Auf der Autofahrt vom Flughafen nach Reykjavik liegt der Nebel wie ein grauer Schleier über der unwirtlichen Lavalandschaft; schon um 17.30 Uhr geht die Sonne unter und taucht die Szenerie in ein düsteres Lichterspiel. Ja, der Name „Dark Music Days“ scheint ganz gut zu passen zu dem einwöchigen Neue-Musik-Festival, das während der dunklen Jahreszeit in Island stattfindet, und das Ende Januar bereits sein 30-jähriges Bestehen begehen konnte.
Das raue Klima und die schroffen Naturgewalten der geologisch noch sehr jungen Vulkaninsel im Nordantlantik sind hier sehr präsent – und sie scheinen auch in der Musik ihre Spuren zu hinterlassen. Dieser Eindruck entsteht jedenfalls beim Konzert mit dem Isländischen Sinfonieorchester unter Leitung von Frank Ollu: Als ein Hauptwerk des Abends erklingt dort die „Saga Sinfonie“ von Jón Leifs (1899–1968), dem Gründervater des isländischen Musiklebens, der nicht nur Figuren und Situationen aus den alten Sagen vertont, sondern in seiner klangmächtigen Orchestersprache zugleich auch die Lebenswirklichkeit auf der Insel porträtiert: Wenn er etwa die Posaunen, Fagotte und tiefen Streicher dissonant wummern lässt, scheint dort eine urwüchsige, untergründige Kraft zu brodeln, die sich jederzeit entladen und emporschießen kann. Ein musikalisches Abbild der eigentümlichen Landschaft, mit ihren Schwefeldämpfen und Geysiren.
Vor der Pause stehen Uraufführungen von drei Komponisten auf dem Programm, deren Werke auf verschiedene Weise bei Leifs anknüpfen:
Hlynur Aðils Vilmarssons „48K“ greift die magmatisch kochende Klangsprache der dunklen Register auf; Hjálmar H. Ragnarsson zoomt in seinem sehr lyrischen „Yfir heiðan morgun“ für Cello und Orchester das Frauen-Porträt aus Leifs’ zweitem Satz noch etwas näher heran.
Mit der klug disponierten Stückauswahl gibt das Sinfoniekonzert bereits einen repräsentativen Einblick in die lebendige isländische Neue-Musik-Szene: Einerseits schimmert bei den „Dark Music Days“ durchaus immer wieder so etwas wie ein nationaler Tonfall (oder zumindest eine gemeinsame Mentalität) durch, andererseits zeigen die Veranstaltungen eine breite Palette ganz unterschiedlicher Klangsprachen, Stile und Generationen.
Für Kjartan Olafsson – künstlerischer Leiter des Festivals – ist diese Vielfalt eine Folge der Ausbildung: „Fast alle isländischen Musiker und Komponisten verbringen einen großen Teil ihres Studiums im Ausland, sei es nun in Europa, USA, Australien oder auch China, und kommen danach zurück. So treffen hier viele ganz unterschiedliche Einflüsse zusammen.“
Seit Olafsson 1997 die Leitung übernommen hat, setzt er sich verstärkt dafür ein, diese Vielfalt in ihrer ganzen Bandbreite abzubilden. „Anstelle die Werke durchzugehen, die wir bereits auf dem Tisch liegen hatten, und zu versuchen herauszufinden, was gut und was schlecht ist, haben wir uns auf wirklich neue Musik konzentriert. Das ist eins der Hauptanliegen, so viele Uraufführungen im Festival zu haben wie möglich.“
Das Konzept scheint aufzugehen. Indem er die jüngere Komponistengeneration vermehrt einbindet, erreicht Olafsson ein erstaunlich bunt gemischtes Publikum: Trotz wirtschaftlicher Krise – die sich allerdings vor Ort eigentlich nur in der Baubranche wirklich dramatisch auswirkt und das kulturelle Leben sogar eher stärkt – kamen rund 3.000 Besucher zu den „Dark Music Days“, also ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Keine schlechte Zahl für ein Festival, das sich der zeitgenössischen Musik widmet.
Dass die 26 Veranstaltungen an unterschiedlichen Orten – vom Kinosaal über Kirchen, Galerien und die Stadtbücherei bis zur Autowerkstatt – auch einige richtig schwache Momente mit sich brachten, ist bei einem so hohen Anteil an Uraufführungen kein Wunder. Um die vorhandenen Verbesserungsmöglichkeiten auszuschöpfen und internationale Kooperationen zu vertiefen, waren dann auch Leiter anderer Festivals aus England, Belgien und Dänemark eingeladen. Doch abgesehen von vereinzelten Hängern, erlebten die Hörer der „Dark Music Days“ eine geballte Ladung Energie und das schier unerschöpfliche kreative Potenzial dieser kleinen, aber äußerst feinen Musikszene: sehr beeindruckend etwa das Recital der vorzüglichen Pianistin Tinna Thorsteinsdóttir mit Werken von sechs Komponisten, die alle 1960 geboren wurden – darunter die hypnotisierende Klangstudie „Glacial Pace“ von Haukur Tómasson und das folkloristisch inspirierte „Stemmur“ von Bára Grímsdóttir. Stark auch der Porträtabend mit dem jungen Komponisten und Dirigenten Daníel Bjarnason, der elektronische und traditionelle Klänge zu einer ganz eigenen Sprache von sinnlicher Melancholie vereint. Ein anrührender Höhepunkt des Festivals war schließlich das Konzert des Chores vom Hamrahlíd Gymnasium, in dessen Klang – durch alle stilistischen Unterschiede des Programms hindurch – wieder dieser isländische Ton aufzuleuchten schien.
Für Dirigentin Thorgerdur Ingólfsdóttir steht die Verbindung mit der Landschaft außer Frage: „Der Horizont ist so weit weg und die Ferne ist so klar, ein Teil davon ist auch in unseren Gedanken. Und das berührt den Klang unserer Stimmen. Ich glaube nicht, dass das nur ein Klischee ist.“