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SchwesternParkMusik bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik. Foto: WDR Claus Langer
SchwesternParkMusik bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik. Foto: WDR Claus Langer
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Einen Ort kreieren, der ohne Worte auskommt

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Die Wittener Tage für neue Kammermusik, die letzten unter Harry Vogts Leitung, umschiffen die Zeitenwende
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Witten, Anfang Mai – Das Unbehagen in der Kultur rückt uns als Gefühl jetzt wieder ganz nah auf den Pelz. Auch in Witten war das so, wenngleich dort doch alles dafür getan wurde, dass wir es nicht spüren, jedenfalls nicht allzu sehr. Eigentlich, so hörte man rechts und links, sei Witten doch „wie immer“.

Das stimmte natürlich – so lange man nur an Witten dachte. Das Festival half dabei, räumte aus dem Weg, was sich im Umfeld eines Kunstfestivals in Zeiten des Krieges unweigerlich einzustellen pflegt. Das war fürsorglich, das war rücksichtsvoll und eigentlich Fortsetzung dessen, wie Harry Vogt, jetzt scheidender künstlerischer Leiter der Wittener Tage für neue Kammermusik, seine Intendanz immer schon verstanden hatte: als Kreieren eines Ortes, der der Kunst allein gehört, der ohne Worte auskommt, weil ihm ideologiefreies Kunstmachen einzig so gewährleistet schien, was dann über eine schier unglaubliche Distanz von dreiunddreißig Jahren tatsächlich gut funktioniert hat, nur, dass das Festival dabei diesen einen Schatten nie losgeworden ist: den Schein des Unpolitischen von Kunst. Insofern lag es in der Logik, das, unvermeidlich, mit Schuldgefühlen gespickte Thema Kunst in Kriegszeiten den Gruß- und Vorwortgebern anzuvertrauen. Ihnen blieb es überlassen, stellvertretend für uns, den Übergang finden zu sollen von einem „unfassbaren Geschehen“ (Ministerin Pfeiffer-Poensgen), einem „Krieg mitten in Europa“ (WDR3-Programmbereichsleiter Kremin), einem „brutalen Überfall“ (Harry Vogt) zu einem Festival und seinem Programm, das von sich aus – anders als es die Literatur kann, anders als es das Theater kann –, dafür nun einmal keine Anknüpfungspunkte bietet. Zum einen, weil Musik abstrakt ist; zum anderen, weil Musik, insofern sie als Kunst auftritt, vielschichtig in sich ist, weswegen die aufgegebene Modulation denn auch zwangsläufig misslingen musste. Gültig kann ein Übergang von Katastrophischem außerhalb der Kunst in die Kunst ohnehin nur in der Kunst selbst vollzogen werden. Die erteilten Antworten dementsprechend dünn: Musik „baut Brücken“, Musik „wird die Krise überwinden“.

„In Zeiten wie diesen“

Wie noch jedes Musizieren „in Zeiten wie diesen“, stehen Veranstalter, Ausführende, aber auch wir Konsumenten von Kunst unter eigentümlichem Rechtfertigungsdruck. Das neuerliche Verschwinden der Komfortzone (gerade erst hatte man ja die Pandemie hinter sich gelassen) beschert uns die Benefiz-, die Solidaritätskonzerte dieser Tage, eine Trumpfkarte, die in Witten – insgeheim schienen alle dankbar zu sein – nicht gezogen wurde. Fürs Wegmachen des schlechten Gewissens gibt’s bekanntlich ja auch nur schlechte Lösungen. Andererseits konnte das (soweit der Augenschein reicht) sehr gut besuchte Festival ohne Groß­alarm über die Bühne gehen. Was anderswo unweigerlich zum Schisma führt: die Frontstellung russischer respektive ukrainischer Autoren hier, ukrainischer respektive russischer Ausführender dort – dieser GAU ist Festivalleiter Harry Vogt erspart geblieben. Und, apropos größter anzunehmender Unfall: In sein letztes Editorial platzierte Vogt eine nachdenklich stimmende Reminiszenz an seine allerersten Wittener Tage. Die fielen ins Jahr 1986. Damals explodierte im fernen Tschernobyl ein Atomreaktor und die Nachrichten vom Super-GAU sickerten als Nachrichten-Fallout in den Wittener Saalbau durch, kontaminierten auch die dort versammelten Elfenbeinbewohner. 1995, als Vogt dann selbst verantwortlich an den Start ging, war Wendezeit. Jetzt haben wir die Zeitenwende, in Witten einen Wechsel und so, steht zu hoffen, Zeit für Bilanz und Neuanfang.

Verlässlichkeit

Was die Wittener Tage für neue Kammermusik über die Jahre ausgezeichnet hat, war Verlässlichkeit. Auf Namen einerseits – vor allem solche, die immer wiederkehrten. Auf Fülle andererseits. Keine Witten-Ausgabe, in der man schlechterdings alles wahrgenommen hatte, haben konnte, in der man, in der Nachbetrachtung, allem gerecht geworden wäre. An der Fülle den Reichtum spüren lassen – Harry Vogt, Redakteur für zeitgenössische Musik beim Westdeutschen Rundfunk, hat dies zu seinem Programm gemacht, hat Generationen von Interpreten, von Komponisten bedacht, beauftragt, ans Festival gebunden, neue entdeckt, manche andere beharrlich ignoriert. Auch in seiner letzten Festival-Ausgabe ist sich Vogt treu geblieben, hat vieles gebracht, um manchen etwas zu bringen: Fünfunddreißig Uraufführungen an drei Tagen, sieben Hauptkonzerte, ein Newcomer-Konzert, dazu eine installativ bespielte historische Parklandschaft, die man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts zur Erholung für die Diakonissen am Evangelischen Krankenhaus angelegt hatte. Ein als SchwesternParkMusik beworbener Programmpunkt, der im Selbstverständnis des Kurators immer schon mehr als nur eine Nebenrolle ge­spielt hat.

Große Reprise

Das Finale seiner Intendanz schien Vogt seinerseits wie eine große Reprise komponiert zu haben. Noch einmal tauchten sie auf, wurden ein letztes Mal kommissioniert, engagiert: Aperghis, Ablinger und Abrahamsen, Anzellotti und Arditti, ensemble recherche, Ensemble Modern, IEMA Ensemble, Trio Accanto und Trio Catch, Widmann, Weirich, Watanabe und viele andere. Dann kam Glück dazu. Das offene Geheimnis, dass Musik Zeitkunst ist, wurde öffentlich in dem Sinn, dass dreiunddreißig Jahre offenbar genau die richtige Menge Zeit sind, damit Kunst Zeit hat, zu reifen. Zwei prachtvolle Hochgewächse standen so auf einmal vor uns. Das eine hieß „Ins Offene“ und war für Saxophon, Klavier, Schlagzeug. Nach der Selbstauskunft des Komponisten Beat Furrer hatte dieses Trio zwanzig Jahre Entstehungszeit für sich in Anspruch genommen – jetzt wurde es uraufgeführt, in Witten, eben vom Trio Accanto. Schwirrend, virtuos, fiebrig. Und ein anderes Trio, das zweite Streichtrio von Helmut Lachenmann (das erste stammt aus dem Jahr 1965) brauchte als Inkubationszeit fast die gesamte Vogt-Intendanten-Strecke. Die Uraufführung des Werks durch Trio Recherche war der stille Höhepunkt der diesjährigen Wittener Tage. Lehrreich vor allem in dem Sinn, weil es offen legte, dass auch noch anders komponiert werden kann als das Prinzip Spielwiese zu bedienen, Ökonischen in die Partitur einzuhegen, das Lautgeben von Gibbon-Affen, von einem Giant Banjo-Frosch – wie in Kristine Tjogersens „Habitat“ geschehen –, auf das Streichtrio zu „übertragen“. Niemand muss sich wundern: Witten ist auch ein Ort für die Moden unserer Zeit geworden.

Mit einer Stimme

Dagegen stand das Streichtrio Nr. 2 von Helmut Lachenmann. Ein Stück, das mit einer Stimme sprach – und dafür alles um sich herum zum Mittel machte: die tonlose Bogenarbeit wie das tongebende Spiel auf dem Instrument inklusive das des summend-tongebenden der Instrumentalistinnen. In einer Vorankündigung firmierte das Stück unter der Überschrift „Spätwerk“, was irgendwie nach Abgeklärtheit klang – aber das war es nicht. Das Stück kämpfte als hätte es weniger die Neuerungen einer Neuen Musik im Sinn, die in diesem Künstlerleben ja eine so große Rolle gespielt haben als vielmehr das, wie ein Stück Musik gemacht werden muss, damit das in sich verschiedene Einssein hervortritt, hörbar wird. Ein Stück, das an nichts dachte als an sich selbst, wild entschlossen, sich gegen die verrinnende Zeit zu stemmen. So, schien der Komponist sagen zu wollen, hat Brahms es doch auch gemacht. Was man dabei wahrnahm, eher unspektakulär. Versetzte Einsätze, gemeinsame Haltepunkte, dynamisiertes Espressivo, Taktwechsel zur Tempoaufnahme, Aufblähen bis ins mehrfache Forte, Unisono-Lichtungen fürs kontrarhythmische Gewebe, das in rasenden Zweiunddreißigstel-Ketten eigentlich nicht endete, sondern abbrach. – Ein Stück, von dem man wohl prognostizieren kann, dass es noch einmal hervorgeholt werden wird.

Aber es gab auch Novitäten in Witten. Dass Harry Vogt mit einem „Tanzstück“ ausgerechnet in seiner Schlussrunde tatsächlich noch einmal ein ganz neues Format aufgemacht, einen, wie er schrieb, „alten Traum“ realisiert hat, sorgte für gespannte Erwartungen. Und tatsächlich ist die Begegnung der komponierten Musik mit dem Performativen ja eines der ganz großen Themen der Zeit. Das von Elena Schwarz geleitete Ensemble Modern und die von Rafaële Giovanola choreografier­te Kompagnie Cocoondance stürzten sich ins Abenteuer der „Hard Boiled Variations“ für Ensemble und Tanz. Arnulf Hermann hatte dafür exakt „15 1/2“ Variationszyklen geschrieben, die wie in einem Geschwindigkeitstrichter immer kürzer wurden, am Ende nur mehr einen Wimpernschlag lang. Wie man dazu tanzen kann? – Rafaële Giovanola hielt sich an Hermanns schwankende Rhythmen, projizierte sie auf ihre Minigruppe, auf drei Tänzerinnen, zwei Tänzer, ließ diese immer wieder aus dem Orchester hervortreten, gab Armen und Beinen ein seltsam eigenständiges Flattern und löste damit im Publikum eine Frage aus, die sich die Choreografin am Anfang der Zusammenarbeit selbst vorgelegt hatte und die sie in einem im Programmheft abgedruckten Gespräch mit dem Komponisten und der Dirigentin ehrlich protokollierte: „Warum sollen wir überhaupt dazu tanzen?“ Die Antwort blieben die Beteiligten schuldig. Die „hartgesottenen“ Variationen endeten in Ratlosigkeit. Ein Rückschlag, von dem sich niemand abschrecken lassen sollte. Das Thema gehört in die Wiedervorlage.

Hinaus ins Grüne

Ein anderer Programmpunkt der diesjährigen Wittener Tage führte ins Freie. Mit einem stattlichen Dutzend Kompositionsaufträgen hatte Harry Vogt der Klangkunst noch einmal zu einer unübersehbaren Bühnenpräsenz verholfen, ein Vermächtnis, hätte man früher gesagt. Vormals als kunsthandwerkliche Bastelei belächelt, hat das „Große im Kleinen“, hat die „Kraft des Kleinen“ bei den Wittener Tagen an Bedeutung stetig zugenommen. Angesichts einer solchen Erfolgsbilanz daran zu erinnern, dass der Konzertsaal, dass die Kammer, um resonanzfähig zu werden, sich gegen die Außenwelt abschließen mussten, grenzt da schon fast an Spielverderberei. Umgekehrt haben die allerschönsten Trends der spätkapitalistischen Lebenswelt – Inklusion und alternative Spielstätten – auch bei den Wittener Tagen ihre Knospen ausgetrieben, pünktlich zur Maienzeit. In dem Maß, in dem die Spielwiesen für den homo ludens dort immer größer abgesteckt wurden, ist die Klanginstallation zum sozialen Aufsteiger der jüngeren Festivalgeschichte geworden.

Die Kammer

Die andere Baustelle in der Ära Vogt war die „Kammer“ selbst. Neben Festsaal, Museum, den Kirchen der Stadt rückte hier vor allem der Theatersaal in den Fokus. Witten-Erstbesucher staunen regelmäßig über das seit einigen Jahren fürs Schlusskonzert fest gebuchte WDR-Sinfonieorchester. Dass es nicht funktioniert hat, wird man nicht sagen können. Im Gegenteil. Gerade das zurückliegende Festival hat gezeigt, welche Möglichkeiten sich bieten, wenn Komponisten vom Groß-Klangkörper kammermusikalischen Gebrauch zu machen verstehen, wie dies Enno Poppe mit „Augen“ 25 Lieder für Sopran und Kammerorchester nach Gedichten von Else Lasker-Schüler ungeheuer eindrucksvoll vorgemacht hat. Nur am Rand sei erinnert, dass Titel, Bauart, Besetzung in Anton Weberns 1935 entstandenem op. 26 „Das Augenlicht“ für gemischten Chor und Orches­ter ihr Vorbild haben, einschließlich der von Webern wie vom Schönbergkreis präferierten Haus- und Laienmusikinstrumente Mandoline, Gitarre, Harmonium und Glockenspiel, von dem Poppe freimütig bekannte, dass er es überhaupt nicht mag. War egal. Vielmehr schien es, als ob dieser selbstauf­erlegte Zwang gerade die Leichtigkeit, gerade die freie Hand mobilisiert hat, mit der der Komponist wie aus einer ausgebreiteten Palette mal diese, mal jene Farbklänge zusammengestellt hat. Bei grundsätzlich syllabischer Textbehandlung wirkten die Glissandi im Orchester, die auskomponierten Vibrati der Sängerin, insbesondere in den Zeilenanfängen, wie leuchtende Kontraste. Bas Wiegers am Pult mit tänzerischer Leichtigkeit vor dem WDR Sinfonieorchester; Sarah Maria Sun mit wunderbarer Balance zwischen Präzision und Freiheit. Den letzten Zweizeiler „Bin immer auf See / Und lande nicht mehr“ aus dem 1913 entstandenen Gedicht „Hinter Bäumen berg ich mich“ weitete Poppe großflächig ins Tutti, achtete zugleich genau darauf, die Stimme vom Orchester nicht zudecken, sie vielmehr, wie hinter vorbeiziehenden Wolken, immer wieder hervortreten zu lassen. Mit Pendelbewegungen von Mandoline, Gitarre, Harfe entschwand der Nachen unserem Blick. So kurzweilig, so schön hat man eine neue Musik selten gehört.

 

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