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Marlene Mild in der Titelpartie von Aribert Reimanns „Melusine“ am Staatstheater Nürnberg (2007). Foto: Bettina Stöß
Marlene Mild in der Titelpartie von Aribert Reimanns „Melusine“ am Staatstheater Nürnberg (2007). Foto: Bettina Stöß
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„Ganz anders klang, was ich von euch vernahm“

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Über Gender und Stimme in den Opern Aribert Reimanns · Von Julian Lembke
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„Eine Frauenstimme ist viel flexibler als eine Männerstimme. Diese Feststellung Aribert Reimanns beruht auf über 60 Jahren Erfahrung als Komponist und Liedbegleiter und geht weit über die offensichtlichen Unterschiede wie Klangfarbe und Stimmumfang hinaus. Reimann hinterfragt Geschlechtsidentität und Psychologie seiner Figuren, was sich bis in die musikalische Dramaturgie seiner Werke mitverfolgen lässt. „Die Erfahrung habe ich selbst in meinen 25 Jahren Unterricht gemacht. Ich hatte immer viel mehr Frauen in der Klasse als Männer. Die haben wahnsinnig schnell gelernt, waren sehr bereitwillig, konnten mit der Stimme anders umgehen. Die Männer hatten bis auf wenige Ausnahmen immer keine Lust, waren zu starr oder musikalisch schwächer. Meine Erfahrung war immer für Frauen.“

Reimann, der am 4. März seinen 85. Geburtstag feierte, legt in seinen Bühnenwerken großen Wert darauf, für jede Figur einen eigenen musikalischen Ausdruck zu finden. Für ihn ist es dabei wichtig zu wissen wann er ein Stimmfach einsetzt und warum eine Rolle auf bestimmte Mittel zurückgreift. „Eine Koloraturstimme hat sowohl die Dramatik, wie bei ‚Medea‘, als auch die Weichheit, was bei einer Männerstimme, die sehr festgelegt ist, nur bedingt zutrifft. Ein Bariton hat noch die meisten Variationsmöglichkeiten. Fischer-Dieskau hat das ja nun ganzen Generationen vorgeführt und deswegen ist er für mich nach wie vor der größte Sänger des letzten Jahrhunderts. Die Grenzen kannst du natürlich überspringen, wenn du einen Koloraturtenor hast, was sehr selten vorkommt, wie Ernst Haefliger zum Beispiel, mit dem ich sehr viel gearbeitet habe. Sonst habe ich mich immer zurückgehalten bei den Tenören, weil einer das kann, aber die anderen können es dann eben nicht.“

Androgyne Komponente

Die menschliche Stimme ist ein unfehlbarer Indikator psychischer Merkmale und ein wichtiger Orientierungspunkt für Reimann, der seine Interpreten häufig schon vor Beginn der Komposition kennt. Seit seiner zweiten Oper „Melusine“ (1971) spielt der Komponist dabei bewusst mit Schnittstellen und Gegensätzen der Geschlechter. Im zweiten Akt versucht die Titelfigur den Architekten zum Abbruch der Bauarbeiten des Schlosses in ihrem über alles geliebten Park zu überreden. Durch einen dramaturgischen Kunstgriff erhält diese Rolle eine unerwartet androgyne Komponente. „Das war für mich eben die Idee eines hysterischen Koloratur-Tenors. Der Architekt persifliert. Er ist so verliebt in Melusine, er steigert sich so hinein, dass er ihretwegen alles aufgeben will und alle ihre Koloraturen auf ihn übergehen, so dass sie am Ende gar nicht mehr richtig singt. Aber sie benutzt ihn nur.“ In einem vollkommen anderen Kontext und dieses Mal endgültig verliert sie die Eigenarten ihrer gesanglichen Mittel, die gleichermaßen eine Waffe und Ausdruck ihrer kämpferischen Natur sind, als sie sich in den Grafen verliebt. Diese archetypische Situation von Stimmverlust und Liebesverbot, die darüber hinaus auf eine klassische Geschlechterrollenverteilung eingeht, findet sich unter anderem bereits in Hans Christian Andersens „Die Kleine Meerjungfrau“.

Es bedurfte jedoch mehrerer Produktionen bis eine Reflektion über diesen Aspekt Eingang in die Inszenierungen der Oper fand. Noch 1993 wurde das Werk am Stadttheater Heidelberg als „Öko-Oper“ angekündigt. 2007 zeigte Helen Malkowsky in ihrer Inszenierung am Nürnberger Opernhaus, dass auch eine andere Interpretationsebene denkbar ist. Die schon in der Schauspielvorlage Yvan Golls existierenden Parallelen zur „Lulu“ werden betont, Melusines Gefühl des Ausgeliefertseins an eine von Männern bestimmte Welt herausgearbeitet. Realitätsflucht in papierene Gärten und ein grellbuntes Schloss kontrastiert mit Szenen, die ein Trauma aufleben lassen. Kinderzeichnungen an den kahlen Wänden deuten einen mutmaßlichen Missbrauch an, der selbst in Golls Text gestreift wird, wenn auch unter dem Schleier eines verschrobenen Bühnenhumors. Gleich zu Beginn des Stücks gesteht Melusines mehr oder weniger gegen ihren Willen mit ihr verheirateter Mann Oleander : „Bei Melusine habe ich immer das Gefühl, als sollte ich eine Minderjährige verführen.“ und kurze Zeit später chargiert ihre Mutter : „…ich schicke Ihnen dann ihre Minderjährige.“ Diese Sichtweise rückt Melusines Koloraturausbrüche, die sie im Moment ihrer ersten Liebe einbüßt, in ein neues Licht.

An der Geschlechtergrenze

In seiner 2000 in München uraufgeführten Oper „Bernarda Albas Haus“ nach Federico García Lorca verlegt Reimann die in der Rolle des Architekten vorgestellte an die Geschlechtergrenzen gehende Stimmbehandlung auf die Seite der Frauen. Und einmal mehr assoziiert er eine bestimmte Interpretin mit dem Klang, der ihm vorschwebte. „Die einzigen Partien für Alt, die ich geschrieben habe, sind Hekabe in ‚Troades‘ und Bernarda. Beide hat Helga Dernesch uraufgeführt, die ja eben so eine wahnsinnige Stimme hatte. Damit bist du natürlich auf einen Rollentyp fixiert. Bernarda ist sehr tief. Das hat auch einfach dieses wahnsinnig Herrische. Die Frau ist ja ein Teufel. Warum sie so geworden ist, ich weiß es nicht. Durch ihre Ehen. Und als sie alleine war, hatte sie das Gefühl nun die Herrin zu sein.“ Was den Architekten zu hohen Koloraturen veranlasst, lässt Bernarda immer wieder ins tiefe Regis­ter fallen und alles feminine und emphatische aus ihrer Stimme verbannen. Reimann entzieht ihrem Gesang mehr und mehr Klang bis sie tatsächlich nur noch sprechen und schreien kann.

Zwischen diesen beiden Extremen steht ein Stimmtyp, der Reimann spätestens seit „Lear“ fasziniert und den er als einer der ersten Komponisten des 20. Jahrhunderts auf der Opernbühne einsetzt: der Countertenor. „Das ist die Grauzone. Ein lyrischer Tenor hat das normalerweise nicht. Das müssen die für sich entscheiden. Wenn einer merkt, dass er diese Koloraturen hat, dann baut er das auch aus.“

Sonderfall Countertenor

Bemerkenswert ist, dass alle großen Counter-Partien in Reimanns Bühnenwerken zunächst nur ‚Stimme‘ sind, deren geschlechtliche Zuordnung erst nachträglich stattfindet. Sei es Edgar in „Lear“, der Herold in „Medea“ oder die drei Dienerinnen in „L’Invisible“, ihrer physischen Ankunft gehen ätherisch hinter der Bühne schwebende Linien voraus. Edgar erlebt in der vierten Szene der Oper, die Reimann 1978 zum internationalen Durchbruch verhalf, einen regelrechten Stimmbruch. Während ihm zu Beginn des Werks nur eine kurze, wenig charakteristische Replik zugewiesen ist, entwickelt sich sein Rolle erst als er, vom Bruder verraten und vom Vater verstoßen, teils vorgetäuschtem Wahnsinn verfällt. Im Laufe einer außerhalb des Bühnenraums beginnenden Vokalise muss er die Möglichkeiten seiner neuen Stimme und Persönlichkeit erst ausprobieren. Dieser Rückfall in die vorpubertäre Kopfstimme, der als Pathologie in bestimmten autistischen Verhaltensweisen tatsächlich existiert, nähert ihn noch stärker der Klangwelt Cordelias, seines weiblichen Pendants an. Die beiden Figuren stellen die einzige Wahrheitsinstanz des Stücks dar, und dies trotz ihrer stimmlichen Außenseiterrolle. Auch die durch Lear verstoßene Cordelia muss sich von ihren stotternden Anfängen erst zu den schlussendlich weitgespannten Gesangslinien großer lyrischer Intensität hin entwickeln.

Immer wieder greift Reimann auf die variable Identität des Countertenors zurück um weltfernen Zwitterwesen eine Stimme zu verleihen. Dieser zwischen allen Definitionen hin- und hergleitende Zustand kann in verschiedene Richtungen ausschlagen. Der Herold wird mit einer vornehmlich männlichen Rolle identifiziert, während die Countertenöre in „L’Invisible“ nach einer Stunde physischen Schattendaseins schließlich als Dienerinnen die Bühne betreten, die in ihrer Funktion als Todesboten der Königin die Aufgabe haben, den Jungen Tintagiles zu entführen.

Regieansätze

Die stimmlichen Besonderheiten und das Anderssein einiger von Reimanns Figuren lassen Regisseure die unterschiedlichsten Ansätze verfolgen. Vasily Barkhatov, der die Inszenierung der Uraufführung von „L’Invisible“ 2017 an der Deutschen Oper Berlin übernahm, kleidet die drei Countertenöre in aseptische Müllsäcke, Symbol für die Krankenhausatmosphäre in der er den dritten Teil der Oper ansiedelt, und lässt ihre Schatten als Videoprojektionen furchteinflößend über die Wände kriechen. Für die erste Nachproduktion, 2019 am Staatstheater Braunschweig, wählte die Regisseurin Tatjana Gürbaca hingegen in derselben Szene drei rosafarbene Tutus. „Das geht zu sehr in eine andere Richtung“ reflektiert Reimann, dem oberflächliche Umsetzungen der komplexen Psychologie seiner Figuren fremd sind. Gleiches gilt für die Vorliebe von Regisseuren, Geschlechter oder sexuelle Orientierungen ohne aus der Struktur des Stücks abgeleitete Gründe umzudrehen, in der irrigen Annahme, dies sei ein Zeichen ständiger Austauschbarkeit oder Gleichstellung aller Spielarten. Leonard Prinsloos Inszenierung von „Lear“ an der Neuen Oper Wien versuchte eine ausgeprägt bisexuelle Neigung Edmunds manifest werden zu lassen. Selbst wenn sich eine solche Interpretation in Anbetracht von Edmunds grenzenlosem Verlangen nach Macht und Menschen nachvollziehen lässt, ist dieser Deutungsansatz nur schwer mit Reimanns persönlicher und sehr genauer Figurenführung zu vereinbaren, die für Edmund bei weitem nicht nur reine Gier sondern wirkliche Besessenheit vor allem von Goneril vorsieht.

Vorschläge, Sprechrollen wie den Narren in „Lear“ oder María Josefa in „Bernarda Albas Haus“ mit Schauspielern des jeweils anderen Geschlechts zu besetzen, lehnt Reimann aus dramaturgischen und musikalischen Überlegungen ab. Die Besetzung von „Bernarda Alba“ dekliniert beispielsweise alle weiblichen Stimmfächer vom hohen lyrischen Sopran bis zum dramatischen Alt und der Sprechstimme durch. Ein Großteil der Gewalt des Stücks entsteht durch die Unnachgiebigkeit  dieses in sich geschlossenen Systems, innerhalb dessen der Mann als fixe Idee laufend erwähnt wird, ohne dass jemals einer zu sehen ist.

Jedes Element in Reimanns Opern hat einen strukturellen Grund. „Da spielt der Klang eine große Rolle, aber eben auch das was dahinter steht. Nur der Klang an sich ist mir zu wenig.“ Dieses Andersklingen seiner Figuren ist Teil des Versuchs, dem Selbst inmitten seiner variablen Lebensumstände eine Stimme zu verleihen.

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