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Stimme als Instrument; die große Ella 1975 in Antibes. Foto: Hans Kumpf
Stimme als Instrument; die große Ella 1975 in Antibes. Foto: Hans Kumpf
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First Lady of Song und universales Rollenmodell

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Es zählt, wohin du gehst: Ella Fitzgerald zum 100. Geburtstag · Von Marcus A. Woelfle
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Sie war 17, hatte eigentlich Tänzerin werden wollen und eher zufällig als Sängerin einen Wettbewerb gewonnen, als sie im Orchester des Schlagzeugers Chick Webb anfing. Doch der war zunächst skeptisch. Was sollte dieser Teenager, der wesentlich jünger aussah, mit der beinahe kindlichen Stimme singen? Die üblichen Liebeslieder würde man ihr wohl doch nicht abnehmen! Eher aus Verlegenheit fand der erfahrene Bandleader die Erfolgsformel für die bereits 1937 laut Umfrage beliebteste Sängerin: Er sammelte für Ella ein Repertoire lustiger Songs, die oft wie ihr erster großer Hit „A-Tisket, A-Tasket“ im Gewand swingender Kinderlieder daherkamen oder zumindest zu ihrer unschuldig und rein klingenden Stimme passten.

Das Image des witzigen und zugleich bescheidenen Mädchens hat Ella Fitzgerald nie abgelegt. Noch im Alter bekannte sich die „First Lady of Song“ zum Lampenfieber und gab ihrem Publikum darum alles wie in jenen Anfangstagen, als ihr Stil, heute zeitloser Inbegriff des Jazzgesanges, noch eine Novität war. Das war nicht der majestätische Blues einer Bessie Smith oder die zarte Melancholie einer Mildred Bailey, sondern zunächst einmal scheinbar naiv überschäumende Lebensfreude, gepaart mit einem untrüglichen rhythmischen Gespür und einer angenehm natürlichen Stimme.

Die optimistische Heiterkeit ihrer Musik ist aber keine Folge von Naivität und auch nicht der Ausdruck der Zufriedenheit eines vom Rampenlicht verwöhnten Menschen: Als sie Webb erstmals vorgestellt wurde, sah sie so unattraktiv, abgerissen und verwahrlost aus, dass er zunächst nicht daran dachte, sie auch nur anzuhören. Sie war nicht nur ein Waisenmädchen aus ärmlichen Verhältnissen, sondern auch längere Zeit obdachlos gewesen. Unter diesen Vorzeichen erscheint ihr Aufstieg zur Multimillionärin wie ein kleines Wunder: Wie schafft es ein armes schwarzes Waisenkind, das nicht dem herrschenden Schönheitsideal entsprach zum Weltstar zu werden, und dies in einer Zeit, die nicht nur vom Rassismus geprägt war, sondern in der es für Sängerinnen wichtig war, ein Sexsymbol zu sein? Zunächst einmal durch ihr Credo: „It isn’t where you came from, it’s where you’re going that counts.“ Ein Lichtblick in ihrer trüben Kindheit war, dass sie mit Rassenvorurteilen kaum in Berührung kam. Sie war schon 11, als sie erstmals „Nigger“ genannt wurde – von einem Jungen, den sie daraufhin einfach umstieß. So wie sie schwarze und weiße Vorbilder hatte, fand ihr Gesang auch bei schwarz und weiß Anklang. Diese Frau hat sehr bestimmt und ohne Rückgriff auf Rollen- und Rassenklischees Karriere gemacht. Ihr Erfolg ist nicht nur die Verkörperung des amerikanischen Traumes, sie könnte auch von der feministischen Bewegung als frühes Beispiel der Emanzipation auf den Schild gehoben werden. Sie verschaffte sich den gebührenden Respekt, begab sich nicht wie Kolleginnen in die Abhängigkeit ausbeuterischer „Kerle“ und wählte sich souverän ihre Liebhaber. Mit 40 meinte Ella Fitzgerald, auf ihre Karriere zurückblickend: „Immer wenn ich depressiv werde, denke ich, wie glücklich ich eigentlich bin, dass mir Gott etwas gab, um die Leute glücklich zu machen.“ Doch der Depression gab sie in ihrer Musik keine Stimme. Musik war für Ella Fitzgerald eine Quelle unendlicher, purer Freude. Singen war an sich schon ein Wohlgefühl und deshalb entsprach es nicht ihrer musikalischen Auffassung, zusätzliche Emotionen hineinzulegen, die eine Verfälschung dieses erhebenden Grundgefühls dargestellt hätten. Es lag ihr nicht, allzu subjektive Texte auch noch persönlich zu interpretieren, schon gar nicht, wenn in ihnen von negativen Gefühlen die Rede war, etwa Songs, in denen persönliche, gar aggressive Stellungnahme gefordert ist, Lieder, in denen von den Schattenseiten des Lebens und Qualen unerfüllter Liebe die Rede ist (etwa Torch Songs und Blues wie Billie Holiday sie präsentierte). Sie konnte ganz in der Musik und dabei doch außerhalb des Textes bleiben. Ihr Gesang hat ihr oft den Vorwurf der Distanz eingebracht. Doch ihre glühenden Anhänger haben es ihr gedankt, dass sie ihnen lieber reines Glücksgefühl geschenkt hat, als ihnen mit allzu dicken Gefühlen auf den Leib zu rücken.

Versteht man die Grundhaltung, bei der vor allem die Maximierung erzielbaren Glücks zählt, dann erklären sich andere Aspekte ihres Schaffens fast von selbst. „The only thing better than singing is more singing“, hat sie einmal erklärt. Sie konnte, ohne zu ermüden, unzählige Zugaben geben. Es fiel ihr leicht, im Gegensatz zu anderen Sängern, die sich mit jedem Lied ein Stück blutendes Herz aus dem Leib reißen und dann naturgemäß erschöpft sind.

Sie war nahezu unerreicht in ihrem Scat-Gesang, in den sie in den 40er-Jahren von Dizzy Gillespie eingeführt wurde. Hier ging es um das rein Spielerisch-Musikalische. Ungebunden an einen verständlichen Text konnte sie da wie ein Instrumentalist improvisieren und alles allzu Subjektive herauslassen.

Wirkkraft der Melodie

Aus ihrer Grundhaltung versteht sich aber auch das gerade Gegenteil des Scat-Gesangs. Die „First Lady Of Song“ konnte bei Werken aus dem Great American Songbook als interpretierende Persönlichkeit ganz zurücktreten. Bei ihren Einspielungen der Songs von Gershwin, Rodgers & Co nahm sie sich ganz wenige Freiheiten, ließ die natürliche Wirkkraft der Melodie, (fast so) wie der Komponist sie geschrieben hatte, bestehen. Dem freilich immer klar und deutlich artikulierten Text verlieh sie nie größeres Gewicht als der Melodie. Sie vermied es, einen mehrdeutigen Text eindeutig auszulegen. Sie hatte offensichtlich ein Bewusstsein dafür, dass eine zu subjektive Interpretation einem Song nicht nur etwas geben, sondern auch etwas nehmen kann, Mehrdimensionalität durch Eindimensionalität ersetzt. Durch diese noble Zurückhaltung entstanden Interpretationen von beeindruckender Objektivität.

Bing Crosby soll gesagt haben „Man, woman or child, Ella is the greatest of them all.“ Er hat damit nicht nur ein großes Lob ausgesprochen, man könnte ihm unterstellen, er habe dem Gesang der großen Kollegin auch eine gewisse Geschlechtslosigkeit attestiert. In der Tat ist er nicht spezifisch weiblich, jedenfalls nicht in dem Maße, in dem er es bei so vielen großen Sängerinnen ist, so unterschiedlich sie von Dinah Washington bis Helen Merrill auch sein mögen. Ella Fitzgeralds Gesang ist sinnlich, aber nicht eigentlich „sexy“; er nähert sich auch einer gewissen Alterslosigkeit. Anders gewendet: Die Sängerin mit der klaren, weichen Dreioktavenstimme ist ein universales Rollenmodell, ihre Stimme ein Instrument, und das in vielen Sparten.

„Lady Time“

Da sie nicht nur im Jazz zu Hause war, haben selbst namhafte Kritiker in Zweifel gezogen, dass sie eine richtige, eine große Jazzsängerin ist, doch allein schon die enorme Improvisationsfähigkeit und das untrügliche Rhythmusgespür, das der vielleicht swingendsten Sängerin den Ehrentitel „Lady Time“ eingebracht hat, machten sie zur berühmtesten.

Und die vielen kommerziellen Aufnahmen? Ella Fitzgerald gehörte wie Billie Holiday oder Fats Waller zu jenen sängerischen Begabungen, die mühelos Mist in Gold verwandelten. Waller zog musikalische Dutzendware so gnadenlos durch den Kakao, dass er komödiantische Glanznummern daraus machte. Ergreifende Botschaften wurden sie hingegen aus dem Mund von Lady Day, die alles mit so großem Engagement sang, dass ihre Interpretationen wie persönliche Bekenntnisse klangen. Anders Ella Fitzgerald, die über ein ganz anderes Organ verfügte und dem Text keineswegs komische oder potentiell tragische Gehalte abgewinnen musste, um ihn zu veredeln. Der platteste Song passiert bei ihr mühelos die Zensur des kritischen Hörers, weil seine Aufmerksamkeit umso mehr auf das eigentliche Ereignis gelenkt wird: Ellas Gesang an sich. Sie könnte, wie schon einmal jemand passend meinte, das Telefonbuch rauf und runter singen, es minderte unser Vergnügen mitnichten.

Für ihren langjährigen Klavierbegleiter Paul Smith war sie „die Beste mit Abstand. Sie hatte einen unglaublichen Stimmumfang und sang mit glänzender Intonation von den Spitzen zu den Bässen. Ob sie nun eine Ballade sang oder zehn Minuten über How High The Moon scattete, die Noten flossen natürlich, ohne Anstrengung. Ihre große Gabe war ihre Fantasie. Diese unterschied sie sehr von anderen Jazzsängern und erlaubte ihr, sich in so sagenhafter Weise im Scat auszudrücken. Sie dachte wie ein Instrumentalist, aber nicht wie irgendeiner (…) Sie dachte wie ein Trompeter, Posaunist oder Saxophonist, je nachdem, welchen Effekt sie hervorbringen wollte. (…) Wenn sie anfing zu scatten, wusstest du nie, was ihr einfallen würde: Du wusstest nur, es würde hervorragend werden.“

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