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Während der kürzlich verstorbene Conlon Nancarrow sich im Alter mehr und mehr vom „Player Piano“ abwandte, um wieder traditionell zu komponieren, ließen sich jetzt fünf junge Komponisten darauf ein, Werke für Jahrmarktorgel zu komponieren. In den letzten Jahrzehnten war die Jahrmarktorgel sang und klanglos von Kirmes, Dult, Krämermarkt, Oktoberfest und Volksfest verschwunden. Denn sie war zu leise, zu beschränkt im Repertoire, immer verstimmt, nicht fein genug für den Konzertsaal. Und niemand schien sie zu vermissen. Nur eine kleine Gemeinde hielt ihr die Treue: Die „Gesellschaft für selbstspielende Musikinstrumente“ in Bergisch-Gladbach pflegt bis heute das Erbe dieser archaischen Musikmaschinen, den Vorläufer von Grammophon, Platten- und CD-Spieler sowie Computer. Und daß die Jahrmarktorgel auch noch heutzutage bei Produzenten zukunftsträchtiger Kommunikationstechnologie Gehör findet, zeigt das jüngste Projekt des Siemens Kulturprogramms. Die Siemensleute luden fünf Komponisten ein, für ebensoviele renovierte mechanische Orgeln zu komponieren. Seine Freude am mechanischen Spiel drückte Detlev Glanert (1960) in seinem Stück „Kleine Kuttel-Daddeldu-Musik“ aus. Unspielbar für einen einzelnen Interpreten läßt sein Werk die Mechanik brillieren. Das musikalische Material entlehnt Glanert dem Volksfest: Märsche, Tänze, Potpourris. Peter Michael Hamel (1947) ließ sich von der an seinem Ruth u. Sohn-Orchestrion unendlich sich drehenden Dame zur Komposition inspirieren. „Studie für Orchestrion – die Dame dreht sich permanent“ nannte er sein Werk für Jahrmarktorgel. Steffen Schleiermacher (1960) vermißte trotz der Möglichkeit von stupender Geschwindigkeit und Komplexität der Rhythmen die Parameter Klangfarben und Dynamik. Also ging er mehr augenzwinkernd an seine Aufgabe und schrieb skurrile Hommagen wie „Am Liegetisch“, „Von der reich gedeckten Tafel“ oder „Xenias Kissen“. Gerhard Stäbler (1949) dagegen entschied sich für „seriöse“ Reihenspiele, Schichtungen und Dehnungen der Klavierstücke „Images“ von Claude Debussy. Auch im „Arlecchino rabbioso“ des jüngsten Komponisten, Jörg Widman (1973), dominiert das Groteske. Er läßt seinen Arlecchino die wundersamsten Verrenkungen und Fratzen machen. Alle Orgeln kann man Ende September „live“ an verschiedenen Plätzen der Hamburger Innenstadt, der sogenannten „Klassik-Meile“, erleben. Und aktuell zur Klassik Komm. werden die Werke auch auf einer CD des Labels Talking Music vorliegen. Das Foto der oben abgebildeten historische Jahrmarktorgel „83er Gebr. Wellershaus“ machte Besitzer Henning Ballmann.
Dossier · Klassik Komm. und die „Aktion Musik“
Klassik Komm.
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