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Europas größte Komponistin – eine Spurensuche

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Neue Biografie über die Komponistin Emilie Mayer – die Autorin Barbara Beuys im Gespräch
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neue musikzeitung: Was hat Sie zu dieser Biografie einer nahezu vergessenen Komponistin bewogen?

Barbara Beuys: Unter den 22 Büchern, die ich in 42 Jahren geschrieben habe, befinden sich seit 2001 acht historische Biografien über Frauen. Eindrucksvolle Persönlichkeiten, die in der von Männern geprägten Geschichte kaum oder keine Würdigung erfahren haben; darunter Malerinnen und Dichterinnen. Beim Nachdenken über ein neues Projekt fiel mir auf, dass Komponistinnen in der Buchlandschaft kaum vertreten sind, von wenigen Namen und der Fachliteratur abgesehen, so sehr sie auch gewachsen ist. Hinter der Entscheidung für Emilie Mayer stand zum einen die Neugier, welche Verbindungen es zum generellen Aufbruch der Frauen im 19. Jahrhundert gibt. Und besonders herausfordernd: Ob es mir als Historikerin gelingen würde, über die bisher extrem spärlichen persönlichen Quellen hinaus Spuren zu finden, die ihr Profil bereichern und schärfen. Die positiven Antworten darauf sind ein wichtiger Bestandteil der Biografie. Hinter jeder Entscheidung für eine historische Person steht aber auch etwas Unwägbares: eine kritische Sympathie, die sich unbewusst bei den ersten tastenden Recherchen einstellt.

nmz: Ein hochbegabtes Mädchen aus Friedland in der Provinz Mecklenburg-Vorpommerns, wie wurde sie entdeckt?

Beuys: Als Emilie Mayer, geboren 1812, fünf Jahre alt war, engagiert ihr Vater, Besitzer der Ratsapotheke in Friedland, für seine Tochter als Klavierlehrer einen angesehenen Kantor und Organisten. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gehört in bürgerlichen Familien Klavierunterricht für Mädchen zum guten Ton. Bei Emilie wurde er zum Startschuss für ein ungewöhnliches Talent: „Nach kurzem Unterrichte componirte ich Variationen, Tänze, kleine Rondos.“ Ihr Lehrer ermutigte sie: „Wenn Du Dir Mühe gibst, kann aus Dir etwas werden.“ Das war sehr ungewöhnlich im Zeitalter der Aufklärung, die Frauen keine Chance gab, ihre künstlerischen Talente zu entfalten.

nmz: Inwiefern hat die Zeit der Aufklärung die Ungleichheit befördert?

Beuys: Sie hat erstmals die Polarisation der Geschlechter als naturgegeben – nicht als sozialen Unterschied wie zuvor – zementiert, mit eindeutiger Rangfolge. „Er die Eiche, sie der Epheu,“ schreibt der Schriftsteller und Verleger Joachim Heinrich Campe 1787 in seinem „Väterlichen Rath für meine Tochter“. Die Grundlage hat ­Jean-Jacques Rousseau, eine Ikone der Aufklärung, gelegt. In seinem Bestseller-Roman „Émile oder Über die Erziehung“ wird 1762 die männliche Identität scharf von der weiblichen getrennt. Der Mann „ist nur in gewissen Augenblicken Mann“, bei der Zeugung – anschließend geht er wieder seinen öffentlichen Geschäften nach. Dagegen ist „die Frau aber ihr Leben lang Frau“ und mit der „Erhaltung der Gattung“ beschäftigt. Für Rousseau war klar, dass diese Rangfolge auch die Künste betrifft: „Die Weiber, im Ganzen genommen, lieben keine einzige Kunst, sind in keiner einzigen Kenner – haben durchaus kein Genie.“

Intellektuelle Elite

Ob Dichter oder Philosophen, Mediziner oder Theologen – die intellektuelle Elite im westlichen Europa machte diese Ideologie zum Fundament von Politik und Gesellschaft bis in unsere Zeit. Der Philosoph Friedrich Schlegel brachte es am Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Formel „Das Weib gebiert Menschen, der Mann das Kunstwerk“. Arthur Schopenhauer folgerte 1851 in seinem Aufsatz „Ueber die Weiber“, die Frau sei „eine Art Mittelstufe, zwischen dem Kinde und dem Manne, welche der eigentliche Mensch ist“. Auch die weibliche Musikausübung war davon betroffen. 1783 schreibt der Pfarrer und Komponist Karl Ludwig Junker: „Es giebt Instrumente, die mehr, andere, die weniger sich fürs Frauenzimmer schicken.“
Zu Letzteren zählten die Geige und das Cello. Möglichst bewegungslos Klavier zu spielen, entsprach der weiblichen Art.

nmz: Und wie ging es weiter mit dem jungen Talent in der Provinz?

Beuys: Überliefert ist, dass in ihrer Jugendzeit Familie und Freundinnen „über das Musik-Genie […] entzückt waren“. Emilie Mayer lebt mit ihrem Vater in der Ratsapotheke, während zwei Brüder selbständige Apotheker werden, einer Arzt. Mehr wissen wir nicht. Es gibt keinerlei persönliche Quellen. Doch erkennbar zieht sich ein roter Faden durch ihr erwachsenes Leben: In entscheidenden Momenten handelt sie bedacht und zielbewusst. Im September 1840 erschießt sich der 77-jährige Vater in der Apotheke. Noch im gleichen Jahr zieht Emilie Mayer, 29 Jahre alt und ledig, nach Stettin und bewirbt sich mit Erfolg bei dem berühmten Carl Loewe, städtischer Musikdirektor, Komponist, als Schülerin. Sie will Komponistin werden.

nmz: Blieb sie ledig für die Musik?

Beuys: Der naturgegebene „Beruf“ einer weiblichen Person war es, Ehefrau und Mutter zu sein. In der Öffentlichkeit hatte sie nichts verloren. Emilie Mayer wusste, bei einer Heirat waren alle Chancen, Komponistin zu werden, dahin. Die einzige ausführliche zeitgenössische Quelle zur Persönlichkeit von Emilie Mayer ist eine zweiteilige „Biographische Skizze“ in der Neuen Berliner Musikzeitung vom 15. und 22. März 1877, verfasst von Elisabeth Sangalli-Marr, eine Schriftstellerin, die sich für die gleichberechtigte Bildung von Frauen einsetzt. Im ersten Satz präzisiert sie ihre Motivation: „Es gehört zu den Seltenheiten auf dem Gebiet der Musik, selbständig gestaltenden Frauen zu begegnen.“ Aber unter den wenigen weiblichen Talenten „steht Emilie Mayer oben an“. Die Autorin kommt schnell zur Sache. Emilie Mayer hat „der Kunst wegen der bindenden Ehefessel entsagt“. Denn für sie gab es eine Alternative zur Ehe: „Sie stempelte die Musik zu ihrem Lebensberuf, indem sie dieselbe als Lebensgefährtin betrachtete, als das Ideal: ihres Liebens, Glaubens, Hoffens.“

nmz: Hatte Emilie Mayer musikalische Vorbilder ?

Beuys: Nein, Emilie Mayer entschied sich für ein Leben als absolute Außenseiterin und wurde quasi Deutschlands erste Berufsmusikerin. Der Musikkritiker Ludwig Rellstab schrieb aus Anlass des 1. Konzerts mit Werken von Emilie Mayer in der Vossischen Zeitung von einem „unicum in der Weltgeschichte“. Zwei ebenso talentierte Zeitgenossinnen, deren Namen im historischen Gedächtnis geblieben sind – Fanny Hensel, geb. Mendelssohn und Clara Schumann, geb. Wieck – sind gescheitert. Vom Vater und dem berühmten Bruder Felix eindringlich auf ihre Rolle als Frau und Mutter hingewiesen, wagte Fanny Hensel erst 1846, ein Jahr vor ihrem Tod, einige wenige ihrer rund 400 Kompositionen zu veröffentlichen. Mit Blick auf seine Frau, die sich zur Komponistin berufen fühlte, schrieb Robert Schumann 1843 ins gemeinsame Ehetagebuch: „Aber Kinder haben und einen immer phantasierenden Mann und componiren, geht nicht zusammen.“ Als ihr Mann 1856 starb, komponierte Clara Schumann ein letztes Werk und trat nur noch als Pianistin auf, um das Werk ihres Mannes zu verbreiten. Ein zeitgenössisches Vorbild hätte es gegeben. Doch Louise Farrenc, Komponistin, Ehefrau, Mutter und Professorin am Pariser Konservatorium lebte in einer anderen, der französischen Musikkultur.

nmz: Wie zeigt sich der Einfluss ihrer Lehrer? Brauchte es Fürsprache, Glück, damit sie als Komponistin Karriere machen konnte?

Beuys: Die früheste Komposition von Emilie Mayer entstand 1842: „Die Fischerin“, Singspiel für Soli, Chor und Orchester, nach einer Vorlage des Werks von Goethe. Es spricht für ihren Lehrer Carl Loewe, dass sie schon im zweiten Lehrjahr ein Reich der Töne schuf, das männliche Alleinansprüche in der Musik ignorierte. Im Singspiel erklingt ein dreistimmiger Posaunensatz, Streichinstrumente haben eine führende Rolle. Instrumente, die für Frauenzimmer unschicklich waren. Diesem Anfang folgte 1846/47 ein weiterer Tabubruch: zwei Sinfonien, die männliche Musik-Form par excellence. Rousseau hatte auch hier die Messlatte angelegt. Frauen könnten in der Musik „kleine Arbeiten gelingen“. Aber „jenes himmlische Feuer, das die ganze Seele erwärmt, jenes Genie, das alles ... mit sich fortreißt“, besäßen nur männliche Künstler.

Mit großem Beifall

Ohne Carl Loewes Zustimmung wären sie nicht aufgeführt worden. Und in Berlin macht der Kritiker Ludwig Rellstab am 4. März 1847 in der Vossischen Zeitung den Musikbetrieb weit über Berlin hinaus darauf aufmerksam, dass „Dlle. Emilie Mayer […] bereits zwei Sinfonien […] geschrieben hat, welche in Stettin durch den Instrumental-Verein mit großem Beifall aufgeführt sind“. Zu den Förderern Loewe und Rellstab kamen zwei weitere hinzu, als Emilie Mayer 1847 nach Berlin ging, um sich bei Adolph Bernhard Marx, dem ersten Professor für Musikwissenschaft, und dem Musikdirektor Wilhelm Wieprecht, Reformer der preußischen Militärmusik, den letzten Schliff als Komponistin zu holen. Alle hat sie offenbar durch ihr Talent überzeugt – und durch ihre kluge Strategie. In ihrer „Biographischen Skizze“ schreibt Elisabeth Sangalli-Marr 1877, es sei Emilie Mayer gelungen, „mit richtigem Takt den Weg, auf dem sie in der Öffentlichkeit zu wandeln hatte“, zu finden. Wissend, dass die Aufführung ihrer Werke und deren Kritik in den Fachzeitschriften total von Männern abhing, trat Emilie Mayer stets freundlich und bescheiden auf. Doch ohne ihren selbstbewussten aktiven Anteil hinter den Kulissen im männlichen Musikbetrieb hätte es ihre Karriere nicht gegeben.

nmz: Gibt es einen Wendepunkt, einen Durchbruch zum Erfolg?

Beuys: Emilie Mayer zog 1850 endgültig von Stettin nach Berlin und begann sofort, ihr erstes Konzert mit ausschließlich eigenen Werken im Saal des Königlichen Schauspielhauses für den 21. April zu organisieren. Eine Konzertagentur gab es nicht, sie musste sich um alles kümmern. Der königliche Hausherr bewilligte auf Anfrage umgehend die Nutzung des Saales, „unendgeltlich“. Noch waren ihre Orchesterwerke nicht gedruckt, also musste die Komponistin Kopien für die Musiker in Auftrag geben, auf eigene Kosten. Vor allem gelang es ihr, für die Aufführung das Orchester „Euterpe“, ein neuer Stern am Berliner Musik­himmel, unter seinem Gründer und Leiter Wilhelm Wieprecht zu gewinnen. Er war offenbar vom Talent seiner Schülerin Emilie Mayer überzeugt und bereit, Komponistinnen in der zeitgenössischen Musik einen gleichberechtigten Platz einzuräumen. Neben einer Ouvertüre für Orchester, einem Streichquartett, Liedern, einem Chor-Werk kam eine neue, die dritte Sinfonie, zur Aufführung. Am 1. Mai 1850 beginnt die Kritik in der Neuen Berliner Musikzeitung mit dem Bekenntnis, die musikalische Arbeit von Emilie Mayer würde nichts „indivduell Weibliches, eigenthümlich Mädchenhaftes“ offenbaren. Nein, „es sind vielmehr gesunde, frisch geschriebene […] recht einnehmende Sätze, welche von […] sicherer Beherrschung des vorhandenen Stoffes zeugen“. Aber dennoch ist eines nicht verhandelbar: Wenn eine Frau sich an die Komposition eines Streichquartetts und einer Sinfonie wagt, kann es sich nur um „einen besonderen, höchst seltenen Fall“ handeln. Der generöse Schluss: „Was weibliche Kräfte, Kräfte zweiter Ordnung, vermögen – das hat Emilie Mayer errungen und widergegeben.“ Es liegen Welten zwischen diesem einschränkenden Lob und der Kritik von Ludwig Rellstab, die strikt nach musikalischen Maßstäben ausgerichtet ist: „Wir dürfen ihre Arbeiten dem Meis­ten, was die junge Welt der Tonkünstler […] heute zu Tage fördert, gleichberechtigt an die Seite stellen …“

In Konkurrenz zu Wagner

Bis 1854 organisiert Emilie Mayer in jedem Frühjahr in Berlin ein Konzert ihrer Werke im Königlichen Schauspielhaus. Mit ihrem Besuch des Konzertes im April 1854 demonstriert die gesamte Königliche Familie, dass nichts die außergewöhnliche Karriere der Komponistin Emilie Mayer mehr aufhalten konnte. Ihr Ruhm sprach sich bis nach Paris herum. Emilie Mayer ruhte sich nicht auf ihren Lorbeeren aus. Mit ihrer „Faust-Ouvertüre für grosses Orchester“, 1879 komponiert, trat die Siebenundsechzigjährige in Konkurrenz zu gleichnamigen Werken von Richard Wagner, Hector Berlioz, Franz Liszt, Robert Schumann. 1880 lässt sie das Werk drucken. 1881, zwei Jahre vor ihrem Tod, erobert Emilie Mayers „Faust-Ouvertüre“ die Konzertsäle, in Deutschland, aber auch jenseits der Grenzen in Karlsbad, Prag und Wien.

nmz: Gab es wichtige Kontakte in der Berliner Musikszene und Gesellschaft?

Beuys: Nach den Lehrjahren bei Carl Loewe entschied sich Emilie Mayer für Berlin als Lebens- und Arbeitsmittelpunkt. Ohne weitere Kontakte und ein breites Kommunikationsnetz wäre der grandiose Erfolg ihres ers­ten Konzertes im Königlichen Schauspielhaus verpufft. Sie hat ihn mit Hauskonzerten unterfüttert. So Anfang April 1854 und dazu „Hörer aus den gebildetsten Musikfreunden Berlins, Frauen und Männer“ eingeladen, wie Ludwig Rellstab in der Vossischen Zeitung berichtet. Die Aufführung „hatte das Eigenthümliche, dass das Programm ganz aus weiblichen Leistungen in der Musik zusammengesetzt war, als entweder die Werke von Frauen herrührten oder doch in den Hauptsachen von denselben ausgeführt wurden“. Der Kritiker enthält sich jeden Kommentars. Neben eigenen Werken, einem Streichquartett, einem Quintett, spielte eine „treffliche Pianistin, Schülerin des Conservatorium“ ein Bach-Konzert und eine Jus­tizrätin Burkhardt trägt Lieder vor. Fräulein Emilie Mayer ist in der Berliner Musikszene angekommen. Von 1862 bis 1875 lebt sie wieder in Stettin und komponiert vor allem Kammermusik. Dann kehrt sie nach Berlin zurück, jetzt Hauptstadt des Deutschen Reiches. Als etablierte Komponistin knüpft sie neue Kontakte, wie die Widmung ihres Notturno d-Moll für Violine und Konzert an Joseph Joachim zeigt. Mit Siebzig hat sie noch Lust auf Neues. 1882 erscheinen im Druck „Sechs Clavierstücke für die Kinderwelt“, von der Neuen Berliner Musikzeitung „auf’s Wärmste“ empfohlen: „Die Componistin zeigt sich hier von einer ganz neuen Seite, sehr einfach, sehr klein, aber auch sehr graziös und geschmackvoll ...“ Gewidmet hat Emilie Mayer es Theodor Kullack, Hofpianist und Gründer der „Neuen Berliner Akademie für Tonkunst“, Deutschlands größtem privaten Musikinstitut. Die beiden kannten sich seit dem gemeinsamen Unterricht bei Professor Adolph Marx. Auch alte Kontakte wollen gepflegt sein. Emilie Mayer war eine aufgeschlossene, lebenskluge Frau.
Das Interview führte Adelheid Krause-Pichler

Buch-Tipp
Barbara Beuys: Emilie Mayer. Europas größte Komponistin. Eine Spurensuche erscheint Ende September im Dittrich-Verlag, 220 Seiten, 22, - Euro, ISBN 978-3947373697
Die Autorin: Barbara Beuys arbeitete nach ihrer Promotion in Geschichte als Redakteurin bei Stern, Merian und DIE ZEIT. Heute lebt sie als freie Autorin in Köln und ist unter anderem Verfasserin etlicher Biografien, darunter über Sophie Scholl, Hildegard von Bingen, Königin Sophie Charlotte oder Asta Nielsen.

 

 

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