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1928: Ein Vierteltonklavier wird montiert. Foto: August Förster GmbH
1928: Ein Vierteltonklavier wird montiert. Foto: August Förster GmbH
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Expeditionen im Klangraum

Untertitel
Der Ultrachromatiker Iwan Wyschnegradsky und sein Vierteltonklavier · Von Hans-Jürgen Schaal
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Erst in den späten 1970er Jahren begann die Musikwelt, Iwan Wyschnegradsky wirklich zu entdecken. In Frankreich und Kanada wurden Konzerte veranstaltet, Berlin lockte mit einem Stipendium als „Composer in Residence“. Der erste Kompositionsauftrag, den Wyschnegradsky in seinem Leben erhielt, war 1979 ein Streichtrio für Radio France. Doch der Komponist starb vor seiner Vollendung.

Die offizielle Umschrift seines russischen Namens – mit „w“ und „sch“ – verrät es bereits: In Deutschland war es, wo Wyschnegradsky erstmals Aufmerksamkeit fand. Anfang der 1920er Jahre traf er, aus Paris kommend, in Berlin mit anderen „Mikrotönern“ zusammen – etwa Willy von Möllendorff, der 1917 ein Bichromatisches Harmonium entwickelt hatte, Jörg Mager, der die Oktave in 72 Töne unterteilte, und Alois Hába, dessen Vierteltonwerke sogar schon auf Neue-Musik-Festivals gespielt wurden. Vor allem mit Hába, dem Tschechen, verstand sich Wyschnegradsky gut – er nannte ihn sein „alter ego“. Den beiden gelang es dann auch, den Klavierhersteller August Förster in Löbau und Georgswalde (heute: Jiríkov) zum Bau eines Viertelton-Instruments zu bewegen. 1929 wurde ein Pianino an Wyschnegradsky in Paris geliefert, ein anderes zu Hába nach Hause. Der große Vierteltonflügel ging ans Konservatorium in Prag, wo Hába unterrichtete.

Die Tastenanordnung beim Förster-Klavier war Wyschnegradskys Idee gewesen. Über beziehungsweise hinter der Klaviertastatur liegt eine zweite Tas­tatur, die auf einen zweiten Klangkörper zugreift. Es sind sozusagen zwei Klaviere in einem, aber sie sind um einen Viertelton verschieden gestimmt. Während die Finger von der ersten Tastatur aus gut auch in die zweite hineingreifen können, ist das andersherum natürlich kaum möglich. Daher – das war Wyschnegradskys cleverer Einfall – liegt hinter der zweiten Tastatur noch eine dritte, die wieder auf den ersten Klangkörper zugreift.

In seiner Begeisterung über das neue Instrument komponierte Wyschnegradsky 1930 in Paris sein erstes vierteltöniges Großwerk, „Ainsi parlait Zarathoustra“. Neben dem Vierteltonklavier (zu 6 Händen!) sieht es Viertelton-Harmonium, Viertelton-Klarinette und Streicher vor. Doch die Begeisterung war nicht von langer Dauer. Während in Prag zwei von Hábas Schülern (Karel Reiner und Miroslav Ponc) das Förster-Klavier meisterten (auch Hábas Landsmann Ervín Schulhoff spielte es), fand sich in Paris kein Pianist, der das komplexe Instrument erlernen wollte. 1936 begann Wyschnegradsky daher, seine Vierteltonwerke umzuarbeiten: für zwei normale, aber um einen Viertelton versetzt gestimmte Klaviere. 1937 erlebte sein „Zarathoustra“ die Uraufführung – in einer Version für vier Klaviere (paarweise gestimmt). Sein Förster-Vierteltonpiano steht heute in Basel.

Pleyel ohne Erfolg

Wie viele russische Komponisten seiner Generation (etwa Prokofjew, Obuchov oder Lourié) war Wyschnegradsky von Skrjabins tonal befreiter Akkordik beeindruckt. In seinem Fall spielte sogar Skrjabins Mystik eine wichtige Rolle. Wyschnegradsky suchte früh in der Musik einen kosmischen Bewusstseinszustand, sprach von sich selbst als einem Gottsucher. 1915 wollte ihn sein Vater deshalb schon in eine psychiatrische Anstalt einweisen lassen. Als Gegengewicht zum Esoterischen hatte Wyschnegradsky zum Glück die Mathematik der Mikrotöne. Schon 1918 soll er mit zwei Klavieren experimentiert haben, die um einen Viertelton verschieden gestimmt waren. Ein Jahr später verbanden sich Mystik und Mikroton in einem Erlebnis, das er seine „ultrachromatische Offenbarung“ nannte. Ihm ging dabei auf, dass alle Frequenzen zusammen ein Klangkontinuum, ein „Fluidum“ bilden, in das die Menschen nur willkürlich ihre Tonstufen setzen. Er hatte die Vision eines stufenlosen Tonraums („Pansonorität“), dem er sich durch immer feinere Mikrotöne schrittweise annähern wollte.

Wyschnegradsky verließ Russland bald nach der Revolution. In seinem Fall geschah es aber nicht aus politischen Gründen. Er ging vielmehr in den Westen, um sich in Paris ein erstes Vierteltonklavier bauen zu lassen. Angeblich wollte er mit diesem Instrument nach Russland zurückkehren und auf ihm ultrachromatische Musik zum Ruhme der jungen Sowjetunion komponieren. Sein Plan ging aber gründlich schief. Die Bemühungen der Klavierfirma Pleyel in Paris blieben ganz unbefriedigend. Das sowjetische Regime wiederum wertete Wyschnegradskys Ausreise als Landesflucht und bürgerte ihn aus – eine Rückkehr war nicht mehr möglich. Daraufhin ließ er sich in Paris nieder, obwohl die Franzosen damals keinerlei Interesse an Vierteltonmusik zeigten. Von 1925 bis zu seinem Tod 1979 lebte er offenbar immer in derselben Pariser Wohnung.

Ätherische Girlanden

Die praktische Umsetzung der Ultrachromatik auf zwei (oder) vier „normale“ Klaviere verhalf Wynschnegradskys Musik zu erster Anerkennung. 1937 fand in Paris ein „Festival de musique à quarts de ton“ statt, das ausschließlich seinen Werken gewidmet war. Kollegen wie Messiaen und Koechlin wurden damals auf ihn aufmerksam. Messiaen schrieb begeistert über Wyschnegradskys Vierteltonmusik: „Hier gibt es nicht nur melodische Konturen, die bislang allein die Hindus kannten und schätzten, sondern auch absolut neues harmonisches Material, das uns Prismen, Akkordcluster, dichtes Geläut und ätherische Girlanden beschert.“

Nach dem Krieg bekam Wyschnegradsky auch von den Kollegen Dutilleux und Ballif Unterstützung. Besondere Beachtung fand 1945 die Uraufführung von „Cosmos“, op. 28, durch vier junge Pianisten, darunter Yvonne Loriod (Messiaens spätere Ehefrau) und der junge Pierre Boulez. Bald darauf wurde Boulez allerdings zum Gegenspieler: Der Serialismus dominierte die Pariser Musikszene so stark, dass Wyschnegradsky kaum mehr Gehör fand. Für ihn waren Ultrachromatik und Serialismus zwei alternative, einander ausschließende Konsequenzen aus dem Ende der traditionellen Tonalität. „Ich kann keine Reihe aus 36 Tönen machen“, sagte er. (Er hatte begonnen, mit Sechsteltönen zu experimentieren.)

Bereits 1932 erschien sein Buch „Manual d’Harmonie à Quarts de Ton“, das die theoretischen Grundlagen seiner Vierteltonmusik erläutert. Anders als manche Mikroton-Konzepte, die sich aus Obertönen und reiner Stimmung ableiten, behält Wyschnegradsky die gleichstufige Temperatur bei. Er halbiert lediglich die gegebenen Halbtonschritte durch zusätzliche Vierteltöne – auch der 7., 11. und 13. Oberton sind nun verfügbar. Dadurch können neue Harmonien und neue Skalen gebaut werden – etwa die 13-tönige „diatonisierte“ Vierteltonleiter, die er 1934 in seinen 24 Präludien op. 22 verwendet. Eine besondere Bedeutung in Wyschnegradskys Konzept haben die um einen Viertelton erhöhte Quart (11 Vierteltonschritte) und die um einen Viertelton erniedrigte Quint (13 Vierteltonschritte) – zusammen ergeben sie die Oktave. Der Komponist arbeitete aber auch mit Alternativen zur Oktave, nämlich mit der großen Sept (11+11 Vierteltonschritte) und der kleinen None (13+13 Vierteltonschritte). Erst 1996 erschien sein theoretisches Hauptwerk „La Loi de la Pansonorité“.

Endziel Klangkontinuum

Sein Ziel, sich durch immer kleinere Intervallschritte einem stufenlosen Tonraum (einem Klangkontinuum) anzunähern, hat Wyschnegradsky nie aus dem Auge verloren. Möglich ist eine solche Annäherung zum Beispiel durch Instrumente mit einem echten Glissando, etwa Violine, Cello, Posaune oder Stimme. In der Tat schrieb Wyschnegradsky schon vor 1920 einzelne Kammerstücke, in denen er für das Streichinstrument eine Mischung aus Ganz-, Halb-, Drittel-, Viertel-, Sechstel- und Achteltönen notiert hat. Ab 1945 verwendete Wyschnegradsky zuweilen drei verschieden gestimmte Klaviere, um Sechsteltöne zu ermöglichen, so in Prélude et Fugue, op. 30, oder in der sehr hörenswerten Étude sur les mouvements rotatoires, op. 45 b. In einem Fall setzte er sogar sechs Klaviere ein: Arc-en-ciel, op. 37, ist ein Zwölfteltonstück, das eine „fortschreitende Verdichtung des Klangraums“ (Barbara Barthelmes) vorführt.

In seinen späten Jahren schrieb Wyschnegradsky gelegentlich für neue Instrumente. Die stufenlos spielbaren Ondes Martenot, ein frühes elektronisches Instrument, das auch Messi­aen schätzte, verwendete er ab 1956 – allerdings nur in Vierteltonwerken. Nach der Begegnung mit dem Mikrotonkomponisten Julián Carrillo komponierte Wyschnegradsky auch für die von Carrillo entwickelten Mikroton-Klaviere. Ihre Tastatur gleicht der normalen Klaviertastatur, doch was auf einem Sechzehnteltonklavier wie eine Quint aussieht, ist nicht einmal ein Halbtonintervall. Das Stück Étude, op. 44b, entstand 1956 für ein Zwölfteltonklavier von Carrillo. Mit Prélude et Danse, op. 48, folgte 1966 auch ein Werk für Carrillos Dritteltonklavier – der Mexikaner hatte ein solches Instrument der Schola Cantorum in Paris geschenkt. Ein Werk, die Étude ultrachromatique, op. 42 (1959), schrieb Wyschnegradsky auch für die Fokker-Orgel, die damals in Haarlem (Niederlande) stand. Diese besondere Orgel hat die Euler-Fokker-Stimmung, deren 31 Tonstufen pro Oktave zugleich rein gestimmt als auch gleichmäßig temperiert sind.

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