Das neue Jahrtausend sollte an Rhein und Ruhr hochgemut beginnen. Im Dezember 2000 wurde Gérard Mortier mit einer Pressekonferenz im Düsseldorfer Stadttor als Gründungs-Intendant eines Festivals inthronisiert, das mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen sollte. Vornan ging es darum, eine respektable Nutzung brachliegender Immobilien aus den heroischen Zeiten des Industriezeitalters in die Wege zu leiten, die der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen als teure Klötze am Bein hingen: Die Jahrhunderthalle in Bochum, die Kraftzentrale Meiderich in Duisburg, der Gasometer in Oberhausen, die Zeche Zollverein in Essen und andere auratische Räume des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sollten sporadisch, aber dauerhaft genutzt werden für Musik-, Sprech- und Tanztheater oder Konzerte; insbesondere auch für Projekte mit neuem Medieneinsatz, in denen sich verschiedene Kunstformen verflechten oder verschmelzen.
Die Region sollte ein Pilotprojekt des postindustriellen Zeitalters erhalten und mit diesem ein Zeichen der kreativen Erneuerung setzen. Ministerpräsident Wolfgang Clement und der zuständige Minister Michael Vesper sagten für diese Strukturfördermaßnahme jährlich zwanzig neue Millionen Euro zu, die nicht anderswo aus dem Kulturetat abgezweigt würden. Trotz vehementer Sparzwänge wurde, was die finanzielle Ausstattung für die Neukultivierung des alten Terrains angeht, im Wesentlichen Wort gehalten.
Die RuhrTriennale wurde aus der Taufe gehoben. Im fünften Jahr nach der hochtönenden Proklamation ist festzuhalten, dass da nicht nur ein großer Kraftakt stattfand, mit dem kulturelle Produkte in ein schwieriges, teilweise kontaminiertes Gelände im-plantiert wurden, sondern dass dieses Festival in erstaunlich kurzer Zeit zu jenem „Leuchtturm“ heranwuchs, den zu installieren die Betreiber von Anfang an versprochen hatten. Allen Unkenrufen der Pessimisten und Neider zum Trotz ging das Konzept erstaunlich weitgehend auf. Die RuhrTriennale hat sich, ohne ringsum andere Kulturaktivitäten zu beschädigen oder auszutrocknen, etabliert.
Dies funktionierte vor allem mit drei Hebeln, die Mortier gekonnt hantierend in Bewegung setzte: Zum einen betraute er (international renommierte) Künstler, mit denen er teilweise bereits bei den Salzburger Festspielen neue Präsentationsformen erprobt hatte, mit Inszenierungen oder (interdisziplinär konzipierten) „Kreationen“. Die sorgten – zumal, wenn sie als Uraufführungen zu verkaufen waren – für originären Zuwachs im Nordwesten der Bundesrepublik und für überregionales Aufsehen (auch haben sie seit vergangenem Herbst zu einem nicht geringen Teil den Neuanfang von Mortier als Erneuerer der Pariser Nationaloper mitbestimmt). Der Impresario im Ruhr-Revier sorgte überhaupt für teilweise exquisite Gastspiele, andererseits verband er sein Unternehmen, geschickt selektierend, mit den dynamischeren künstlerischen Kräften aus der näheren oder weiteren Umgebung seiner Einsatzleitzentrale in Gelsenkirchen – mit Teilen der Tanzlandschaft (und der in Wuppertal ansässigen Pina Bausch vornan), mit dem „ChorRuhrWerk“ oder dem Bochumer Theater. Mortier scheute sich nicht einmal, den Lokalpatriotismus der Leute im Revier mit gebührender Sentimentalität bedenken zu lassen.
Selbst notorische Optimisten waren gelinde erstaunt, wie rasch und nachhaltig die musiktheatrale Begrünung des Brachlandes gelang: dass und wie das Projekt die verhießene Strahlkraft entwickelte und wie sie von unterschiedlichen Publikumskreisen akzeptiert wurde. Denn parallel zu Gérard Mortier scheiterte Frank Castorf mit einem vergleichsweise modernistisch-urbanen Aufmöbelungskonzept bei den (vom Deutschen Gewerkschaftsbund getragenen) Ruhrfestspielen (die etwas weiter östlich und schwerpunktmäßig in Recklinghausen angesiedelt sind).
Auch Mortiers Nachfolger auf dem Chefsessel der RuhrTriennale, Jürgen Flimm, setzte – wenngleich unter deutlichen Abstrichen am ambitionierten Konzept und bei der Qualitätskontrolle – den Erfolgskurs fort. Mit 70.000 Besuchern bei 120 Vorstellungen wurde 2005, wie Flimm bekannt gab, eine Platzausnutzung von mehr als 80 Prozent erzielt und mithin das Planungssoll erfüllt (wobei ein routinierter Theaterdirektor mit Erfolgszahlen ebenso zu jonglieren versteht wie mit der variablen Bestuhlung in einer großen Halle). Freilich mehren sich die Bedenken gegen die von Flimm betriebene, sozialdemokratisch inspirierte Tendenz zur Popularisierung des Programms und der damit einhergehenden Absenkung des ästhetischen Niveaus. Den neben der RuhrTriennale in der Region um zahlungskräftige Kundschaft bemühten Kulturanbietern dürfte deren Existenz und Konsolidierung keineswegs zum Nachteil gereichen. Im Gegenteil: Essens Kulturlandschaft erhielt nicht nur Zufuhr und frischen Glanz durch die von Michael Kaufmann nach vorn gepuschte neue Philharmonie, deren Angebot das des von Stefan Soltesz dirigierten Aalto-Theaters ergänzt, sondern auch durch die Offerten auf der Zeche Zollverein, die sich kaum mit denen der anderen Anbieter überschneiden. Für das Bestehen in der Konkurrenz um die Bewerbung als „Kulturhauptstadt 2010“ waren die Gründung und das Aufblühen der RuhrTriennale essentiell. Das von Franz Xavier Ohnesorg in bewährten Konventionen ausgerichtete Klavierfestival Ruhr wurde vom „Initiativkreis Ruhrgebiet“, einem dezidiert konservativen Industriellen-Zusammenschluss, unter die Fittiche genommen und konnte sich flächen- und kapazitätsmäßig weit über den ursprünglichen „Bochumer Klaviersommer“ hinaus erweitern. Die ebenfalls im neuen Jahrhundert aus dem Boden gestampfte Dortmunder Philharmonie für Westfalen kann die ihr fehlenden Zuhörerscharen und das programmatische Qualitätsdefizit kaum der Ruhr-Triennale anlasten – sie hat im Wesentlichen einen anderen Einzugsbereich.
Einzig die Stadt Köln, die größte des Landes und bis in die frühen 70er-Jahre auf dem Gebiet der Neuen Musik eine Hauptstadt, auch als Opern- und Theaterstandort von Bedeutung, könnte beklagen, dass die gezielte Landes-Förderung im Herzen und Westen der Ruhr-Region indirekt nachteilige Folgen zeitigt und der Innovationsschub, der in Form von Bonn(e) Chance auch den Süden des Rheinlands erreicht, an ihr vorbeigeht. Freilich waren die Kölner, wie ihre „Kulturhauptstadt“-Bewerbung drastisch unter Beweis stellte, weder willens noch fähig, ernsthaft in den Wettbewerb um eine führende Position im weitgefächerten Feld der innovativen Musik- und Theater-„Kreationen“ einzutreten. Und sie sind es, wie die Wahl des in Berlin glücklos schlingernden Opernintendanten Georg Quander zum neuen Kulturdezernenten signalisierte, auch fürderhin kaum. Denn der Aufbruch zu neuen Ufern braucht Vordenker. Dass sich Gérard Mortier für einige Jahre ins Revier locken ließ und dort nicht nur seine Visionen mit zierlichen Bosheiten gegen zurückgebliebenes Kulturbewusstsein garnierte, sondern die Ärmel aufkrempelte und seinem Team in die Hände spuckte, war wohl ein singulärer Glücksfall.