Anders als seine Zeitgenossen war Claudio Monteverdi niemals gänzlich vergessen. Dennoch ist es gerade einmal vierzig Jahre her, dass sein Name kometengleich am Musikhimmel aufging. Initialzündung war die Inszenierung des „Orfeo“, zu der sich der Regisseur Jean-Pierre Ponnelle und der Dirigent Nikolaus Harnoncourt 1975 in Zürich zusammenfanden. Viele Werke Monteverdis – einige der Madrigalbücher durch Raymond Leppard oder der Opern durch Harnoncourt selbst – lagen bereits als Schallplatteneinspielungen vor. Dennoch war es erst diese spektakuläre Bühnenaufführung, die 1977 ihre Fortsetzung mit „Il ritorno d‘Ulisse in patria“ und „L‘incoronazione di Poppea“ fand, die die eigentliche Wiederentdeckung des bis dahin nur in Spezialistenkreisen bekannten Komponisten anstieß.
Heute steht sein Name, gleichberechtigt neben Bach und Händel, als Portalfigur einer Epochenwende, bei der um 1600 die bis dahin vorherrschende Vokalpolyphonie durch das Prinzip des generalbassbegleiteten Konzertierens abgelöst wurde. Aber nicht erst die Nachwelt, schon die Zeitgenossen nahmen ihn – polemisierend wie zustimmend – als Wortführer, Bahnbrecher und Vollender des Neuen wahr.
Monteverdi wurde am 15. Mai 1567 in Cremona, der späteren Metropole des Geigenbaus, geboren. Seine engere Heimat hat er nur bei wenigen Reisen verlassen. Seine späteren langjährigen Wirkungsstätten – 1590 bis 1612 erst als Musiker, dann Hofkapellmeister der Gonzagas in Mantua, 1613 bis zu seinem Tod am 29. November 1643 als Kapellmeister am Markusdom zu Venedig – lagen nahe beieinander. Die ersten Drucke des Heranwachsenden demonstrieren nicht nur seine frühe Meisterschaft, sondern auch die umfassende Ausbildung durch den in Cremona wirkenden Marc’ Antonio Ingegneri. Der junge Monteverdi hatte gelernt, was er später verwarf. Noch 1610 sollte er mit der „Missa in illo tempore“ zeigen, dass er die kontrapunktische Schreibweise nicht nur akademisch nachahmend, sondern in durchaus schöpferischer Anwendung beherrschte – ein Zug, der ihn, über die Jahrhunderte hinweg, mit einem anderen musikalischen Neuerer, Arnold Schönberg, verbindet.
Die Königsgattung der weltlichen Musik im ausgehenden 16. Jahrhundert war das fünfstimmige polyphone Madrigal, das Luca Marenzio, Luzzasco Luzzaschi und schließlich, in esoterischer Übersteigerung der exzessiven Chromatik, der mit Monteverdi gleichaltrige Carlo Gesualdo zu einem letzten Höhepunkt führten. Monteverdi selbst hat zwischen 1587 und 1638 acht Madrigalbücher veröffentlicht und in ihnen eine Revolution vollzogen, die am Ende nichts mehr von der überkommenen Form dieser höfischen Unterhaltungskunst übrig ließ.
Die erotisch-frivolen Madrigaltexte vertreten ein hedonistisches Menschenbild, das in seiner Sinnenfreude vorm Spiel mit dem Zweideutigen nicht zurückschreckt – ein Spiel mit dem Feuer, das das Ungelebte und Unlebbare der damaligen Kultur im Medium der Kunst sublimierte. Wie seine Vorgänger hebt auch Monteverdi auf rhetorisch sprechende Weise Schlüsselworte des Textes musikalisch hervor – im vierten, 1603 erschienenen Madrigalbuch etwa geradezu anzüglich die „mill’ e mille dolci Ohimè“, die „abertausend süßen Ach’s“ des Liebesakts, indem er das „Ohimè“ nicht weniger als neunzehnmal wiederholt.
Verbale Pointierungen, sogenannte „Madrigalismen“, wie sie für den Barock bis weit ins 18. Jahrhundert charakterstisch sind, gehörten zum Ausdrucksrepertoire der Gattung. Bei Monteverdi freilich reagiert die Musik schon früh mit gesteigerter Sensibilität auf den emotionalen Gehalt der Texte. „Der Textvortrag“, heißt es 1605 im Vorwort zum fünften Madrigalbuch, „sei die Herrin des musikalischen Satzes und nicht die Dienerin“ – mit der Konsequenz, dass das Deklamato der Affekte, Emotionen und Leidenschaften den geschlossenen Satz gleichsam von innen heraus aufsprengt. Das hat nicht nur musikgeschichtliche Gründe, sondern ist zugleich Ausdruck eines neuen Weltbildes. Naturwissenschaft und Reformation hatten die Stellung des Menschen im Kosmos tiefgreifend verändert. Selbstbewusst tritt das Individuum Gott und der Welt gegenüber. War es bisher die Aufgabe der Kunst, zu nützen und zu erfreuen, so sollte sie nun das Gemüt bewegen und erschüttern. Nicht mehr die abstrakte, objektive Ordnung des Satzes bestimmt die Musik, sondern die subjektive Wirkung, die sie auf den Hörer ausübt, der sich auf sinnlich erfahrbare Weise unmittelbar, ja persönlich angesprochen fühlen darf.
Die Krise der Form entstand aus der Unvereinbarkeit der Polyphonie mit der Ich-Bezogenheit der Texte. In ihrer latenten Dramatik drängten sie zur Theatralisierung, ja szenischen Darstellung. In seinen beiden letzten Madrigalbüchern, dem 1619 erschienenen siebten sowie dem 1638 erschienenen achten, wird das Madrigal zum Synonym für weltliche Vokalmusik jeder Art – vom akkordbegleiteten Sologesang über liedhafte Canzonetten voll tänzerischer Anmut bis hin zu kleinen theatralischen Werken wie dem berühmten „Combattimento di Tancredi e Clorinda“, dem Zweikampf, in dem der Kreuzritter Tancredi die von ihm geliebte Sarazenin Clorinda tötet, weil er sie unter der Rüstung nicht erkennt. Was die Musik noch mit der Tradition verbindet, ist die durchgängige Thematik der Liebe – sei’s im anzüglichen Liebesgeflüster des Madrigals „Eccomi pronta ai baci“, dessen Witz darin besteht, dass Monteverdi dieses einer Frau in den Mund gelegte unzweideutige Verlangen von drei Männerstimmen singen lässt; sei‘s die klangmalerisch erregten Affekte der „Madrigali guerrieri et amorosi“, wenn er die Liebe mit einem militärischen Waffengang und den Sturm auf die Festung des Herzens mit einem feindlichen Angriff gleichsetzt: „Ogni amante è guerrier“/„Jeder Liebende ist ein Krieger“.
Eines der berühmtesten Madrigale, das „Lamento della Ninfa“, schildert einen theatralen Vorgang, den man sich ohne weiteres als eine kleine Opernszene vorstellen kann. Eine von ihrem Geliebten verlassene Nymphe beklagt sich bei Gott Amor über seine Untreue und wird dabei von drei Männerstimmen mitleidend kommentiert. Im Zentrum steht die Klage der Nymphe – eine getragene Melodie voll schwereloser Trauer über dem gleichbleibend wiederholten, lamentotypisch absteigenden Quartgang im Bass. Den kommentierenden Refrain singen die Männerstimmen, denen auch der rahmende Bericht zu Beginn und am Ende der Klage zufällt. Auf diese Weise verbindet Monteverdi den Opernstil mit der Madrigaltradition.
Begründer der Oper
So ist es auch kein Zufall, dass Monteverdi trotz der florentinischen Vorläufer mit seinem 1607 in Mantua aufgeführten „Orfeo“ als der eigentliche Begründer der Oper gelten darf. Im Unterschied zu Jacopo Peris und Giulio Caccinis „Euridice“-Opern beschränkt sich sein „Orfeo“ nicht auf das Pastoraldrama, sondern zeigt einen Handlungsbogen, der vom Hochzeitsglück des Paares über den Tod Euridices, Orfeos Gang in die Unterwelt, der Wiedergewinnung Euridices und ihrem endgültigen Verlust bis zur Erhebung des Trauernden in den Götterhimmel reicht. Weit ist auch die stilistische Vielfalt. Zwar „sprechen“, wie ein Mantuaner Höfling vermerkte, „alle Darsteller in Musik“. Aber Lieder, Chöre und Tänze lockern den Sprechtonfall des rezitierenden Singens auf. Vor allem aber kommt es zu dramatisch bewegenden Szenen – im schockhaften Auftritt der Todesbotin, in Orfeos gleichermaßen vokal virtuosem wie berührendem Versuch, in die Unterwelt einzudringen, nicht zuletzt seinem schmerzlichen Todeswunsch. Farbenreich agiert auch das umfangreiche Orchester, das die diversen Instrumente und ihre Timbres szenisch einsetzt – Blockflöten für die Hirten, Harfen, Streicher und Zinken zur Begleitung von Orfeos Bittgesang an Caronte, Posaunen und Orgel für die Unterwelt. „Ohne Monteverdis Ideen“, so Silke Leopold, „wäre das zarte Pflänzchen Oper (…) wohl bald wieder verdorrt und als ein interessantes, aber kaum tragfähiges Experiment in die Musikgeschichte eingegangen.“
Während der „Orfeo“ in zwei Partiturdrucken überliefert ist, ging die Musik zu „L’Arianna“ verloren – mit Ausnahme des Lamentos „Lasciate mi morire“, Monteverdis wohl berühmtestem Schlager, der zugleich als vollkommenste Verwirklichung des „parlar cantando“, des singenden Redens und damit des neuen, rhetorisch-gestisch den Sprechtonfall nachahmenden Gesangsstils gelten kann. Was später Reformer wie Gluck und Wagner neu zu erfinden glaubten, findet sich schon hier. Aber auch der italienische Belcanto – Bellini verwendet „sprechen“ und „singen“ synonym, Donizetti definiert den Gesang als eine „lediglich durch Töne verdeutlichte Deklamation“ – hält an diesem Prinzip fest, Verdi, der seine Sänger auffordert, „nicht so sehr den Noten als den Worten Bedeutung zu geben“, ohnehin.
1610 erschien der Papst Paul V. gewidmete Sammeldruck geistlicher Werke, für die sich die Bezeichnung „Marienvesper“ eingebürgert hat. Mit seiner Mischung disparater Stile und unterschiedlicher Formen – neben einer polyphonen A-Cappella-Messe vierzehn konzertierende Stücke im neuen Stil – gibt er noch immer Rätsel auf. Man vermutet, dass der in Mantua Unzufriedene sich mit diesem Prestige-Druck, der seine Fähigkeiten auch als Kirchenkomponist unter Beweis stellt, neue Perspektiven, vielleicht sogar eine Berufung nach Rom eröffnen wollte. Die „Marienvesper“ gehört heute neben Bachs in ihrer Kompilation wie liturgischen Bestimmung ähnlich rätselhaften „H-Moll-Messe“ zu den meistaufgeführten oratorischen Großwerken – faszinierend in ihrer opernhaften Sinnlichkeit, etwa in den drei geringstimmig besetzten Concerti, die wie kleine Theaterszenen alle Affekte der Madrigalkunst übernehmen und doch ihren religiösen Charakter nicht verlieren.
Ungehobener Schatz
Gewiss dürfte dieser Druck den Ausschlag gegeben haben für Monteverdis Verpflichtung als Kapellmeister am venezianischen Markusdom. Gerade darum überrascht es, dass er erst 1641 mit der „Selva morale e spirituale“ eine weitere retrospektive Sammlung seiner geistlichen Vokalmusik veranstaltete. Mehr noch als die „Marienvesper“ ist auch die „Selva“ ein Kompendium unterschiedlicher Formen und Setzweisen. Den Beschluss macht der „Pianto alla Madonna“, die geistliche Kontrafaktur des „Lamento d’Arianna“. Die „Selva“ (‚Wald‘) ist ein ungehobener Schatz, denn es ist ihr bis heute nicht gelungen, aus dem Schatten der „Marienvesper“ zu treten.
Überschattet wird das geistliche Spätwerk vor allem durch die Rückkehr des greisen Monteverdi zur Bühne. Wie seine Briefe zeigen, hat er auch nach 1613 mehrfach Opernpläne für Mantua diskutiert, aber keiner kam zur Ausführung. Erst die Öffnung der venezianischen Theater für ein zahlendes Publikum scheint ihn umgestimmt zu haben. Aber nun dient die Oper nicht mehr wie einst in Mantua beim „Orfeo“ der aristokratisch-höfischen Verherrlichung eines Fürsten, sondern der Unterhaltung der während des Karnevals in großen Scharen in die Serenissima strömenden Besucher. Deren Interesse galt den Sängern und einer spektakulären, opulenten Bühnenausstattung. An Chor und Orchester wurde gespart, eine Continuo-Gruppe zur Ausführung der Basslinie genügte – was auch erklärt, warum die Musik nur in gleichsam karger Kurzschrift notiert ist.
Als Monteverdi 1617 aufgefordert wurde, die Meeresfabel „Le nozze di Tetide“ zu vertonen, erklärte er, mit diesem Text nichts anfangen zu können, weil die handelnden Personen keine Menschen, sondern Amoretten, Winde und Sirenen seien. Nur ein menschliches Schicksal sei geeignet, die Herzen zu bewegen. In den beiden aus seinen letzten Lebensjahren überlieferten venezianischen Opern – „Il ritorno d’Ulisse in Patria“/„Die Heimkehr des Odysseus“ (1641) und „L’incoronazione di Poppea“/„Die Krönung der Poppea“ (1643), die Musik einer dritten ist verloren – steht die musikalische Menschendarstellung im Mittelpunkt des Geschehens. Im „Ulisse“ mit seinem strengen Ernst ist es die seit zwanzig Jahren auf die Heimkehr ihres Gemahls aus dem Trojanischen Krieg wartende Penelope. Ihr großes, in freier Rezitation deklamiertes Lamento gleich zu Beginn und dessen karikaturistisch verzerrte „Lachnummer“ in der Klage des Vielfraßes Iro, dem mit der Niederlage der Freier die Felle davonschwimmen, sind von einer psychologischen Tiefenschärfe, wie sie erst Händel wieder erreicht.
Noch einen Schritt weiter geht Monteverdi beim historisch verbürgten Stoff der Liebschaft des römischen Kaisers Nero zur berechnenden Aufsteigerin Poppea. Voller Zynismus verherrlicht er die ehebrecherische Liebe der beiden mit geradezu betörenden Klängen (auch wenn das hinreißende Schlussduett eine spätere Zutat ist und nicht von ihm stammt). Keine der Figuren, nicht der weibische, von einem Kastraten gesungene Nero, nicht die verstoßene Kaiserin Ottavia, nicht Poppeas weinerlicher Gatte Ottone, nicht die von einem Mann personifizierte Amme Arnalta, ja nicht einmal der zum Selbstmord gezwungene Seneca entgeht dem entlarvenden Blick, als wollte Monteverdi der eigenen Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Dennoch war die „Poppea“ ein Erfolg und hat mit ihrer Mischung aus hohen und niederen Figuren, deklamierenden Soli und ausgelassenen strophischen Tanzliedern das Modell für die venezianische Oper der zweiten Jahrhunderthälfte bereit- gestellt. Die Individualität, die sich im Pathos wie in der Frivolität gleichermaßen ausdrückt, sollte diese jedoch schnell wieder verlieren. Erst Mozart hat den Menschen wieder mit dieser Mischung aus Radikalität und Kunstfertigkeit auf die Bühne gestellt.
Für den 1632 zum Priester geweihten Markusdom-Kapellmeister scheint zwischen dem persönlichen Glaubensbekenntnis der „Selva morale e spirituale“ und der weltlichen Theaterlust kein Gegensatz bestanden zu haben. Die selbstbewusste Subjektivität des Barockzeitalters spricht sich in den geistlichen Kompositionen nicht weniger bestimmend aus als in den weltlichen Madrigalen und Opern. Mit ihrer emotionalen Intensität beschwört seine Musik allemal ein Theater der Sinne, das sich ans Ohr, aber auch an das Auge richtet.
Einen Überblick zu Neuerscheinungen auf CD finden Sie auf Seite 5, Rezensionen zu Buchveröffentlichungen auf Seite 13 dieser Ausgabe.