Hamburg - Damit gehörlose und hörbehinderte Menschen Musik live erleben, hat eine englische Firma eine Klangjacke entwickelt. Ein Prototyp ist in Hamburg im Einsatz. Was leistet das Kleidungsstück beim Tschaikowsky-Konzert?
Jetzt spürt sie Geigen auf der Brust und die Pauken im Nierenbereich: Claudia Weyel (50) ist schon ihr ganzes Leben lang gehörlos, dennoch genießt sie in einem Hamburger Konzerthaus den «Nussknacker» von Tschaikowsky. Möglich macht das eine neue Erfindung für hörbehinderte Menschen. Sie wurde von der in London ansässigen Modefirma CuteCircuit entwickelt, der Name hat Klang: «Sound Shirt».
Es ist eine hautenge blaue Jacke aus Kunstfaser, auf der sich 16 Feinmotoren und Leuchtdioden befinden. Das Shirt empfängt die Töne, die Musiker gerade spielen, über acht Mikrofone und wandelt sie durch eine spezielle Software drahtlos in Vibrationen um. Und die sind am Körper des Trägers deutlich zu spüren.
So gerät Musik für Hörgeschädigte zwar nicht zum akustischen, aber doch umfassenden, manchmal überwältigenden physischen Erlebnis. Seit eineinhalb Jahren wird der weltweit einzige Prototyp des Sound Shirt von den Jungen Symphonikern Hamburg, einem 2001 gegründeten profilierten Laienorchester, für weitere Verbesserungen getestet.
Claudia Weyel, Erzieherin aus Frankfurt/Main, ist diesmal die Glückliche: Unter Hunderten von Bewerbern, die sich über eine Website des Orchesters gemeldet hatten, wurde sie ausgelost, einen Tschaikowsky-Abend zu besuchen. Die 50-Jährige zum ersten Mal in ihrem Leben bei einem klassischen Konzert. «Total spannend», finde sie, was ihr bevorstehe, erklärt die lebhafte Frau in Gebärdensprache bei der Einführung durch zwei Musikerinnen im Backstage-Bereich.
Schon seit einem Jahr wolle sie gern dabei sein. Und berichtet dann von einem Live-Erlebnis - dem Besuch des Musicals «Der König der Löwen». Dort konnte sie kürzlich mittels eines Luftballons zwischen ihren Händen immerhin die Vibrationen tiefer Töne fühlen.
Kaum hat im großen Saal das Orchester unter seinem Dirigenten Bruno Merse mit dem Marsch und den Tänzen aus der Ballett-Suite «Der Nussknacker» angesetzt, huscht ein Lächeln über das Gesicht Weyels in ihrer Rangloge nahe der Bühne. Die Frankfurterin bewegt sich leicht im Takt, lässt ihren ebenfalls hörgeschädigten, neben ihr sitzenden Ehemann immer wieder einzelne Vibrationspunkte ihres Shirts spüren.
Oder Claudia Weyel hält einfach nur andächtig lauschend seine Hand. Temperamentvoll hebt sie in der Pause den Daumen. «Ich bin begeistert», lässt Weyel strahlend die Dolmetscherin übersetzen, «ein wunderschönes Erlebnis, das ich gern noch einmal machen möchte.»
Anregungen zur Verbesserung des Shirts hat die Trägerin aber auch. So wünscht sie sich feinere Unterscheidungen zwischen hohen und tiefen Tönen. Für den zweiten Teil des Konzerts - es gibt Tschaikowskys teils sehr sanfte, teils sehr kraftvolle vierte Symphonie f-Moll - übernimmt Mischa Gohlke die Klangjacke. Der 37-jährige Hamburger ist auf persönliche Einladung der Musiker da, er kommt quasi als Kollege. Gohlke, dessen Hörfähigkeit stark eingeschränkt ist, spielt in einer eigenen Band. Er ist Initiator des Vereins «Grenzen sind relativ» für eine inklusive, integrale und nachhaltige Gesellschaft.
Bei der Einführung hat der junge Mann zuvor erklärt, dass die Weste im Grunde als Experiment der Erweiterung von Wahrnehmung und Kommunikation überhaupt zu betrachten sei. Und damit «total spannend» für Menschen mit und ohne Hörschaden. Sehr angetan zeigt sich dann auch er nach dem Konzert, dem er ruhig und meist mit geschlossenen Augen gelauscht hat. Er habe viel mehr mitbekommen als bei seinen Bandauftritten, bei denen sich für ihn leicht ein Klangbrei einstelle. Doch auch der Hamburger kann sich Optimierungen am Sound Shirt vorstellen, um die gespielten Werke noch klarer aufzunehmen.
Damit ist er auf einer Wellenlänge mit Anika Bresser, Bratschistin und Sprecherin der Jungen Symphoniker. «Unsere Vision ist es, dann eines Tages mehrere Shirts zu besitzen, um sie Gehörlosen zur Verfügung zu stellen.» Dafür hoffe man auf Sponsoren. Das aktuelle, 20 000 Euro teure Modell ist ein Geschenk einer Hamburger Werbeagentur, in deren Haus die Idee zu dem Projekt auch entstand.