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Endstation Praxisschock?

Untertitel
Kirchenmusikalische Ausbildung und kirchenmusikalische Praxis – zwei Welten
Publikationsdatum
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Evangelischer Kirchentag 16. bis 20. Juni 1999. Der Hauptbahnhof in Stuttgart. Über die Bahnsteige des Sackbahnhofs strömen die Menschen, Kirchentagsbesucher wie normale Reisende. Auch von der Stadt her streben den ganzen Tag über Jung und Alt zu den Gleisen. Beide Richtungen begegnen sich in der Bahnhofshalle. Unter der Kirchentagsfahne zwei schwarze Flügel, einige markante Skulpturen, unweit davon ein Musikpodium, darauf Cembalo, Harmonium, Orgelpositiv und immer wieder andere Mitwirkende, Streicher, Bläser, Sängerinnen und Sänger. Kirchentag und seine Kirchenmusik – mitten im alltäglichen Trubel der Bahnhofshalle, profaner „Kathedralraum“. Menschen bleiben stehen, stutzen. Andere schütteln den Kopf. Wieder andere bekommen sie nicht mit, diese Passagen aus Matthäus-Passion und Wohltemperiertem Klavier, diese Kirchentagsbezüge in den Schriftlesungen. Aber zahlreiche Menschen unterbrechen doch ihren Weg, nehmen sich Zeit, umschreiten die Flügel, treten dem Musikpodium näher, konfrontieren sich mit dem, was da klingt: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ – morgens um 7.50 Uhr. Bachwerke unmittelbar neben duftendem Backwerk und druckfrisch-knitterfreien Presseerzeugnissen. „Wenn das Salz kraftlos wird ...“ – so heißt dieses Projekt und beruht auf einer Idee der Kirchenmusik-Abteilung der Musikhochschule Trossingen: Kirchenmusik-Studierende mehrerer (Kirchen-)Musikhochschulen – Rottenburg, Stuttgart, Trossingen und Tübingen – engagieren sich an einer wichtigen Kirchentag-Nahtstelle. Und das nahezu rund um die Uhr. Neben den (zyklisch geordneten) musikalischen Beiträgen auch Führungen, Andachten und Aktionen. Tänzerisches. Das alles mündete in eine musika-lisch-liturgische Nacht, dann aber nicht mehr im Hauptbahnhof sondern in der Frauenkirche des nahen Esslingen. Wie gesagt: vor allem angehende Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker beteiligten sich an diesem Projekt. Von daher liegt die Frage nahe: Welches Verhältnis besteht heute zwischen kirchenmusikalischer Ausbildung und kirchenmusikalischer Praxis? Begegnen sich diese zwei Welten auch heute noch in einer Art Übergangshalle zwischen Stadt und Bahnsteigen, also im „Raum“ des Übergangs vom Studium in die Berufspraxis, wo es um Prägungen und Anforderungen geht, die den vielzitierten und -gefürchteten Praxisschock bewirken? In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich zweifellos viel getan! Evangelische Kirchentage und Katholikentage sind sozusagen Wegstationen, wo Stichproben genommen werden können: Kaum eine kirchenmusikalische Ausbildungsstätte, ob nun in staatlicher oder in kirchlicher Trägerschaft, macht inzwischen hinter den sich wandelnden Anforderungen an das Studium noch ein Fragezeichen. Stattdessen werden die aktuellen Defizite beim Namen genannt. Neue Studienstrukturen und neue Studieninhalte sind in der Diskussion. Das neue Hochschulrahmengesetz (1998) birgt zusätzliche Reformoptionen. Und die Defizite: Sie bestehen heute vor allem in der Integration von Kinderarbeit (Kinderchorleitung) in die Studienpläne, von Popularmusik (Neue Geistliche Lieder) und von neuen Musikmedien. Traditionelle Studieninhalte kommen da leicht in Gefahr, aus einer defensiven Haltung heraus ihren eigenen Wert begründen zu müssen. Dieses führt nicht selten zu Mißverständnissen. Leider. Kirche in unserer Gesellschaft, also vor allem die konkrete Kirchengemeinde in ihrem jeweiligen Umfeld – auch diese Gegebenheiten wandeln sich rasant. Die „immer kleiner werdende Herde“ kann nicht ohne Auswirkungen auf das bleiben, was man „kirchenmusikalischen Arbeitsplatz“ nennt oder kirchenmusikalisches Berufsbild. Die Probleme hier haben zwei Seiten: einerseits geraten die Kirchengemeinden angesichts allgemeiner musikalischer Banalisierung in Gefahr, den umfassenden Wert „ihrer“ Kirchenmusik nicht mehr ermessen und würdigen zu können; andererseits verpassen Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker den Anschluß, wenn sie zu wenig (oder nicht) daran interessiert sind, „ihre“ Gemeinde mit Flexibilität zu beobachten und behutsam-kreativ an die Hand zu nehmen. Es ist leider zu oft zu erleben, daß es dann doch zu Frontstellungen kommt und sich Gemeinden und Kirchenmusiker gegenseitig als Fron empfinden. Was tun? Endstation darf nicht der Praxisschock sein! Gefragt sind stattdessen: Begegnungsmöglichkeiten der zwei Welten Ausbildung und Berufspraxis. Obwohl Ausbildung und Berufspraxis selbstverständlich ihre je eigenen Wertevorstellungen haben, können und müssen sie einander im Blick behalten! Der „Berufskirchenmusiker“ darf seine im Studium erarbeiteten künstlerischen Ideale nicht aufgeben. Umgekehrt sollte der „studierende Kirchenmusiker“, angeleitet durch weitsichtige Lehrer, seine künstlerische wie menschliche Befähigung erwerben mit wachem Blick für die heutigen Gemeinden und damit für die heutigen Menschen im Gottesdienst. Letztere, diese heutigen Menschen in Gottesdiensten und Gemeinden sind kein Praxisschock, weil sie das Ausbildungsziel sind, ein Ziel, das später, beim Beginn des beruflichen Lebens, dann ganz in den Mittelpunkt rückt. Und von diesen heutigen Menschen in Gottesdiensten und Gemeinden aus kann Kirchenmusik auch heute unter Beweis stellen: Durch sie wird das „Salz“ keineswegs kraftlos ...

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