nazis: Alle eiferten sie danach, das sorbisch-wendische Gepräge der Lausitz zu eliminieren. Und auch jetzt noch entscheiden Deutsche über Wohl und Wehe dieser westslawischen Nation, zum Beispiel durch das
Auslöschen sorbischer Dörfer für die Braunkohlenförderung oder durch den von deutschen Behörden verfügten Exitus sorbischsprachiger Schulen.
Was bleibt nun einem Volk, das keinen eigenen Staat hat, dem die politische Freiheit seit Jahrhunderten geraubt ist, anderes übrig, als sich durch seinen kulturellen Selbstbehauptungswillen der erdrückenden Hegemonie der Mehrheitsgesellschaft zu erwehren? Literatur und Musik waren die Schrittmacher bei dem im 19. Jahrhundert forcierten Bemühen um die sorbische nationale Wiedergeburt. Es kam einer ostentativen politischen Lebensbekundung des sorbischen Volkes gleich, als es dem 22-jährigen Kantor und Komponisten Korla Awgust Kocor (1822–1904) gemeinsam mit seinem Dichterfreund und Begründer der sorbischen Nationalliteratur Handrij Zejler (1804–1872) im Jahr 1845 gelang, die ersten sorbischen Gesangsfeste in Bautzen zu realisieren. 1847 präsentierten Kocor und Zejler auf diesem Forum ihr weltliches Oratorium „Serbski kwas – Sorbische Hochzeit“, dem noch eine stattliche Reihe weiterer Gesangswerke, gipfelnd in „Naleco – Der Frühling“, folgen sollte. Sorbisch war zu einer Sprache der Kunstmusik geworden!
Das spezifisch nationale Idiom von „Serbski kwas“ verdankt sich darüber hinaus weniger der sehr sporadischen Verwendung von Motiven aus der Volksmusik als der Frische, dem Optimismus und dem Gefühlsüberschwang, mit dem hier die Zeremonien einer sorbischen Hochzeit künstlerisch überhöht werden. Kocors Folklore ist erfunden, sie ist auf reflektierte Art naiv, bleibt dabei aber in dem bestrickenden Zauber ihrer blühenden Melodik überaus populär. So konnten seine Chorwerke zu einem Zeitpunkt, als die ursprüngliche sorbische Musikkultur fast vollständig dem Vergessen anheimgefallen war, zum Agens einer neuen Chorbewegung, einer Wiedergeburt der vokalen Volksmusik aus dem Geiste einer volkstümlichen Kunstmusik werden. Ganz im Gegensatz zu der verbreiteten Ansicht, dass im 19. Jahrhundert die Volksmusik zur Inspirationsquelle für die Kunstmusik geworden sei, ist Kocor nicht allein der Begründer der sorbischen Kunstmusik, sondern der Retter der sorbischen Musik überhaupt!
Gewiss dachte der sorbische Priester und Dichter Jakub Bart-Cišinski (1856–1909) auch an das Beispiel Kocors, als er sein „Bekenntnis“ niederlegte: „Zeigen wir durch reichen Geistes Früchte/ allen Völkern, dass wir Sorben leben/ wollen und ein Lebensrecht besitzen/ so erwerben wir uns Anerkennung,/ Achtung, Liebe in gerechten Herzen,/ und so werden wir, uns selber helfend,/ gute Diener unseres Volkes sein.“ Bart-Cišinskis Inhaltsästhetik, seine Verpflichtung der Kunst auf eine nationale Mission bleibt auch dann noch für das sorbische Kunstschaffen wegweisend, als in der europäischen Moderne längst das L’art pour l’art mit seiner Entkoppelung von Ethik und Ästhetik den Ton angibt. Dass diese Ungleichzeitigkeit keineswegs mit einer Rückständigkeit der sorbischen Kunst verwechselt werden darf, genauso wie im Unterschied zum seinerzeit Mode gewordenen Chauvinismus der sorbische Nationalgeist seine Unschuld, seinen humanistischen Impetus aus der Zeit des Vormärz bewahrt hat, lehrt beeindruckend die künstlerische Physiognomie des Komponisten Bjarnat Krawc (1861–1948). Wie Bart-Cišinski wurzelt Krawc in der Generation der Jungsorben, die unter den widrigen Bedingungen der sorbenfeindlichen Politik des Kaiserreiches das Erbe der nationalen Wiedergeburt mit unermüdlichem Tatendrang weiterentwickeln. Während in Regierungskreisen darüber phantasiert wird, „die Reste des Wendentums ihrem Ende entgegenzuführen“, erblühen im Sorbenland bald überall neue Laienchöre, unter ihnen „Meja“ und „Lilija“, die sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Die Sängervereinigungen pflegen das Liedgut Kocors und werden von Krawc mit einer Vielzahl von in ihrer Symbiose aus Expression und Klangschönheit vollendeten Chorliedern bedacht. In seinen 1925 publizierten „33 wendischen Volksliedern“ für eine Singstimme mit Klavierbegleitung vermittelt Krawc auf reizvolle Weise die Melodiebildungen sorbischer Volkslieder mit der hochkomplexen Satzkunst deutscher Schule, die dem Komponisten von seinem Dresdener Studium bei dem Liszt-Schüler Felix Draeseke bestens vertraut war. Einen ganz anderen, ungleich herberen Charakterzug seiner musikalischen Sprache offenbart die 1932 uraufgeführte „Missa solemnis“ für gemischten Chor a capella. Was ihren geschichtlichen Rang und die Entschiedenheit des Kunstwillens anlangt, verdient sie es in einem Atemzug mit Martinus „Feldmesse“ oder auch Janáceks „Glagolitischer Messe“ genannt zu werden. Man kann in der „Missa solemnis“ eine vorweggenommene Antwort auf die Nazi-Barbarei hören, der Krawc ein leidenschaftlich bewegtes „Credo“ entgegenschleudert. Die Vorahnung heraufziehender Drangsal für das sorbische Volk wird aber von einer unzerstörbaren metaphysischen Zuversicht überwölbt, die durch die lichten Farben des „Agnus Dei“ hindurchschimmert. In solchem geistig-emotionalen Widerstehen bekundet sich weit über die Allusionen geistlichen Volksgesangs hinaus, die Krawc in die Ausformulierung seiner musikalischen Gedanken hineingewoben hat, ein spezifisch sorbischer Wesenszug. Bis 1937 wurde die Messe in Dresden, Prag, Brünn, Bratislava, Posen und vielen anderen Städten aufgeführt. Danach senkte sich endgültig die Düsternis des Nationalsozialismus über die sorbische Welt und ihr Kulturleben.
Wer sich für die Musik der Sorben interessiert, dem stellt sich unweigerlich die Frage nach einem sorbischen Janácek, der nicht bei gelegentlichen Umpflanzungen einzelner Wendungen der Volksmusik in ein fremdes musikalisches Milieu stehenbleibt, sondern dessen Personalstil aus der authentischen Volksmusik herauszuwachsen scheint. Die Beispiele Kocors und Krawcs haben gezeigt, dass die Entwicklung der sorbischen Kunstmusik ihren eigenen unabhängigen Weg genommen hat. Zu einer systematischen Auseinandersetzung mit der slawischen Moderne kommt es erst in den Nachkriegsjahrzehnten. Die kompositorische Textur der 1964 uraufgeführten „Metamorphosen für sinfonisches Orchester“ von Jan Rawp (1928–2007) zum Beispiel zeugt von dem Studium der Partituren Schostakowitschs und Suchons. Als Ausgangsmaterial verwendet Rawp das Thema eines Instrumentalreigens aus dem Ort Schleife, das in der Kontrastierung mit eigenen Motiven des Komponisten einen ständigen Gestaltwechsel erfährt. In ihrer dynamischen Kompaktheit, ihrer gleichsam geronnenen Expressivität wirken die „Metamorphosen“ aber zugleich wie ein Abdruck des Daseinsgefühls der 60er-Jahre in der sozialistischen Ära. Aus der Feder Rawps stammt nicht nur ein vielfältiges kompositorisches Œuvre, sondern mit dem Buch „Sorbische Musikkultur“ einer der wenigen umfangreicheren Beiträge zur Musikgeschichte des westslawischen Ethnikums, die bisher nur lückenhaft erforscht ist. Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Tonaufnahmen letzter Rudimente der traditionellen sorbischen Volksmusik, die Feldforscher in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts (!) gesammelt haben und die erst 2006 von dem Musikwissenschaftler Merko Šolta in einer Auswahl ediert wurden. – So erbittert rückblickend über die DDR-Zeit gestritten wird, lässt sich doch nicht darüber hinwegsehen, dass durch die materielle Förderung des Staates und die Gründung des Sorbischen National-Ensembles im Jahr 1952 eine kulturelle Infrastruktur entstanden war, die neben Rawp vielen weiteren hervorragenden Komponisten wie Jan Bulank (1928–2002) oder Jan Paul Nagel (1934–1997) ausgezeichnete Entfaltungsmöglichkeiten bot, wie sie die nachwachsenden Generationen heute nicht mehr vorfinden.
Mit ihren Anfängen reichen in diese Zeit auch noch die Biographien zweier Komponisten zurück, deren Arbeiten gegenwärtig den europäischen Rang der sorbischen Kunstmusik bekräftigen. Es sind dies der an einen emphatischen Begriff von Neuer Musik anknüpfende Juro Metšk (1954) und Detlef Kobjela (1944) mit seiner pittoresken, höchst eigenwilligen Variante der Postmoderne. Unter den sorbischen Meistern ist der musikalische Kosmopolit Juro Metšk eine Ausnahmegestalt. Metšk will, mit Anton Weberns berühmten Worten formuliert, „in Tönen etwas mitteilen, was anders nicht zu sagen ist“. Seine Schöpfungen transportieren keine Botschaft, sie lassen sich vordergründig auch nicht nach Aspekten sorbischer Identität auswerten, sondern sie sind ein eigenes Universum von Materialkonfigurationen ohne Bedeutungsanalogien zu einer außermusikalischen Wirklichkeit. Einen prägnanten Eindruck von der extrem geformten Musik des Komponisten vermitteln die auf der Grammatik einer Reihe basierenden „PSYCHOGRAMME für großes Orchester“ (1976) mit ihrem abrupten Wechselspiel von kristallinen Strukturen und atemlos unerbittlichen Klangballungen. Im Vergleich mit dem durch die strenge Schule des dodekaphonen Denkens geprägten Metšk zeichnet Kobjelas Œuvre ein fast nostalgisches Flair aus. Seine Musik ist auch dort, wo sie nicht explizit auf die Heimat Bezug nimmt, eine Hommage an die sorbische Lausitz.
Unter der häufig impressionistischen Glasur seiner Stücke wird eine Tiefenschicht melancholischer Spiritualität erkennbar, wie zum Beispiel bei dem ingeniösen einsätzigen „Tranquillo für Streichquartett und Orchester“ (1989) mit dem sorbischen Untertitel „išyna – Die Stille“. In seinem dezent tänzerischen Gestus beschwört das mosaikartig gefügte Episodenstück die verhaltene Trauerstimmung sorbischer Landschaften und erweckt ihre Sagengestalten und Menschen zum Leben: Plötzlich meint man für einen kurzen Augenblick wie aus großer Ferne die prächtigen Farbzusammenstellungen einer festlichen Tanztracht zu erblicken.