Mitten im Ersten Weltkrieg erschien 1916 in der Leipziger Insel-Reihe ein schmales Bändchen mit dem Titel „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“. Es war „dem Musiker in Worten Rainer Maria Rilke verehrungsvoll und freundschaftlich“ gewidmet und stieß sofort auf starke Resonanz. Sein Autor, der Pianist und Komponist Ferruccio Busoni, 1866 in Empoli bei Florenz geboren, lebte seit 1894 in seiner Wahlheimat Berlin. Hier hatte er 1906 in deutscher Sprache den „Entwurf“ geschrieben.
Wie sein Vorbild Franz Liszt, stand der vielseitig gebildete Musiker auch mit Schriftstellern und Malern in lebendigem Austausch. Er hatte Rilke 1914 getroffen und mit ihm über Musik diskutiert. Die erste Auflage seines „Entwurfs“ kam 1907 in der damals von Österreich verwalteten multikulturellen Hafenstadt Triest heraus und wurde noch kaum beachtet. Die erweiterte Ausgabe von 1916 führte dagegen zu lebhaften Reaktionen.
Es sei eng geworden in unserem Tonkreis, stereotyp seine Ausdrucksform und sein Klangbild, beklagte Busoni in dieser Schrift. Der bislang existierenden Musik stellte er die „tonliche Unabgegrenztheit“ entgegen. „Lassen wir die Musik“, so träumte er, „der Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die Wette Sonnenstrahlen brechen.“ Dieser skizzenhaft und poetisch formulierte Text war ein utopisches Manifest. Es erstrebte die Freiheit der Tonkunst und meinte damit ihre Freiheit von Gesetzen, Regeln, Formmustern und inhaltlichen Anlehnungen.
Hans Pfitzner, damals Generalmusikdirektor im deutschen Straßburg, bewertete Busonis Freiheitsforderungen als Umsturz der Musikwelt. In seiner 1917 veröffentlichten und danach noch mehrfach nachgedruckten Polemik „Futuristengefahr“ bezeichnete er den Deutsch-Italiener als „Jules Verne“, der einer „Feindgruppe“ angehöre. Als deutscher Patriot bewertete Pfitzner kritisch, dass der Pazifist Busoni im Weltkrieg in die neutrale Schweiz übergesiedelt war. Von dort aus wehrte sich Busoni in einem Offenen Brief gegen die Bezeichnung als Futurist; tatsächlich hatte er in seiner Schrift diesen Begriff nie verwendet und gehörte der italienischen Gruppe auch nicht an.
Arnold Schönberg hatte den „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ schon 1907 erhalten. Der Autor hatte ihm das Bändchen „zur Verständigung“ zugeschickt. Schönberg schätzte den Deutsch-Italiener als ernsthaften und mutigen Künstler. Dessen Anregung, 113 neue Tonarten zu schaffen, hielt er dagegen für ein Hirngespinst. „Die Plage, Hunderte von Skalen auszurechnen, könnte er sich ersparen“, schrieb er 1912 in seiner „Harmonielehre“. „Ich werde mir nicht fünf von seinen Tonarten merken können. Wie soll ich sie aber dann komponieren.“ Pfitzners Polemik regte Schönberg aber an, sich noch einmal intensiver mit dem Bändchen auseinanderzusetzen. Viele von Busonis Gedanken hielt er für ausgezeichnet, weniger jedoch dessen Ideen zur Erweiterung des Tonmaterials: „Busoni überschätzt, aber Pfitzner unterschätzt gewiß den Wert des Materials!“ Das musikalische Material, zu dem er anders als Busoni nicht die Klangfarben der Instrumente zählte, war für Schönberg lediglich „der materielle Vorhof des Geistes“. Zwischen dem Neuerer Busoni und dem konservativen Pfitzner nahm er eine Mittelposition ein. „Wären Parteistandpunkte für mich maßgebend, so wären Pfitzner und Busoni, da sie mir als zwei der wenigen achtenswerten musikalischen Charaktere unserer Zeit erscheinen, meine Partei.“
Freiheit oder Musikbolschewismus
Nach dem katastrophalen Ausgang des Ersten Weltkriegs fiel Elsass-Loth-ringen an Frankreich. Hans Pfitzner musste „seine“ Stadt Straßburg fluchtartig verlassen und betrachtete angesichts der revolutionären Ereignisse in Berlin Busoni als mitverantwortlich für das Ende von Recht und Ordnung. Als Fortsetzung seiner 1917 erschienenen Polemik verfasste er im Sommer 1919 eine Schrift mit dem Titel „Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymptom?“. Obwohl er sich dabei vor allem mit dem Beethoven-Buch Paul Bekkers auseinandersetzte, spielte Pfitzner im Titel erneut auf Busoni an. Diese Schrift provozierte viele Leser, auch den Schönberg-Schüler Alban Berg. Während Schönberg 1917 noch eine Mittelposition zwischen Busoni und Pfitzner eingenommen hatte, betrachtete Berg Pfitzners neueste Polemik als Angriff auf jedes rationale Komponieren. In seinem Aufsatz „Die musikalische Impotenz der ‚neuen Ästhetik‘ Hans Pfitzners“, der im Juni 1920 in den „Musikblättern des Anbruch“ erschien, wies Berg am Beispiel von Schumanns „Träumerei“ nach, dass gute Musik nicht nur aus Einfällen besteht.
Der einflussreiche Frankfurter Musikkritiker Paul Bekker verteidigte Busoni gegen Pfitzner, konnte ihn aber dennoch nicht aus der Schusslinie nehmen. Die Polemik „Neue Ästhetik der musikalischen Impotenz“ fand bei Konservativen und Reaktionären sogar wachsende Zustimmung. Pfitzner hatte neben Busoni das internationale Judentum für den musikalischen und politischen Umsturz verantwortlich gemacht, was der Münchner Musikpublizist Karl Blessinger in seiner Schrift „Die Überwindung der musikalischen Impotenz“ (Stuttgart 1920) zu offen antisemitischen Angriffen ausweitete. Der von Busoni geforderten Freiheit, die auf konservativer Seite als Anarchie galt, stellte er umso vehementer den Begriff der deutschen Musik entgegen. Da die Veröffentlichung von Busonis „Entwurf“ mit dem Weltkrieg zusammenfiel, war diese Schrift in einen Strudel von Ressentiments geraten, aus dem schließlich die fatalen Vorwürfe des Musikbolschewismus und der Entartung hervorgingen.
Der Visionär und seine Erben
Die Befreiung sollte die Musik, so Busoni, zu ihrer „wahren Natur“ zurückführen. „Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Naturwiderscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Unmaterialität.“ Gegen die Herrschaft der Inhaltsästhetik (in der Programm-Musik) und der Formästhetik (in der absoluten Musik) setzte Busoni eine Materialästhetik. Die technischen Möglichkeiten der Instrumente, die begrenzte Fähigkeit der Musiker sowie die Grenzen des Tonsystems galten ihm als Einschränkungen der künstlerischen Freiheit. Der Ballast der Tradition müsse abgeworfen werden, um die Erweiterung des musikalischen Materials zu ermöglichen. Die Musik existiere „vielleicht im allerersten Stadium einer noch unabsehbaren Entwicklung, und wir sprechen von Klassikern und geheiligten Traditionen!“ Die Tonkunst sei kein Greis, sondern ein Kind. „Es schwebt, es berührt nicht die Erde mit ihren Füßen.“
Im „Entwurf“ war die Rede vom „kaleidoskopischen Durcheinanderschütteln von zwölf Halbtönen in der Dreispiegelkammer des Geschmacks“. Damit wurde Busoni ein Wegbereiter der Viertel- und Sechsteltonmusik Alois Hábas sowie anderer Formen mikrotonaler Musik. Er hatte sich selbst ein Dritteltonharmonium bauen lassen, für das er allerdings nie komponierte. Busoni bemühte sich um abstrakte, nichtsemantische Klänge und dachte dabei schon an elektronische Musik, die das herkömmliche Tonsystem zum stufen- und grenzenlosen Klangkontinuum erweiterte. 1906, als er mit dem Schreiben seines „Entwurfs“ begann, hatte er in einer amerikanischen Zeitschrift einen Artikel über das sogenannte „Dynamophone“ gelesen, das dort als eine Quelle neuen Klangmaterials angepriesen wurde. Er kaufte ein solches Gerät, das inzwischen als Vorläufer des Synthesizers und der elektronischen Musik gilt. Neben Leopold Stokowski begeisterte sich auch Edgard Varèse für diese Apparatur. Varèse hatte Busonis „Entwurf“ schon früh kennengelernt und diese Lektüre als einen Meilenstein in seiner Entwicklung bezeichnet: „Als ich an die Stelle kam ‚Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung‘ war es mir, als ob ich das Echo meiner eigenen Gedanken hörte.“ 1907 zog Varèse daraufhin nach Berlin, wo er bis 1914 zum Busoni-Kreis gehörte. Werke wie „Amériques“, „Ecuatorial“ oder „Ionisation“ wären ohne den prägenden Einfluss dieses charismatischen Künstlers nicht denkbar.
Wegbereiter des epischen Theaters
Auch die italienischen Futuristen um Luigi Russolo und Francesco Pratella knüpften mit ihren Bemühungen um eine Emanzipation des Geräuschs an Busonis „Entwurf“ an. Stefan Wolpe, der sich vergeblich um die Aufnahme in dessen Kompositionsklasse bemüht hatte, sollte sich später immer wieder auf Busoni berufen. Kurt Weill, den Busoni als Schüler akzeptierte, hat von seinem Lehrer nicht nur musikalische Ideen übernommen. Von gro-ßem Einfluss war für ihn dessen im „Entwurf“ formulierte Distanzierung vom Illusionstheater: „Der Zuschauer bleibe ungläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen.“ Busoni war damit einer der Wegbereiter des epischen Theaters.
Zu dem Schülerkreis, der sich regelmäßig in der geräumigen Wohnung am Berliner Viktoria-Luise-Platz um den Meister versammelte, gehörten neben Leo Kestenberg, Kurt Weill und Dimitri Mitropoulos auch Philipp Jarnach. Dieser erinnerte sich an das schneeweiße Haar des verehrten Musikers, „eine dicke Mähne, darunter dieses feine Gesicht mit dem frauenhaften Mund und den ausdrucksvollen Augen“. In der Kunst habe er das Absolute, die Vollendung im Blick gehabt. „Er strebte danach mit einer solchen Strenge gegen sich selber und gegen die anderen, daß darin, bei aller Güte, beinahe etwas Unmenschliches lag. Es war etwas Heroisches und auch etwas Aussichtsloses.“
Obwohl Ferruccio Busoni schon 1924 starb und seine Werke danach nur noch unregelmäßig aufgeführt wurden, übte sein „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ eine nachhaltige Wirkung aus. Unter seinem Bann stand auch Morton Feldman. Er war ein Enkelschüler, hatte doch seine Klavierlehrerin, eine russische Emigrantin, in Berlin bei Busoni studiert und ihm immer wieder davon berichtet. Unter ihrem Einfluss spielte Feldman dessen Bach-Bearbeitungen und griff Busonis und Varèses Forderung nach einer befreiten Musik auf. Tatsächlich haben wohl wenige Musik-Manifeste so langfristig gewirkt wie Busonis „Entwurf einer neuen Ästhetik“. Das war nicht zu erahnen, als vor 100 Jahren dieses kleine Insel-Bändchen herauskam.