Als Louis Spohr am 22. Oktober 1859 im Alter von 75 Jahren starb, klagte Johannes Brahms in einem Brief an Bertha Porubszky: „Spohr ist tot! Wohl der Letzte, der noch schöneren Kunstepochen angehörte, als wir jetzt eine durchmachen.“ Was dann folgte, ist eine Lektion über die Vergänglichkeit des Nachruhmes. Der zu Lebzeiten hochverehrte Komponist wurde späterhin zu einer Symbolgestalt für das rückwärtsgewandte Kunstideal des genügsamen, unheroischen Biedermeiers gestempelt. Eine gewisse Verlegenheit im Umgang mit Spohr spricht auch aus diversen Stellungnahmen zum Gedenkjahr 2009.
Erinnert wird an den großen schulbildenden Violinvirtuosen oder an Spohrs Meriten als Orchestererzieher und beherzter Organisator des Musiklebens in der Residenzstadt Kassel. Dort hatte der Hofkapellmeister und spätere Generalmusikdirektor Abonnementskonzerte eingeführt und sich für die Förderung zeitgenössischer Musik stark gemacht, was sich im Juni 1843 sogar in einer frühen Aufführung des „Fliegenden Holländers“ manifestierte. Diese Opernproduktion ist umso verdienstvoller, da Spohr durchaus Vorbehalte gegenüber seinem jüngeren Kollegen hegte, von dem er sich für künftige Werke „etwas mehr harmonischen und melodischen Wohlklang“ erbat.
Um aber auch den Komponisten Spohr zu würdigen, wird häufig die These vom Vorläufer des Musikdramas bemüht, der mit seinem Opernschaffen den Weg von der Nummern-oper zur durchkomponierten Form gebahnt habe. Jedoch vermochte Spohr selbst aus der neu gewonnenen Freiheit keine künstlerischen Funken zu schlagen. In seiner 1823 uraufgeführten Oper „Jessonda“, neben „Der Berggeist“ (1825) gemeinhin als ein Meilenstein seiner Neuerungen angesehen, ersetzt Spohr zwar die gesprochenen Dialoge durch Rezitative von bisweilen arios glühender Ausdrucksintensität, doch fehlt es der Stimmbehandlung insgesamt an präzise charakterisierender Differenzierungskraft. Trotz ein paar farbiger Genreszenen, zu der die in exotische Gefilde verlegte Rettungsoper vortreffliche Gelegenheiten bietet, dominiert auch im Orchestersatz die Glätte eines unerbittlich optimistischen Wohlklangs. Der Versuch, die Bedeutung von Spohrs Œuvre durch den Hinweis auf stilistische Innovationen vornehmlich seiner Bühnenwerke aufzuwerten, erweist sich also als Bumerang. Die musikalische Substanz vermag nicht einzulösen, was die neu gefundene Form verspricht. Das wirft allerdings die generelle Frage auf, ob sich die ästhetische Wertung immer primär von einer in die Geschichte hineinprojizierten Teleologie der Musikentwicklung leiten lassen sollte. Gerade bei Spohr ist es viel naheliegender, sein Werk bewusst als historisches Phänomen, als etwas wirklich Vergangenes aufzufassen – ohne damit sogleich eine Abqualifizierung zu konnotieren.
Man kann Spohrs Musik gleichsam als ein akustisches Zeitgeist-Museum verstehen, bei dem es nicht so sehr darauf ankommt, den Ewigkeitswert oder Aktualitätsgehalt einzelner Exponate zu bestimmen. Das lenkt den Blick zunächst auf die von der Restauration überschattete Biographie des niederdeutschen Komponisten aus Braunschweig. Während der Wiener Kongress 1815 die Wiedereinsetzung der alten Mächte betreibt, reüssiert der liberal gesonnene, junge Spohr als Orchesterdirektor am Theater an der Wien. Die Auswirkungen der Julirevolution 1830 erlebt er als Hofkapellmeister in Kassel, wo Kurfürst Wilhelm II. widerstrebend eine Verfassung unterzeichnet, um sie alsbald wieder systematisch auszuhöhlen. Das Revolutionsjahr 1848 sieht den alternden Komponisten, so will es jedenfalls die Kolportage, auf den in Kassel errichteten Straßenbarrikaden. Verzweifelt muss Spohr den abermaligen Sieg der reaktionären Kräfte mitansehen. Bedenkt man all dies, so bleibt es umso erstaunlicher, dass Spohrs Sympathie, ja Engagement, für den politischen Freiheitskampf keine unmittelbare Resonanz in seiner Musik findet. Der Komponist hält vielmehr unbeirrt an dem musikalischen Gegenmodell einer heiteren und unkomplizierten inneren Idealwelt fest, wie sie von den in schwärmerische Empfindsamkeit einwattierten, blass-goldenen Klängen seines berühmten, 1815 entstandenen Nonetts op. 31 her vertraut ist. Das Reich der Kunst soll rein und unbefleckt bleiben.
Als Jüngling hatte sich Spohr Mozart zum „Idol und Vorbild“ auserkoren. Zunächst war seine Begeisterung so ungestüm, dass er mit dem Vorspiel zu seiner zweiten, von Goethe am Weimarer Hoftheater protegierten Oper „Alruna die Eulenkönigin“ (1808) bewusst ein Stilimitat der Ouvertüre zur „Zauberflöte“ anstrebte, wobei der Vergleich mit dem Original für Spohrs Nachäffung vernichtend ausfällt. Wirklich tonangebend für die weitere Entwicklung Spohrs wird jedoch seine recht eigensinnige Aneignung von Mozarts Schönheitsempfinden. Mozart fordert, dass „die Leidenschaften, heftig oder nicht, niemals bis zum Ekel ausgedrückt sein müssen und die Musik auch in der schaudervollsten Lage niemalen das Ohr beleidigen, sondern noch dabei vergnügen, folglich allzeit Musik bleiben muss“. Diese Ästhetik erfährt bei Spohr oft eine befremdliche Verkleinerung und Verengung hin zu einem mitunter völlig spannungslosen, jede spontane Bewegung scheuenden Komponierstil. Ein typisches Beispiel dafür ist die größtenteils manieristisch gefällige, fast anämische Musik zu dem seinerzeit bejubelten Oratorium „Die letzten Dinge“ (1826). Indessen – als wäre da nicht in diesem Werk zugleich auch die betont elegische, fast gläserne Innerlichkeit des weltentrückten Vokalsatzes „Selig sind die Toten“ zu finden! Es ist, als kehre hier die leidenschaftslose Erschlaffung ihre andere, melancholisch-hintergründige Seite hervor. Dies sind die überaus einprägsamen und bezwingenden Momente Spohrs, wenn plötzlich eine Spur von der ohnmächtig resignativen Grundstimmung des Zeitalters durch das musikalische Gewebe hindurchzuschimmern beginnt. Ohnehin existiert eine unterschwellige, romantisch inspirierte Vorliebe Spohrs für die Nachtseiten der menschlichen Seele, man denke nur an den Stimmungseinbruch des düsteren Adagiosatzes aus dem schon erwähnten Nonett.
Alles Laute, Titanische, offenkundig Verstörende lehnt Spohr entschieden ab. Sogar die Hexenmusik des 1816 uraufgeführten „Faust“ zeichnet ein elfisch-leichtfüßiger und beschwingter, jedenfalls keineswegs dämonischer Charakter aus. Eine kuriose Ausnahme macht nur seine sogenannte „Historische Symphonie“, mit der Spohr beabsichtigt, die Stileigenheiten von vier unterschiedlichen Musikepochen zu portraitieren und teilweise zu karikieren. Von Ferne her erinnert das an die Verfahrensweise, die dann auch Igor Strawinsky bei seiner Pergolesi-Adaptation „Pulcinella“ erprobt hat. Besonders ungewöhnlich an dieser 6. Symphonie ist aber ihr Schlusssatz, eine lärmende kakophonische Verballhornung der von Spohr wenig geschätzten zeitgenössischen Musik von 1840. Noch über 100 Jahre später sollte dieser Satire der Musikschriftsteller Hans Renner auf den Leim gehen, wenn er in seinem 1953 erschienenen Konzertführer Spohr für sein „grausiges Unterfangen“ rügt und dazu erläutert: „Man träumt von ‚Zukunftsmusik‘ und merkt nicht, dass man ein gefährliches Spiel treibt, dass man im Begriff ist, den Boden unter den Füßen zu verlieren.“ Im Œuvre Spohrs bleibt das skurrile Stück ein Sonderling. Die treffendste Beschreibung der künstlerischen Physiognomie des Tonsetzers findet sich hingegen seit jeher im Libretto zu seiner „Jessonda“, wo es über einen der Protagonisten heißt: „Schatten sanfter Trauer zieren seine freundliche Gestalt.“