Die zweiundvierzigsten Wittener Tage für neue Kammermusik schwelgten in Proustschen Sehnsüchten: nicht nur auf der Suche nach der verlorenen Zeit, auch mit einem festen Blick weit in die Zukunft. Wie es auch den Komponisten Anton Webern umtrieb, als er 1928 seine Symphonie op. 21 schrieb: „Wohin wir auch kommen auf unseren Wanderungen: überall Erinnerungen. Aber Rückblick ist das keiner, das ist ein Blick ins Zeitlose, daher auch nach vorne, nach dem Ursprung.“
Diesen Doppelsinn machte das Klangforum Wien unter Stefan Asbury erfahrbar, als es die seismographischen Notierungen von Weberns „Symphonie“ für vier Bläser, Harfe und Streichquartett unerhört intensiv und plastisch zum Leben erweckte. Auch Friedrich Cerhas neues Ensemble-Stück „Bruchstück, geträumt“ rief einem Weberns Worte in den Sinn. Gleicht das Werk doch einem auskomponierten Protest gegen den musikalischen Zeitgeist effektvoll vorandrängenden Lärmens: eine Pianissimo-Studie, deren musikalische Bewegungen zum Anhalten, zur Langsamkeit zwingen. Wie in einem Traum versucht der Hörer sich fortzubewegen und verharrt doch wie gelähmt auf der Stelle. Becketts „Warten auf Godot“ schießt einem in den Kopf.
Seit Harry Vogt, Musikredakteur beim Westdeutschen Rundfunk, die Tage der neuen Kammermusik künstlerisch leitet, gehört das verlängerte Frühjahrs-Wochenende neben Donaueschingen zum wichtigsten Avantgarde-Treffen der Neuen und neuesten Musik. Hier werden nicht nur zwei Dutzend Uraufführungen einfach mal so übereinander gestapelt, sondern in einer durchdachten Dramaturgie miteinander verzahnt. Dieses Jahr kam dem Festival zu Hilfe, dass auch das Wiener Klangforum anlässlich seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens viele Kompositionsaufträge erteilte. Klangforum-Gründer Beat Furrer war nicht nur als Dirigent, sondern auch als Komponist gekommen. Seine „Xenos-Szenen“ für acht Stimmen und Ensemble nach Texten von Lucius Apuleius, Händl Klaus, Antonio Machado und Lukrez behandeln die Worte weniger im Sinne einer Vertonung als assoziativ und bruchstückhaft. Die Sinngehalte werden in bestürzende Klänge voller Erinnerungen und Beschwörungen verwandelt, die von Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod künden. Kaum ein anderer Komponist unserer Zeit setzt so intensiv unsere existenziellen Grundgefühle in Musik um wie Furrer.
Die Wittener Erfahrung ist wertvoll, weil sie über eine innerkünstlerische Reflexion hinaus wie in einem Brennglas gesellschaftliche Grundbedürfnisse und Empfindungen deutlich werden lässt. Die Komponisten wollen mit ihrer Musik wieder stärker die Emotionalität des Menschen ansprechen. Das darf man nicht so verstehen, dass sie jetzt ihre Stücke vorsätzlich versimpeln würden, damit die Musik beim Publikum leichter ankommt. Vielmehr kann ein durchaus komplex komponiertes Werk wie „Aus.Weg“ für acht Instrumente von dem Österreicher Georg Friedrich Haas vom Hörer tatsächlich als jener „Akt der Befreiung“ nachvollzogen werden, den der Komponist in ihm sieht. Wird ein solches Stück dann noch so furios, mit geradezu brennendem Espressivo gespielt wie vom Ensemble Recherche, dann braucht man sich um seine universelle Botschaft keine Sorgen zu machen.
Das Wittener Programm demonstrierte, wie vielgestaltig sich das heutige Komponieren darstellt. Matthias Pintschers Ensemblestück „sonic eclipse“ verschmilzt in höchster Klangraffinesse und lebhaftester Gestik das instrumentale Ensemble mit den Partien einer solistischen Trompete und eines Solo-Horns; Bernhard Langs „Monadologie VII“ für Kammerorchester greift erinnernd auf Schönbergs Kammersinfonie op. 38 zurück, entnimmt dieser eine Art Ur-Zelle, die dann virtuos und vital zu wuchern beginnt.
Durch die Präsenz des Klangforums gestaltete sich Witten dieses Jahr zu einem kleinen österreichischen Festival im Festival. Dies mit gutem Grund, denn die österreichisch-wienerische Neue-Musik-Szene ist derzeit die vielleicht lebendigste und farbigste überhaupt. Gleichsam als überhöhende Symbolfigur war der österreichische Komponist Friedrich Cerha nach Witten gekommen. Unermüdlich wandelte der fast 85-Jährige zwischen den verschiedenen Spielorten und überwachte die Proben zu seinen Aufführungen, die einen Schwerpunkt des Programms bildeten.
Cerha, dem die Opernwelt die Komplettierung von Alban Bergs Oper „Lulu“ verdankt, personifizierte als Figur gleichsam das Wittener Programm: seine Musik rief immer wieder Erinnerungen wach und bot in den neuesten Arbeiten gleichzeitig einen Blick nach vorn. Über Cerhas uraufgeführtes „Bruchstück, geträumt“ wurde oben schon berichtet. Als deutsche Erstaufführung erklang im ersten Konzert die „Netzwerk-Fantasie“ für Klavier. Das 1988 geschriebene Werk bietet ein komplexes Geflecht aus Einzel-und Untersystemen, Veränderungen und Störfunktionen, eben eine wahre „Netzwerk“-Struktur, wie sie heute auf vielen Gebieten anzutreffen ist. Manchmal sind Komponisten immer noch ihrer Zeit etwas voraus und ahnen Dinge, die erst später in die Realität einbrechen. Friedrich Cerha war auch ein eigenes Porträt-Konzert gewidmet. Eingeleitet von einem höchst informativen, sehr persönlich geführten Gespräch Cerhas mit dem Musikkritiker Michael Struck-Schloen (es ist stets eine Freude, Struck-Schloens „Moderationen“ zu erleben: kenntnisreich, genaue Fragen, nie sich in den Vordergrund drängend, sondern auf die Sache hinführend), schlossen sich zwei deutsche Erstaufführungen an: die „Slowakischen Erinnerungen aus der Kindheit“ für Klavier (1956/1989) und „Sechs Inventionen“ für Violine und Violoncello (2005/2006).
Mitte der 50er-Jahre notierte Cerha die Musik und Gesänge, die er einst bei seinem Onkel in einem Weinort in Niederösterreich von den dort beschäftigten slowakischen Dienstboten gehört hatte. Es sind Stücke von einer zärtlichen Anrührung, so spielte sie auch der Pianist Marino Formenti, der auch schon bei der „Netzwerk-Fantasie“ auf souveräne Manier das Geflecht des Werkes durchhörbar machte. Es gab in den 50er-Jahren aber auch einen anderen Friedrich Cerha, den Komponisten, der erstmals Darmstadt und den Serialismus erlebte, sich anregen, aber nicht bedingungslos verführen ließ. Sein Sechs-Minuten-Stück „Deux éclats en réflexion“ für Violine und Klavier (1956) atomisiert nicht alle denkbaren Parameter, sondern behält gewisse Gestaltelemente bei, die dem Werk einen gewissen Zusammenhang bewahren. Ernst Kovacic und wieder Marino Formenti war eine hinreißende Wiedergabe zu danken.
Typisch Cerha entstanden auch die „Sechs Inventionen“: Für ein Filmporträt über ihn bat ihn der Regisseur, etwas zum Schein zu komponieren. Cerha mag es nicht, etwas sinnlos hinzukritzeln. So schrieb er ein paar „richtige“ Noten für Geige und Cello, ohne sich dabei ernsthaft etwas zu denken. Am Tag darauf fand er die Skizzen durchaus entwicklungsfähig. So entstanden die sechs sehr kontrastreichen „Inventionen“, die bewusst an Bach anknüpfen, im Klang jedoch bester Cerha sind. Ernst Kovacic und Anssi Karttunen lichteten die naheliegenden polyphonen Linien plastisch auf, versprühten in der finalen Invention glitzernde Virtuosität.
Leider musste die Uraufführung von Cerhas „Neun Bagatellen“ für Streichtrio ausfallen: zwei Musiker des Zebra Trios saßen wegen des isländischen Vulkanausbruchs irgendwo in der Welt fest. Gern aber begegnete man wieder einmal dem Liedkomponisten Cerha. „Eine Art Chansons“ für einen Chansonnier, einen Schlagzeuger, Klavier und Kontrabass, 60 witzig-hintergründige Miniaturen zu Texten von Ernst Jandl, Kurt Schwitters, Gerhard Rühm und anderen begeistern unverändert durch ihren realistischen Bezug, ihre satirische Direktheit, ihre groteske Gestik, durch ihre oftmals unverstellte politisch-gesellschaftliche Aggressivität. Martin Winkler traf die Tonlagen perfekt.
Die österreichische Präsenz in Witten, zu der noch Auftritte des „Wiener Club-Elektronik“ in zwei Nachtprogrammen zählte, verstellte nicht den Blick auf das weitere Programm. Harry Vogt hatte für dieses Jahr wieder einmal den Gedanken des Kammerensembles für die Kammermusiktage ins Zentrum gerückt.
Cerhas Vorliebe für kleine instrumentale Besetzungen, für die er äußerst virtuos und fantasievoll Passendes zu komponieren versteht, war für das Konzept genau der richtige Komponist. Doch Bemerkenswertes steuerten auch zahlreiche Nicht-Österreicher bei. Etwa der Amerikaner Roger Reynolds mit seinem Streichquartett „not forgotten“, in dem er Spuren der Komponisten Xenakis, Elliott und anderen zu einer anspielungsreichen Assemblage verarbeitet. Das für Witten unverzichtbare Arditti Streichquartett spielte das ebenso fulminant wie im selben Konzert das „Cuarteto de cuerdas No. 1“ des in Italien lebenden mexikanischen Komponisten Javier Torres Maldonado: fünf dicht komponierte Sätze, ausgespannt zwischen Verdichtung und Ausdehnung, oft fast mathematisch durchgeordnet wirkend.
Hinreißend ein Abend in Wittens Märkischem Museum. Die Geigerin Carolin Widmann wanderte im Rechteck an vielen Notenpulten um das in der Mitte sitzende Publikum herum, die neuen Études IV, V und V für Violine solo ihres Bruders Jörg Widmann präsentierend (unser Foto auf der vorigen Seite). Die Widmanns werden nicht müde, immer neue Spieltechniken für die Geige zu entdecken und damit auch neue Ausdrucksformen. Carolin Widmann exerzierte das fulminant durch. Sie ist einfach wunderbar.
Und noch drei neue Kompositionen dürfen nicht übersehen werden: Enno Poppes „Speicher I“ für großes Ensemble ist ein komponiertes Plädoyer für genaues und einfache Zuhören und Zugucken. Poppe verabscheut wortreiche Einführungen im Programmheft. „Speicher I“ ist ein sehr amüsantes, fast burleskes Stück Musik. Adriana Hölszkys „Die Hunde des Orion“ für acht Stimmen übersetzt in 23 Abschnitten die Sage des Orion, des Sohns Poseidons und dessen beiden Hunden, die den Stier (Taurus) jagen, zu einer zehnminütigen tönenden Kosmologie. Die Konstellationen des Orion-Sternbildes werden gleichsam kompositorisch durchdekliniert. Das hört sich, wie oft bei Hölszky, sehr spekulativ an, überzeugt dann aber im Endeffekt durch eine Stimmen-Musik von hoher Expressivität und innerer Schönheit. Das Vokalensemble NOVA erwies sich dafür als kompetenter Interpret.
Schließlich noch Salvatore Sciarrinos „Fanofania“ für elf Ausführende: Eine ganz leise, nach Innen gewandte Musik, die nicht den Außeneffekt anstrebt, vielmehr eine Art Offenbarung erwirken möchte. Sie will den Menschen in einen Prozess der Vergeistigung hineinführen, der Spiritualisierung, letztlich der Entmaterialisierung. Das macht nur Sinn, wenn sich der Zuhörer ganz auf die Absichten der Musik einlässt. Beat Furrer und das Klangforum Wien plädierten für Sciarrinos Werk mit ihrer überwältigenden Intensität und feinster klanglicher Ausdifferenzierung.
Dass solche schwierigen Gratwanderungen der Musik möglich werden, ist auch der höhere Sinn eines Festivals wie in Witten.