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Erst kommt die Arbeit, dann die Kultur

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Essen möchte Europas Kulturhauptstadt 2010 werden
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Essen ist leicht zu unterschätzen. Das hat im Verlauf der Bewerbung zur „Kulturhauptstadt 2010“ zunächst Bochum erfahren, als die „Blume im Revier“ (Herbert Grönemeyer) – im Februar 2004 – im ruhrgebietsinternen Wettbewerb der größeren Nachbarstadt den Vortritt lassen musste. Aber auch Köln und Münster haben das erfahren, als sich Essen – im Mai 2004 – in der Konkurrenz um den nordrhein-westfälischen Kandidaten gegen die zweitausend Jahre alte Kulturmetropole und die umtriebige Universitätsstadt durchsetzte, und das mit fünf zu null Stimmen einer unabhängigen, von der Landesregierung eingesetzten Jury. Und dann haben das auch Braunschweig, Bremen, Halle, Karlsruhe, Kassel, Lübeck, Potsdam und Regensburg erfahren, als Essen (gemeinsam mit Görlitz) ihnen – im März 2005 – auf nationaler Ebene das Nachsehen gab.

Essen gibt sich gerne als eine alte Stadt. Erst 2002 feierte es sein 1150-jähriges Jubiläum: 852 hat Bischof Altfrid von Hildesheim hier ein freiweltliches Kanonissenstift für die Töchter des sächsischen Hochadels gegründet. Diese Wurzel aber findet so wenig Beachtung wie die Goldene Madonna, die von Äbtissin Mathilde (971–1011) bei einem unbekannten Kölner Meister in Auftrag gegeben wurde und als älteste vollplastische Marienfigur des Abendlandes den Essener Domschatz überstrahlt. Denn Essen gilt als eine junge Stadt, die groß geworden ist mit der Industrialisierung und von Alfred Krupp (1812–1887) mit dem von seinem Vater Friedrich 1811 gegründeten Unternehmen zur Kanonenschmiede und mächtigsten Gussstahlfabrik der Welt ausgebaut wurde. Von 7.700 im Jahr 1871 explodierte ihre Einwohnerzahl bis 1900 auf 120.000, bis 1925 auf 470.000 und bis 1933 auf 650.000. Ihren Höchststand erreichte sie 1961 mit 750.000, seitdem schrumpft Essen und hat heute 585.000 Einwohner. Mit Krupp und der Kriegsindustrie wird die sechstgrößte deutsche Stadt noch immer identifiziert, und das überlieferte Image der fördernden Bergwerke und rauchenden Schlote beginnt sich, obwohl die letzte Zeche 1986 geschlossen wurde, nur ganz allmählich – und je weiter weg, desto zäher – aufzulösen.

Erst kommt die Arbeit, dann die Kultur: Das gilt im Ruhrgebiet auch historisch. Sein erstes Stadttheater wurde 1892 in Essen eröffnet, wo es der Großindustrielle Friedrich Grillo seiner Vaterstadt zum Geschenk machte. „Schon“ 1864 hatte ein gemeinnütziger Bürgerverein mit dem „Saalbau“ ein städtisches Konzerthaus geschaffen, das städtische Kunstmuseum folgte 1906 und avancierte 1922 durch den Kauf der Sammlung des Hagener Mäzens und Philanthropen Karl Ernst Osthaus zu einer ersten Kunstadresse. Das Revier und gerade auch Essen, seine größte Stadt, sind schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts keine kulturlose Gegend mehr, doch die Arbeit ging vor und bestimmte mit ihren großen, die Landschaft umwälzenden Industrieanlagen Selbst-darstellung und Außenwahrnehmung.

Seit dem Niedergang der Montanindustrie beginnt sich Essen zu wandeln, in den letzten zwanzig Jahren hat keine andere Stadt im Westen kulturell so weit aufgeholt: mit dem Museum Folkwang und dem Folkwang Tanzstudio, mit der 1972 gegründeten Universität und dem Kulturwissenschaftlichen Institut, mit dem Domschatz und der Lichtburg, dem wohl schönsten Kinopalast der 20er-Jahre in Deutschland, vor allem aber mit der Aalto-Oper, die fast dreißig Jahre nach dem Entwurf des finnischen Architekten 1988 errichtet wurde und unter Stefan Soltesz überregionale Ausstrahlung gewonnen hat. Der Strukturwandel ist in Essen weit fortgeschritten: Ein „Ausbildungsbürgertum“ ist nachgewachsen, und auf das produzierende Gewerbe entfallen nur noch 20 Prozent der Arbeitsplätze, 80 Prozent liegen im Dienstleistungsbereich. Nicht mehr Kohle und Stahl bilden die Säulen der Stadt, sondern Energiekonzerne und Branchen der Medizintechnik. Zehn der hundert größten deutschen Unternehmen haben ihren Sitz in Essen.

Doch Essen bewirbt sich nicht allein um den Titel „Kulturhauptstadt 2010“, sondern als „Bannerträger“ für das Ruhrgebiet, einen Ballungsraum mit 5,3 Millionen Einwohnern, der 11 kreisfreie Städte und 4 Kreise mit 53 Kommunen umfasst. Und schon weitet sich das Profil der Bewerbung: um das Schauspielhaus Bochum und das Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg, um die Industriemuseen in Dortmund und Oberhausen, das Bergbaumuseum in Bochum und das Quadrat in Bottrop, das Theater an der Ruhr in Mülheim und das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen, um die Ruhrfestspiele und die Ruhrtriennale. Auch um das Tanztheater von Pina Bausch? Nein, denn Wuppertal gehört, auch wenn hier die Wiege der Industrie steht, nicht zum Ruhrgebiet, doch sind Pina Bausch wie auch mehrere ihrer Tänzer als ehemalige Schüler und Lehrer dem Folkwang Tanzstudio in Essen verbunden.

Das Ruhrgebiet hat anderthalbmal so viele Einwohner wie Berlin, fünf Opernhäuser (Berlin nur drei), sechs Universitäten (Berlin nur drei), drei Vereine in der Bundesliga (und Schalke 04 steht besser als Hertha): Das Ruhrgebiet ist Deutschlands größte Stadt. Stimmt, aber stimmt auch nicht. Denn noch ist es nicht soweit, noch ist die – heftig diskutierte – „Ruhrstadt“ Chimäre und Chance, noch handelt es sich „nur“ um eine Ansammlung von Städten, die vielfach daran gehindert wird, sich als Einheit zu verstehen. Zerschnitten und zugleich gefesselt in drei Regierungsbezirke, zwei Landschaftsverbände, zwei SPD-Parteibezirke und drei WDR-Regionalstudios, ist das Revier eine Agglomeration, aber keine Metropole.

Was ihm dazu fehlt, ist (nicht nur) ein Zentrum. Das Ruhrgebiet hat Defizite an Urbanität und kreativen Milieus, vor allem aber an Organisationsformen, die die gemeinschaftlichen Aufgaben – der Verkehrs- wie der Kulturpolitik, des Flächenmanagements oder der Wirtschaftsförderung – angehen und wirksam kommunizieren. Woran es ihm am meisten gebricht aber ist Selbstbewusstsein. Seine kulturelle Ausstrahlung ist, gemessen an seiner Größe, eher gering, immer noch überdecken die Klischees und die Relikte von Kohle und Stahl die mühsame Realität des Strukturwandels.

Das Revier gleicht einem schlafenden Riesen. Ihn wach zu küssen hat die Kulturhauptstadtbewerbung bereits geschafft und damit einen Prozeß in Gang gesetzt, der die Kirchturmpolitik zu überwinden verspricht. Bisher nämlich sind die Kommunen mit ihrem Kulturangebot als Konkurrenten statt als Kooperationspartner aufgetreten, und so besteht vieles mehrfach und unverbunden nebeneinanderher. Inzwischen wächst, wo Austausch und Zusammenarbeit lange als kommunalpolitischer Verrat galten, die Bereitschaft zu Absprachen, gar zur Arbeitsteilung. Die Pyramide hat eine große Breite, aber nur eine schmale Spitze. Diese Relation beginnt sich allmählich zu verändern, verstärkt auch durch Finanzdruck, Bevölkerungsschwund und ein nachwachsendes Publikum, das sich selbstverständlicher über die Stadtgrenzen hinwegsetzt, wobei die Kulturhauptstadtbewerbung als Klammer wirkt.

Ihr Erfolg hat die Region bereits ein gutes Stück vorangebracht und zu ihrer Einheit beigetragen. Immer mehr Kommunen haben sich angeschlossen und beteiligen sich mit Projekten. Auch die „Flügelstädte“, Dortmund im Osten und Duisburg im Westen, die sich mehr nach außen, nach Westfalen respektive an den Niederrhein ausrichten, ziehen mit: Dortmund mit einem Projekt zur Medienkunst, Duisburg mit Kunst im öffentlichen Raum.

Essen ist nicht zu unterschätzen. Nur vielleicht vom kleinen Görlitz nicht, gegenüber dem es sich erstmals in der Favoritenrolle befindet. Doch auch wenn es dabei, womit nicht zu rechnen ist, den Kürzeren zieht, wird der Impuls, den die Kulturhauptstadtbewerbung angestoßen hat, die Kulturlandschaft des Ruhrgebiets umbauen und sie schärfer profilieren. Gerade die Hinterlassenschaften der alten Industrie haben ihr, vorbereitet durch die Internationale Bauausstellung Emscher Park 1989 bis 1999, neue, unverwechselbare Räume eröffnet.

Kulturhauptstadt wird Essen nur für ein Jahr, aber was die Bewerbung angeregt hat, könnte den erwachten Riesen in die Lage versetzen, seine Muskeln spielen zu lassen. Und die Kultur könnte dabei, gegenüber der allgemeinen Entwicklung, den Vorreiter spielen. Der Weg ist das Ziel.

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