Warschau bereitet sich schon zum 48. Mal auf ein Fest der zeitgenössischen Musik vor. Das Festival „Warschauer Herbst” ist eine der bekanntesten derartigen Veranstaltungen in Europa und wohl die renommierteste und wichtigste im Bereich der ehemaligen Ostblockstaaten. Es wurde 1956, nach der Milderung der stalinistischen Diktatur, als die einzige offizielle, vom Staat großzügig finanzierte Möglichkeit zur Präsentation der Neuen Musik gestartet. „Paradoxerweise fällt die Glanzzeit des ,Warschauer Herbstes’ in die kommunistische Zeit. Das Festival schlug nämlich eine Bresche in den Eisernen Vorhang und war eine Insel der Schaffensfreiheit. Hier herrschte der sozialistische Realismus nicht, hier waren alle künstlerischen Extravaganzen möglich”, erinnert sich der Festivalleiter Tadeusz Wielecki.
Auch heute, trotz schwierigerer finanzieller Lage, legt das Musikfestival erstaunliche Vitalität an den Tag. Seine Bedeutung für das Kulturleben Polens ist nicht zu unterschätzen. Neben der Klassik des 20. Jahrhunderts (vor allem der zweiten Hälfte) und den Strömungen, die mit der Musik der Vergangenheit und der Tradition verbunden sind, werden dem Publikum die neuesten Tendenzen präsentiert. „Wir wollen möglichst umfassend über das aktuelle Musikgeschehen der Welt informieren”, betont Wielecki.
Das wird auch getan. In diesem Jahr findet man im Programm neben europäischen und amerikanischen besonders viele Werke koreanischer, japanischer, chinesischer, russischer oder ukrainischer Komponistinnen und Komponisten. Wie Wielecki erklärt, sei die Musik des Fernen und Nahen Ostens in den vorigen Jahren in Polen nur selten aufgeführt worden – ein Rückstand der nun aufgeholt werden soll. Eine umfassende Präsentation der zeitgenössischen Musik Asiens kann man als einen Schwerpunkt der diesjährigen Ausgabe des Warschauer Herbstes betrachten.
Die Idee des Festivals ist es natürlich auch, dem Publikum ein Bild der polnischen Musik zu vermitteln. Neben den längst anerkannten Persönlichkeiten, wie etwa Górecki oder Kotoñski, ist auch die junge Komponistengeneration (Bortnowski, Zych, Jaskot) ins Programm aufgenommen. Der „Warschauer Herbst“ trägt auch zur Belebung des Musikschaffens in Polen bei, indem neue Werke in Auftrag gegeben werden. Eines der Grundziele der Veranstalter ist auch das Heranführen des polnischen Hörers an die Klassik des 20. Jahrhunderts, insbesondere an das Repertoire aus der Zeit nach 1950. So werden etwa „Vocalism AI“ von Toru Takemitsu, „Notations“ und „Répons“ von Boulez oder „An Idyll for the Missbegotten“ von George Crumb zum ersten Mal in Polen zur Aufführung gelangen.
„Das diesjährige Festival unterscheidet sich von den vergangenen durch große, spektakuläre Veranstaltungen”, freut sich Wielecki. Zu denen gehört in erster Linie ein Gastspiel des Ensemble Modern, das vom Büro Kopernikus in Kooperation mit dem Deutschen Musikrat ermöglicht wurde. Im Rahmen der sich schon seit 2001 entwickelnden Zusammenarbeit des Festivals mit dem Deutschen Musikrat wird jährlich ein deutsches Ensemble für zeitgenössische Musik nach Warschau eingeladen. Diesmal wird Heiner Goebbels erfolgreiche Oper „Landschaft mit entfernten Verwandten“ als polnische Erstaufführung vorgestellt werden. Ein anderes vom DMR unterstütztes Projekt ist die polnisch-deutsche Ensemblewerkstatt für Neue Musik. Rund 25 junge Musiker werden unter der Leitung von Rüdiger Bohn Werke deutscher, polnischer, ukrainischer und japanischer Komponistinnen und Komponisten aufführen.
Traditionell schon ist das Festival auf keinen eigenen Ort festgelegt, sondern geht „unters Volk“. Zeitgenössische Musik, das versucht Wielecki zu vermitteln, sucht keine Enklaven, sondern taucht ins Leben mit seinen die Gesellschaftsebenen spiegelnden Treffpunkten. Außer in der Nationalphilharmonie oder der Saint Trinity Lutherkirche finden die Konzerte in Szene-Lokalitäten wie „Fabryka Trzciny Arts Centre“ oder im Ziegelbau der „Koneser Vodka Distillers“ statt.
Sogar das Sport- und Rekreationszentrum oder das in der Warschauer Clubbing-Szene berühmte Energetische Institut sind Veranstaltungsorte. Kein Wunder, dass seit einigen Jahren neue Gruppen von Zuhörern den „Warschauer Herbst“ besuchen. „Die Säle sind voll, manchmal gedrängt voll. Und was wichtig ist, die Mehrheit des Publikums bildet die Jugend“, betont Wielecki. Nach Jahren entstehe wieder ein Interesse für eine raffiniertere, kompliziertere Musik. Es bilde sich eine Elite von jungen Menschen heraus, die sich gerade von den Konsumenten der Massenkultur absetzen wollen. Sie suchen nach der Musik, die den Zuhörer gleichsam adeln könnte. Das Festival spricht seit einigen Jahren verstärkt unterschiedliche Publikumsschichten an, die eigentlich miteinander wenig zu tun haben.
Vielleicht sagt man auch deswegen über den „Warschauer Herbst“, er sei positiv eklektisch. Wird das bevorstehende Festival diese Tendenz bestätigen? Mal sehen.