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Große Orchesterkonzerte gab es bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in den letzten Jahren nur sehr selten. Zwar waren die größeren Spezialisten-ensembles für zeitgenössische Musik in den neunziger Jahren regelmäßig in Darmstadt vertreten – das Klangforum Wien mit einem umfassenden Projekt zum österreichischen Komponieren oder die Musikfabrik Nordrhein-Westfalen und oft das Ensemble Modern –, doch zeitgenössiche sinfonische Musik war erst zum fünfzigjährigen Jubiläum vor zwei Jahren wieder zu hören.Daß der Kompositionsstand während des zwanzigsten Jahrhunderts aus zumeist solistisch besetzten Werken abzulesen ist, war nicht nur der Tugend klanglicher und satztechnischer Transparenz zuzuschreiben, sondern rührt auch zu einem ebenso großen Teil aus der Notwendigkeit der Suche nach Aufführungsmöglichkeiten. Musikalische Privataufführungen waren mit einem Sinfonieorchester undenkbar. Insofern stehen die staatlichen, städtischen und öffentlich-rechtlichen Institutionen in der Pflicht, die weite Kluft zwischen dem Repertoirebetrieb und der zeitgenössischen Musik zu schließen, wenngleich auch sie mehr und mehr den Gesetzen des Musikmarktes gehorchen.
Das Eröffnungskonzert der Ferienkurse für Neue Musik mit der Radio-Philharmonie Hannover des NDR unter der Leitung von Johannes Kalitzke bestätigte den Erfolg vor zwei Jahren, von einer Tradierung großer Orchesterkonzerte sind die Ferienkurse jedoch weit entfernt. Der seit drei Jahren amtierende Leiter des die Kurse ausrichtenden Internationalen Musikinstituts Darmstadt, Solf Schaefer, setzt hinter gewohnte Traditionen – auch der zeitgenössischen Musik – zuerst einmal ein großes Fragezeichen. Gewissermaßen neu, weil die musikhistorisch und künstlerisch gewichtige Uraufführung von Arnold Schönbergs „Tanz um das goldene Kalb“ aus dessen Oper „Moses und Aron“ im Juli 1951 mit dem damaligen Chor und Orchester des Landestheaters schon viel zu lange her ist, ist die Präsenz eines großen Sinfonieorchesters. Mit Werken von Toshio Hosokawa, Gerald Eckert, Helmut Lachenmann und dem diesjährigen Preisträger des Siemens-Musikpreises, György Kurtág, war ein kompositionstechnisch kontrastives und instrumental farbenreiches Programm zusammengestellt worden, mit dem sich die Ferienkurse musikalisch auf der Höhe der Zeit auswiesen. Hosokawa, Galionsfigur der zeitgenössischen Musik in Japan, ist im Rhein-Main-Gebiet kein unbekannter Komponist. Erst kürzlich wurde in Wiesbaden dessen raumgreifendes Flötenkonzert uraufgeführt. Auch in seinem in Darmstadt gespielten Cello-Konzert wird der Klang bewegungsreich im Raum laviert.
Die Räumlichkeit des Klangs wurde auch in Helmut Lachenmanns „Tableau“ ergründet. Hier dienten einfache Sequenzen, meist Ein- und Zweiklang-Signale, zum Abstecken eines instrumentalen Rahmens innerhalb dessen sich klang-technische Archetypen als rhythmisierte Geräusche oder, je nach ästhetischer Perspektive, als kontextlose Rhetorik einer überzogenen musikalischen Gebärde trafen.
Verschiedene Grade von Nähe und Entfernung thematisierte Gerald Eckert in dem uraufgeführten Orchesterwerk „Nachtschwebe“. Als Schwebezustände wurde der Instrumentalklang immer wieder neu mit perkussiven Mitteln eingefärbt oder abgetönt. Die klangliche Oberfläche des farbenreichen Werks wurde durch die Schlaginstrumente aufgerauht und erhielt reliefartige Strukturen.
Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Musik englischer Komponisten, die seit jeh vom Inseldasein geprägt ist. Daß in der British Library Briefe von Paul McCartney neben Autographen von Alban Berg präsentiert werden zeigt, wie stark in England populäre Musik als traditionelles Kulturgut bewertet wird. So kann die von den Beatles auf Französisch gesungene Strophe in „Michèle“ gewissermaßen als musikalischer Zeittunnel zum Festland-Barock gewertet werden, in dem feudale Herrschaften auf das „e“ noch einen Accent setzten. Bei vielen jüngeren englischen Komponisten, aber auch schon bei der heute mittleren Generation, werden Elemente der Popmusik mit avancierten Klangtechniken nahtlos miteinander verbunden.
So war auch bei den auffallendsten Werken des vom Hessischen Rundfunk veranstalteten britischen Abends der Ferienkurse für Neue Musik mit dem Composers Ensemble und der Stim-menakrobatin Sarah Leonard nicht die stilistische Einheit des Kunstwerks oberstes Kompositionsprinzip, sondern die Integration verschiedener musikalischer Genres. Mit aus dem Jazz stammenden, grummelnden Walking-Bass-Linien, einer an Klezmer-Musik erinnernden Klarinettenstimme und mit dem mit dunkler Gospelfärbung intonierten Gesang in Peter Wiegolds „Like a rope of a thousend fathoms“ über die Dankbarkeit eines erfüllten Lebens wurde somit kein verbindlich-britischer Materialstand exponiert, sondern verschiedene Materialien zu einem unprätentiös und musikantisch vorgetragenen Ensemblewerk zusammengeführt.
Der streckenweise reißerische „Moon Song“ von Philip Cashian nach Versen von Edward Bond war ebenfalls eher dem Idiom der Beggars-Opera verpflichtet.
Ebenso wenig fernab jeden klanglichen Experiments bewegt sich die Musik von Howard Skempton. In seiner ätherischen Windstudie „How slow the wind“ und dem durch etüdenhafte Dur-Drei-klangsbrechung des Cellos naiv – für die Ferienkurse provokativ – wirkenden „Lullaby“ erklingt Musik, die historisch von dem, wie es in der Welt zugeht, nichts weiß und wissen möchte. Schroffere klangliche Gegenden erschlossen hingegen Thomas Adès in seinem stimmlich expressiven und instrumental fast fortschrittlichen Werk „Life Story“ und Jonathan Harvey in dem vokalisenreichen Gesang „You“, in dem der Kontrabaß die Saiten geräuschvoll schnarren ließ. In unseren investorenabhängigen Zeiten der „Event“-Kultur mutet es arg unzeitgemäß an, daß avancierte Künstler aus den unterschiedlichen Bereichen Musik und Videokunst während ganzer zwei Wochen nur damit beschäftigt sind, mit ihren spezifischen Möglichkeiten prozeßhaft ein konzises Gesamtkunstwerk für die Darmstädter Ferienkurse zu gestalten und sich dabei - natürlich - auch menschlich anzunähern.
Mit der konzentrierten Aufführung des vom Komponisten Gerhard Stäbler konzipierten Multimediawerks „[voix (time)]“ mit dem von Dietburg Spohr geleiteten Ensemble „belcanto“ und dem Ensemble Modern wurde nicht nur das komplexe Ergebnis der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Materialien präsentiert, sondern auch die für jede Anregung offene Kommunikation zwischen den beteiligten Künstlern während der zwei Arbeitswochen bestätigt. Gerhard Stäb-lers transparentes Konzept vereint allmähliche Abläufe mit parataktischer Montage. Nach einem vorgegebenen Zeitplan komponierten acht Komponisten aus Korea, Rußland, Deutschland, den USA und Israel fragmenthafte Musiken, die mit den vorgefertigten Videos von Heiko Daxl, Harmut Jahn und Veit-Lup in ein spannungsvolles Verhältnis gebracht wurden.
Durch die letztlich zurückgenommene Gestik der meistens leisen Musiken und durch die Statik der sparsam bewegten Bilder, wird mit der Gruppenkompositon „[voix (time)]“ unsere tägliche Erfahrungswelt auf ein erträgliches Maß heruntergefahren. Schopenhauers pessimistische Weisheit, daß der Wille im Ding steckt und sich endlich auch durchsetzen wird, muß sich nicht immer bewahrheiten.
Freilich geben die Künstler mit ihren Erzählungen auch Rätsel auf. Wer ist der Unsympath, dessen Glatzkopf ständig von unten auf dem Bildschirm erscheint? Hat er die Frau auf dem Gewissen, zu deren Ermordung mit den Besen der typische Krimi-Rhythmus auf den Becken angespielt wurde. Sind die immer wieder eingeblendeten Stimmlippen und geschlossenen Lippen das Symbol des stummen Schreis der Frau als Opfer der Geschichte? Handelt das Stück am Ende von der Vox Humana, deren Rufen nach Menschenwürde in der zappenden Welt draußen keiner mehr hört, und was zählen solche Botschaften heute noch? In Veit-Lups Bildern stemmen Männer Gewichte und fletschen dabei grimmig die Zähne. Der Kontrast dieses martialisch-dumpfen Bildes zur verletzlich intonierten altenglischen Lyrik in dem zarten Vokalfragment von Ernst-August Klötzke könnte nicht größer sein.
Der Japaner Hosokawa war mehrfach präsent und nimmt als künstlerischer Leiter des japanischen Pendants zu Darmstadt, dem Akiyoshidai-Festival, eine Vermittlerrolle zwischen dem Komponieren in Europa und Asien ein. Wie zeitgenössische Gagaku-Musik, die Hosokawa erst während seiner Berliner Studienjahre richtig kennenlernte, klingen kann, führte das in rituellen Gewändern auftretende Ensemble eindrucksvoll vor. Robert HP Platz hat in seinerm Werk „Senko-Hanabi“ für die betörend klingende Mundorgel Sho das asiatische Verständnis vom geräuschumhüllten und oszillierenden Ton zeitvergessen klanglich vergegenwärtigt. Das vom japanischen Hofmusiker Shiba Sukeyasu und dem buddhistischen Priester und Sänger Ebihara Koshin gegründete Ensemble Yusei wurde regelrecht gefeiert.
Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik sind mit der Verleihung des renommierten Kranichsteiner Musikpreises zu Ende gegangen. Solf Schaefer hat mit seinem ästhetisch offenen Konzept der im Biennalenrhythmus stattfindenden Ferienkurse die Weichen für deren künstlerisch ungemindert produktiven Fortbestand gestellt. Das Engagement der Stadt Darmstadt für die in diesem Jahr stilleren, jedoch überaus konzentrierten und künstlerische Inhalte heute fast schon altmodisch vis-á-vis vermittelnden zwei Wochen der Auseinandersetzung mit der letztlich immer noch unpopulären Materie kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Weniger Komponisten und Interpreten vor Ort, dafür aber intensivere gemeinsame Arbeit ließ in Darmstadt wieder so etwas wie Gemeinschaft entstehen ohne damit Schule machen zu wollen. Wichtiges spielte sich so im freundschaftlichen, aber eher traditionelleren Lehrer-Schüler-Verhältnis ab. Statt daß sich möglichst viele Komponisten mit ihren Selbsteinführungen tagsüber am laufenden Band ablösten, waren es jetzt wenige, aber möglichst unterschiedliche Persönlichkeiten der zeitgenössischen Musik, die an mehreren Tagen in den Räumen der Georg-Büchner-Schule richtige Unterweisungen in ihren Tonsatz oder ihre instrumentalen Fertigkeiten gaben und damit die Klassenzimmer zum fliegen brachten.