Klavierunterricht bekommt man frühestens mit fünf, spätestens mit circa zehn Jahren. Nach Beginn der Pubertät ist die Chance vertan. Und von den fünf- bis zehnjährigen Klavierschülern bleiben circa 97 Prozent irgendwann auf der Strecke. Der Rest wird selber Klavierlehrer oder übt in der Adventszeit mühsam „Stille Nacht“ für die stille Nacht.
Das hat sich in den letzten Jahren erkennbar geändert. Mit einem Male entdecken Rentner eine neue Liebe zum Instrument, oder sie reaktivieren eine alte und längst verschüttete Solche. Immer mehr Senioren ziehen eine ungewohnte Plage mit Triolen und Fingersätzen dem Sozialprestige eines Spätstudiums von Psychologie und Kunstgeschichte vor. Sie streben keine späte Karriere an, sie suchen keine Wettbewerbe, und sie wollen es keinen prominenten Vorbildern gleich tun. Bei Kindern und Jugendlichen liegt er auf der Hand: Die Beherrschung eines Musikinstrumentes ermöglicht ästhetische, sensible und kognitive Erfahrung, die dem beginnenden Leben sonst kaum zu gewinnende Werte vermitteln. Und bei Senioren? Eigentlich gibt es keinen wirklichen Unterschied. Nur dass diese Werte einem Lebensabschnitt zugute kommen, der aufgrund unzählbarer anderer Erfahrungen in besonderer Weise aufnahmefähig ist und sich diese Aufnahmefähigkeit nicht erst mühsam erwerben muss. Darüber hinaus werden Instrumentalisten im Seniorenalter zu einer wichtigen Stütze von Musikkultur in unserer Gesellschaft, als anerkannte Vorbilder für Jüngere, als kritische Beobachter musikkultureller Entwicklungen und – nicht zuletzt – als kompetente Abnehmer anspruchsvoller musikkultureller Angebote. Dieter Zimmerschied traf sich mit Ministerialdirigent a.D. Ernst Nisius, ehemaliger Abteilungsleiter im Innenministerium eines deutschen Bundeslandes, und sprach mit ihm über seine praktischen Erfahrungen.
neue musikzeitung: Sie gehören zu dem Personenkreis derer, die man heute allgemein „Senioren“ nennt und die nach dem Ende ihrer Berufsarbeit lohnende Anregungen für ihre Freizeit suchen. Sie sind 77 Jahre alt und spielen heute in einem Amateur-Orchester Violine. Was hat sie bewogen, im Alter von 66 Jahren Violinunterricht zu nehmen?
Ernst Nisius: In meinem Elternhaus wurde viel musiziert. Meine Mutter war eine recht gute Pianistin, und so habe ich immer den Wunsch gehabt, mich musikalisch zu betätigen.Ich habe dann mit dem Klavier angefangen, aber das hielt eigentlich nur bis zum dreizehnten Lebensjahr. Allerdings hat mich der Wunsch zu musizieren eigentlich mein ganzes Leben lang begleitet. So erinnerte ich mich nach meiner Pensionierung an meine Violine, die ungenutzt zu Hause lag. Natürlich musste ich mich fragen, ob ich überhaupt noch eine Chance habe, dieses Instrument jemals zu spielen.
Hätten Sie ohne diese Gege auf dem Speicher vielleicht ein anderes Instrument gewählt?
Die Frage war: Soll ich noch einmal mit dem Klavier beginnen, oder soll ich es lieber mit der Geige versuchen? Den Ausschlag gab die Erkenntnis, dass ich mit dem Klavier nur auf mich alleine angewiesen bin, während mit der Geige doch die Chance besteht, mit anderen gemeinsam zu musizieren.
Jeder Musiker, wann immer er auch mit dem aktiven Musizieren beginnt, entdeckt irgendwann so etwas wie seinen künstlerischen, stilistischen Schwerpunkt. Ist das bei Ihnen auch so?
Mich hat immer besonders Johann Sebastian Bach fasziniert. Außerdem liebe ich, seit ich denken kann, die Wiener Klassik einschließlich Schubert sowie besonders die späte Romantik, etwa Tschaikowsky.
Und wie sieht es mit der Neuen Musik aus?
Auf die Gefahr hin, dass ich Sie hier enttäusche, sie ist nicht so ganz nach meinem Geschmack.
Was geschah, nachdem Sie sich entschlossen hatten, Instrumentalunterricht zu nehmen?
Ich hatte mich nach meiner Pensionierung bemüht, an einer Musikschule anzukommen, aber zu meinem großen Bedauern erhielt ich auf meine Anfrage nicht mal eine Antwort. Und als ich nach sechs Monaten noch mal nachfragte, sagte man mir, man habe für mich keinen geeigneten Lehrer, man wolle aber versuchen, vielleicht demnächst mal einen Lehrer für mich zu finden. Das war natürlich eine recht unbefriedigende Reaktion. An einer anderen Musikschule fand man dann kurzfristig für mich einen älteren Lehrer, der im Prinzip nicht abgeneigt war mich anzunehmen. Zunächst jedoch hatte er große Bedenken, einen Schüler dieses Alters zu unterrichten. Er wies mich darauf hin, dass in meinem Alter beim Geigenspiel sicherlich unter anderem auch große physische Probleme auftauchen könnten.
Habe ich das richtig verstanden? Er hat sie nicht bestärkt in Ihrem Wunsch, sondern er hat gewisse grundsätzliche Bedenken gehabt?
So ist es. Ich musste ihn quasi überreden und ihm vorschlagen, es einmal zwei bis drei Monate mit mir zu versuchen. Und für den Fall, dass wir uns schließlich nicht einigen würden, so vereinbarten wir, wollten wir uns in Freundschaft trennen. Am Ende habe ich dann doch bei diesem Lehrer vier Jahre guten Unterricht erhalten.
Unterrichtete dieser Lehrer auch andere Senioren?
: Meines Wissens nicht.
Dann kamen Sie zu Ihrer Lehrerin, mit der Sie heute noch zusammenarbeiten.
Ich bin jetzt bei ihr im sechsten Jahr. Sie ist, das darf ich sagen, eine hervorragende Pädagogin, und sie hat mich in dieser Zeit ganz erheblich gefördert. Das hat mir die Möglichkeit eröffnet, in einem kleinen Amateur-Orchester mitzuspielen. Ich sitze dort inzwischen am Pult der Zweiten Geigen, und die Literatur, die uns vorgelegt wird, ist, so denke ich, von nicht geringem Anspruch.
Sie haben mittlerweile als Schüler gewisse pädagogische Erfahrungen im Instrumentalunterricht gesammelt. Was würden Sie einem Instrumentallehrer raten, wie er mit Senioren, die bei ihm ein Instrument lernen wollen, umgehen soll? Anders gefragt: Was gehört Ihrer Meinung nach zu einem solchen sehr speziellen pädagogischen Seniorenkonzept?
Zunächst kommt es ganz entschieden darauf an, wie sich das menschliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler gestaltet. Das spielt sicher eine noch größere Rolle als beim Unterrichten von Kindern und Jugendlichen. Diese Sympathie ist meines Erachtens eine Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Unterricht. Denn es handelt sich ja bei Schüler und Lehrer um ausgeprägte Persönlichkeiten, und demgemäß sind natürlich immer bestimmte Empfindlichkeiten vorhanden. Mit 66 Jahren hat man sich im allgemeinen in seinem Beruf schon einmal bestätigt, und nun muss man sich noch einmal total unterordnen. Dafür braucht der Lehrer eine hohe Sensibilität und ein gutes Einfühlungsvermögen, was er diesem „alten“ Schüler menschlich und fachlich zumuten kann.
Sollte der Lehrer eventuell auf altersbedingte nachlassende Kräfte Rücksicht nehmen?
Auf keinen Fall! Ich weiß es nicht nur von mir, sondern auch von gleichaltrigen Mitspielern im Orchester: Gerade Senioren wollen gefordert werden und würden unerwartete Rücksichten auf ihr Alter beinahe als Kränkung empfinden. Dass eine solche Arbeitshaltung im Übrigen auch den jeweiligen Lehrer glücklich machen kann, ist sicher verständlich.
Bereuen Sie es, dass Sie zehn Jahre lang schweißtreibend Geige geübt haben?
Das Wort „schweißtreibend“ ist durchaus passend. Ich muss gestehen, dass ich nur mit einem enormen Zeit- und Kraftaufwand so weit kommen konnte, wie ich heute bin. Ich übe täglich mindestens zwei Stunden, meistens länger. Ich bereue diese Anstrengungen keinen Moment. Nach meinem sehr anstrengenden Beruf, den ich immerhin über 45 Jahre lang ausgeübt habe, hilft mir nun das aktive Musizieren mit der Geige, die neu gewonnene Freizeit befriedigend und glückbringend auszufüllen.
Gibt es Ihrer Meinung nach gegenwärtig ausreichend viele Angebote an Instrumentalunterricht für Senioren?
Nein. Mir ist in der ganzen Zeit meines neuen Musikerdaseins kein entsprechendes von zuständigen Institutionen erarbeitetes pädagogisches Konzept begegnet. Wenn Senioren nicht von sich aus auf eine zeitaufwändige und manchmal frustrierende Suche gehen, haben sie kaum eine entsprechende Chance.