Das Musikleben der USA hat im 20. Jahrhundert einen wesentlichen Aufschwung erfahren; einige im Lande geborene Komponisten erlangten eine solche Bedeutung, dass ihre Werke auch auf die so genannte Alte Welt ausstrahlten und dort Spuren hinterließen. Zu diesen Meistern zählen in erster Linie Charles Ives, Henry Cowell, John Cage, Morton Feldman, George Crumb, Steve Reich und Conlon Nancarrow. Mit Ausnahme von Steve Reich traten alle anderen Komponisten mit einer Reihe von Klavierwerken an die Öffentlichkeit.
In Henry Cowells Schaffen bilden die frühen, bis etwa 1930 entstandenen experimentellen Klavierstücke den wichtigsten Werkanteil. Hier entwickelte er bis dahin unbekannte Notationsarten und arbeitete mit neuen Spielweisen wie mit Clustern und Fingerspiel an den Saiten des Instruments. Das Werk von Nancarrow besteht im Wesentlichen aus den „Studies for Player Piano“; mit Hilfe dieses von ihm vorprogrammierten, mechanisch arbeitenden Instruments hat er eine rhythmische Komplexität erzeugt, die für Interpreten unspielbar ist.
Im äußerst vielfältigen und vielfarbigen Werkkatalog von John Cage nehmen Klavierstücke einen beträchtlichen Raum ein. Unter diesen findet sich ein großer Anteil von solchen, die für prepared piano (präpariertes Klavier) geschrieben wurden: An den Saiten des Instruments werden bestimmte Gegenstände wie Gummikeile, Schrauben unterschiedlicher Größe oder Filzstreifen angebracht, um den Klang zu verfremden und um neue Tonhöhen und Tonfärbungen zu erzeugen. Cage hat seit Ende der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts mit solchen Mitteln experimentiert; was seine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Möglichkeiten der Instrumentenbehandlung und der Klangerzeugung erkennen lässt.
Anregungen hatte er einerseits bei seiner Beschäftigung mit ostasiatischen Kulturen, andererseits bei der Zusammenarbeit mit seinem Lehrer Henry Cowell gefunden. Cage schrieb über diesen: „Ich habe ihn oft auf einem Flügel spielen gehört, wobei er dessen Klang durch Zupfen und Dämpfen der Saiten mit den Fingern und der ganzen Hand geändert hat. Bei einem anderen Stück benutzte er einen Stopfpilz, den er der Länge nach über die Saiten bewegte, während er, wie ich mich erinnere, auf der Tastatur trillerte. Dies produzierte ein Glissando der Obertöne.“1
In manchen Stücken für prepared piano werden alle Töne präpariert, in anderen nur einzelne. Für jedes Stück liefert Cage eine Tabelle, in der verzeichnet ist, mit welchem Material welche Saiten an welcher Stelle versehen werden sollen. Dabei ist eine gewisse, vom Komponisten eingeplante Unbestimmtheit nie auszuschließen; dies liegt sowohl an seiner Ungenauigkeit in der Beschreibung des Materials als auch in der unterschiedlichen Größe und Bauweise der Instrumente. Jeder muss sich die Materialien mit seinen eigenen Ohren aussuchen2 hat Cage mir sinngemäß gesagt, nachdem ich in einem Konzert bei Radio Bremen seine „Music for Marcel Duchamp“ aufgeführt hatte. Stücke für präpariertes Klavier von John Cage waren viele Jahre lang nur in sehr teuren Einzelausgaben auf dem Markt. Erfreulicherweise hat die Edition Peters jetzt zwei preiswertere Sammelbände von je zirka 80 Seiten Umfang veröffentlicht, in denen zwischen 1940 und 1947 entstandene „Prepared Piano Music“ zusammengefasst wird. Die unter diesem Titel erschienenen Hefte (No. 67886 a und 67886 b) zeichnen sich durch hervorragenden, sehr gut lesbaren Druck aus und kosten laut Katalog 2000 der Edition Peters je 29,50 Mark. In chronologischer Anordnung beginnt der erste Band mit „Bacchanale“, dem ersten Stück von Cage für präpariertes Klavier. Es wurde früher dem Jahre 1938 zugeordnet (s. Katalog John Cage der Edition Peters von 1962), heute gilt 1940 als Entstehungsjahr. Der zweite Band endet mit der berühmten „Music for Marcel Duchamp“, die Cage 1947 für einen Abschnitt über Duchamp in dem Film „Dreams That Money Can Buy“ von Hans Richter schrieb. Das ursprünglich im Altschlüssel notierte Stück wurde für die vorliegende Ausgabe in den Violinschlüssel umgeschrieben. – Leichtere und schwierigere Stücke stehen nebeneinander, ebenso solche, die aufwändig und weniger aufwändig zu präparieren sind. Dem ersten Band ist ein Vorwort mit dem Titel „Wie es zur Präparierung des Klaviers kam“ vorangestellt, das auf John Cage zurückgeht (deutsche Übersetzung: Kurt Michaelis).
Die Stücke für prepared piano von John Cage gehören zu den wichtigsten Klavierkompositionen des 20. Jahrhunderts. Zu hoffen ist, dass bald auch sein Hauptwerk für prepared piano, der Zyklus „Sonatas and Interludes“ (1946–1948), in einer preiswerten Ausgabe folgen wird.
1 John Cage, Prepared Piano Music, Volume 1, 1940–1947, S. 2
2 Peter Roggenkamp, Schriftbild und Interpretation in Neuer Klaviermusik, Wien 1996, S. 48