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...explose comme un virus...

Untertitel
Der Musiker Erik M · Von Hanno Ehrler
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„Alternativen“ lautete 1997 das Thema der Arbeitstagung des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung. In diesem Kontext stellte die Musikologin Martha Brech unter der Bezeichnung „electronic listening“ elektronisch erzeugte Musik vor, die bis dahin im Neue-Musik-Bereich als weitgehend unbekannt gelten konnte: komplexe Collagen aus Samples und synthetisierten Klängen von Musikern, die aus dem sogenannten U-Musik-Bereich oder der improvisierten Musik kommen.

„Alternativen“ lautete 1997 das Thema der Arbeitstagung des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung. In diesem Kontext stellte die Musikologin Martha Brech unter der Bezeichnung „electronic listening“ elektronisch erzeugte Musik vor, die bis dahin im Neue-Musik-Bereich als weitgehend unbekannt gelten konnte: komplexe Collagen aus Samples und synthetisierten Klängen von Musikern, die aus dem sogenannten U-Musik-Bereich oder der improvisierten Musik kommen.Die von Martha Brech vorgestellten Titel von den Gruppen „Brüsseler Platz 10 A-Musik“, „Mouse on Mars“ oder „Oval“ sowie Stücke von Achim Wollscheid oder DJ Spooky provozierten Widerstand bei den E-Musik-Komponisten. Sie wollten ihre Werke mit den aus spielerischer Improvisation sowie Rock-, Pop- und Techno-Elementen produzierten Musik nicht verglichen sehen, obwohl sie in Bezug auf strukturelle Komplexität, klangliche Avanciertheit und ästhetische Konzepte der zeitgenössischen E-Musik nicht nachstehen. Bis heute hat sich an der Abgrenzung der zeitgenössischen E-Musik gegenüber anderen musikalischen Phänomenen nicht viel geändert. Zwar beginnen sich einige Komponisten zunehmend für Phänomene wie „electronic listening“ (meistens „neue elektronische Musik“ genannt) zu interessieren; Tonsetzer wie etwa Bernhard Lang oder Rolf Riehm greifen beim Komponieren Strukturen und Techniken aus diesem Bereich auf. Aber es fehlt weiterhin an theoretischer Auseinandersetzung damit, auch in Veröffentlichungen über sogenannte U-Musik. Und die „neue elektronische Musik“, die Anfang der 90er-Jahre entstand, erklingt auf Neue-Musik- Veranstaltungen nach wie vor sehr sporadisch und fungiert in der Regel als exotisches Element: in Darmstadt trat „Brüsseler Platz 10 A-Musik“ auf, im WDR die britische Gruppe „Stock, Hausen & Walkman“ und bei den letzten Darmstädter Ferienkursen der Franzose „Erik M“, der zu den wohl interessantesten und avanciertesten Musikern aus diesen Bereich gehört.

Erik M wurde 1970 in der Nähe von Mühlhausen geboren und absolvierte keinerlei musikalische oder akademische Ausbildung. Er begann Bass und E-Gitarre zu spielen und arbeitete seit seinem 17. Lebensjahr mit Rockbands. Dies führte ihn nach Marseille, wo er mit Gruppen spielte, die industriellen, sehr geräuschhaften Rock produzieren. Dort begann er mit Tonbändern und Sampling zu arbeiten, später mit einem Walkman mit Lautstärkepedal und mit Plattenspielern. Heute besteht sein Equipment aus allen möglichen Geräten, Hi-Fi-Komponenten wie Minidisc- und CD-Player, aber auch Low-Fi-Geräte wie tragbare Plattenspieler aus den 60er- und 70er-Jahren. In unterschiedlichen Zusammenstellungen benutzt der Musiker diese Geräte als Instrumente, zum Beispiel eine Gruppe aus vier Plattenspielern oder ein Ensemble aus Plattenspielern, Minidisc- und CD-Playern oder eine um einen Sampler ergänzte Kombination. Dazu kommen Computer, denn neben Sampling von handelsüblichen Tonträgern wie Schallplatten und CDs arbeitet Erik M mit Klangsynthese und
-manipulation. Neben den musikalischen Aktivitäten experimentierte Erik M auch im Bereich bildende Kunst, machte Collagen auf Papier und mit Videos. Dies übertrug er auf die musikalische Arbeit, weshalb viele Stücke komplex und vielschichtig gemixte Collagen aus Klängen sind, die von Tonträgern, aus dem Fernsehen oder dem Radio, manchmal aus der Klangumwelt stammen. Diese Klänge benutzt der Musiker in fragmentisierter, teils stark fragmentisierter Form. Da er das Material jedoch oft unbearbeitet lässt, klingt vieles davon vertraut. Man hört Streicherklänge, Gesangsfetzen, Bruchstücke von Refrains, Sprache, Techno-Rhythmen. Darüber hinaus sind die Stücke mit Neben- und Störgeräuschen durchsetzt, wie sie bei der Verwendung von audiovisuellen Medien zwangsläufig entstehen: Knistern beim Abspielen von Schallplatten, Laufgeräusche der Nadel in den Rillen, Rauschen von alten Aufnahmen oder beim Radioempfang, Geräusche aus dem Computer, zum Beispiel spezifisches Knacken, das Programme für digitale Tonaufnahme und -bearbeitung erzeugen.

Die Geräusche wirkten, so Erik M, wie ein Virus in der Musik, der das Konventionelle und das Gewohnte zum Explodieren bringe. Erik M verwendet Musikklänge und Störklänge gleichermaßen bei der musikalischen Arbeit. Beides repräsentiert das Material, das über audiovisuelle Medien zu hören ist, einerseits Musik- und Sprachaufnahmen aller Art, andererseits technische Störgeräusche und Verzerrungen. Erik Ms Stücke sind daher audiovisuell geprägt, was der Musiker durch Präparierungen der verwendeten Tonträger und Geräte betont und verstärkt, zum Beispiel durch Manipulation der Schallplatten. Einige hat er zerbrochen und wieder zusammengeklebt, andere abgeschliffen, so dass die Oberfläche des Vinyls mehr oder weniger glatt ist und nur noch Spuren der einstigen Rille aufweist; wieder andere sind durch das Versetzen des Mittellochs dezentriert. Schließlich dienen auf Schallplatten aufgeklebte Papierstückchen als Stopper für den Tonarm: er wird regelmäßig an eine bestimmte Stelle zurückgeworfen, so dass Loops entstehen. Ähnlich wie bei minimal-Stücken der E-Musik sind diese Loops kleinere Klangeinheiten, die addiert beziehungsweise repetiert werden. In anderen Stücken greift Erik M auf andere Verfahren zurück: Collagieren, Samplen, Klangsynthese und -bearbeitung per Computer, alles Arbeitsweisen und Kompositionstechniken der avancierten, zeitgenössischen Musik, im Besonderen der elektronischen Musik und der musique concrète. Genau wie diese verwendet Erik M Technologie, Geräte vom Plattenspieler bis zum Computer und Tonmaterial von Umweltaufnahmen über Tonkonserven bis hin zu synthetisiertem Klang. Schließlich hat er eine Notation für seine Musik entwickelt. Er schreibt grafische Partituren, die die Struktur seiner Stücke, die Geräte, die Tonträger und die Effekte auf einer Zeitachse präzise verzeichnen. Mit diesen Partituren kann jeder, der die Geräte und Tonträger besitzt, das jeweilige Stück nachspielen. Daneben verwendet Erik M sein Instrumentarium zum freien Improvisieren. Die Ergebnisse beider Prozesse, der Improvisation und der Komposition klingen dabei sehr verwandt.

Wie auch andere Musiker der „neuen elektronischen Musik“ bezieht Erik M sein musikalisches Material aus dem Bereich der Musikreproduktion, sowohl die „Hardware“ wie Abspielgeräte, Computer und Sampler als auch die „Software“ wie Schallplatten, CDs, Kassetten, Minidiscs sowie Klänge aus Fernseh- und Radiosendungen. Im Gegensatz zur klassischen Collage, wo mit den Bedeutungen und der Herkunft des Materials gespielt wird, interessiert sich Erik M für diese Bedeutungen nur am Rande, obwohl sie ihm durchaus bewusst sind. Das dokumentiert eine neue Haltung zum musikalischen Material, ein Entfernen oder gar Ablösen vom Zwang, das Material, das man verwendet, historisch zu legitimieren.

Im Vordergrund steht nicht mehr die Erfindung und die Formung eines bestimmten Materials, sondern die Nutzung von bereits erfundenem und auf Tonträgern enthaltenem Klang, und zwar in der vollen Breite des akustischen Spektrums. Ein solches Komponieren gleicht weniger kreativem Gestalten, eher einer komplexen Art von kreativem Konsumieren. Es geht nicht mehr primär um konzeptionelles Entwerfen von musikalischer Struktur, sondern um Hören, Reagieren und Zusammenführen von heterogenen Musik-, Klang- und Geräuschfragmenten. Erik Ms Musik ist daher eine Art musique concrète, aber in einem ganz eigenwilligen Sinn. Sie besitzt Elemente der eigentlichen musique conrète, wo musikalische Strukturen aus Aufnahmen der Klangumwelt gebaut werden, und der musique concrète instrumentale, ein Begriff, den Helmut Lachenmann für seine Musik geprägt hat. Er bedeutet das Komponieren mit klassischen Instrumenten, aber mit den Klängen, die beim Tonerzeugungsprozess entstehen, wie Blas- oder Zupfgeräusche, die nicht zum eigentlichen Ton gehören. Musique concrète und musique concrète instrumentale deuten explizit auf Außenwelt, auf akustische Alltagserfahrungen, die unmittelbar in die Musik einbezogen werden. Gleiches gilt für die Arbeit von Erik M. Er benutzt Instrumente, die einem jeden wohlvertraut sind, nämlich Musik-Abspielgeräte. So wie Lachenmann die Nebengeräusche der Instrumente komponiert, so entfaltet Erik M die Eigen-Klänge der Geräte und Tonträger. Er lässt die Geräusche der Abspielnadel eines Plattenspielers zu Gehör kommen, oder er betont die Topografie einer Schallplatte durch Präparierung wie Beschädigung der Oberfläche oder Dezentrierung. Und das auf den Schallplatten gespeicherte Material, meistens Musikaufnahmen, ist einem ähnlichen „Präparierungs“-Prozess unterworfen. Es wird nicht einfach abgebildet, sondern durch diffizile Fragmentisierung und komplexe Verflechtung aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst. Erik Ms musikalische Arbeit bewegt sich nicht in einem abgezirkelten, ausdrücklich der Kunst zugewiesenen Klangraum zeitgenössischen Komponierens, wo akustische Realitäten des Alltags zunächst ausgegrenzt sind, im Gegenteil. Sie bezieht einen gewichtigen Teil der heutigen Musikumwelt mit ein, denjenigen, der vom Musikreproduktionsprozess beherrscht wird, zum Beispiel die allgegenwärtige Musikberieselung, wo Stücke, ganz gleich ob von Bach, Beethoven, Guildo Horn oder Michael Jackson, zum Konsumprodukt funktionalisiert sind. Darüber hinaus hat sie sich von der Bindung an einen bestimmten Klangraum gelöst, an dem die zeitgenössische E-Musik noch haftet. Der technische Stand des klassischen Instrumentariums datiert ins 19. Jahrhundert, ohne dass sich die Veränderungen durch die Entdeckung der Elektrizität vor 200 Jahren darin spiegeln; allenfalls wird live-Elektronik hinzugefügt.

Auch die elektronische E-Musik, in der Klangbegrenzungen aufgehoben scheinen, bewegt sich meistens in einem Kunstraum ohne Einbezug gegenwärtiger Musik- und Klangerfahrungen. Das heißt nicht, dass ein solches Komponieren nicht sinnvoll und ästhetisch spannend sein kann. Vielleicht ermöglicht aber der Blick auf Phänomene der „neuen elektronischen Musik“ den Ermüdungserscheinungen, die in der neuen Musik zu beobachten sind, der zunehmenden Orientierungslosigkeit und der leicht variierten Wiederholung der immer gleichen Kompositionsschemata entgegenzuwirken. Dies scheint um so interessanter, als sich auch bei Rock, Pop und Techno eine Öffnung hin zu avanciertem Komponieren beobachten lässt. Erik Ms musikalischer Werdegang steht exemplarisch dafür ein. Ausgehend von der Rockmusik entwickelte er die Collage-Arbeit mit Samples und begann in den letzten Jahren zunehmend an der Substanz der Klänge selbst zu arbeiten. Er schöpft sein Material aus den Ressourcen von auf Tonträger funktionalisierter Musik, bricht aber die Funktionalisierung auf durch eine derartig differenzierte und komplexe Splitterung und Verschiebung, dass seine Stücke über den Charakter der gemixten Collage hinaus ein eigenes Wesen entwickeln. Dazu tritt dann die Manipulation der Klänge. „Meine Arbeit geht ganz klar mehr und mehr in den Bereich der elektroakustischen Musik, weil ich mehr und mehr an der Textur des Klangs arbeiten will. Ich habe jetzt einen ganz guten Computer, der mir die Möglichkeit bietet, wirklich in das Innere des Materials einzudringen, gewissermaßen in seine molekulare Substanz, in seinen atomaren Kern. Da will ich hin...“ (Erik M in einem Interview mit dem Autor am 2.7.1999 in Marseille)

Anspieltipps:

  • Zygosis, Sonoris SON-06 (Sonoris, 28, rue du Parlament Ste-Catherine, F-33000 Bordeaux)
  • Frame, Metamkine MKCD026 (Metamkine, 20, passage des Ateliers, F-38140 Rives)

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