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Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre

Untertitel
Marlene Dietrich zum 100. – Eroberung der Welt in sieben Liedern
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Neben Mackie Messer war das der große Gassenhauer des Jahres 1928 in Berlin: Mischa Spolianskys & Marcellus Schiffers Lesben-Nummer „Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin...“ Gemeinsam mit Schiffers Ehefrau, der giraffenhaft-geschmeidigen Margo Lion, und Oskar Karlweis sang Marlene Dietrich den Hit aus der Kaufhaus-Revue „Es liegt in der Luft“.

Neben Mackie Messer war das der große Gassenhauer des Jahres 1928 in Berlin: Mischa Spolianskys & Marcellus Schiffers Lesben-Nummer „Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin...“ Gemeinsam mit Schiffers Ehefrau, der giraffenhaft-geschmeidigen Margo Lion, und Oskar Karlweis sang Marlene Dietrich den Hit aus der Kaufhaus-Revue „Es liegt in der Luft“.Als Marie Magdalene Dietrich am 27. Dezember 1901 in Schöneberg geboren, war sie plötzlich der Liebling der „Säsong“. Theaterkritiker Herbert Jhering zeigte sich beeindruckt von ihrer „delikaten Haltung“ und „müden Eleganz“. Zu verdanken hatte sie diesen ersten Karrieresprung der Hartnäckigkeit des Komponisten Mischa Spoliansky. „Ein dünner junger Mann saß am Klavier, umgeben von fünf anderen Musikern“, erinnert sich Marlene dankbar in ihren Memoiren an das Vorsprechen für diese Spoliansky-Revue: „Er schlug den Ton an, gab mir das Zeichen zum Beginnen. Die Tonlage war sehr hoch. Aus meiner Kehle kam ein armseliger kindlicher Laut, der mehr heiße Luft als Stimme war. Der Regisseur rief: ‚Halt! Die nächste!’ Herr Spoliansky stand auf und rief: ‚Vielleicht sollten wir es noch einmal versuchen. Ich werde die Tonlage tiefer nehmen.’ (...) Mischa Spoliansky änderte die Tonlagen immer wieder, bis ich endlich zum allgemeinen Erstaunen (meines inbegriffen) gute, volle Töne zuwege brachte... und ich hatte die Rolle.“ Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft – und einer großen Karriere als Schauspielerin und Diseuse. Denn in einer anderen Spoliansky-Produktion, „Zwei Krawatten“, wurde sie 1929 im Berliner „Meer“ von Josef von Sternberg entdeckt. Als ordinäre Schwester von Wedekinds Lulu hatte sich „Svengali Jo“ seine Lola-Lola vorgestellt, und nun war sie ihm in Fleisch und Blut begegnet: „Sie hatte kaum etwas auf der Bühne zu tun, und man sah wenig von ihr. Aber es war das Gesicht, das ich suchte... Außerdem besaß sie etwas, was ich nicht erwartete, und das verriet mir: die Suche war beendet. Sie lehnte sich mit kalter Verachtung für die grotesken Possen an die Kulissen.“

Im Blauen Engel

Die Geburt des deutschen Tonfilms aus dem Geist des Tingeltangel: Josef von Sternbergs „Der blaue Engel“, nach dem Roman „Professor Unrat“ von Heinrich Mann. Ein „Schimmel“ machte die Kaschemmen-Sirene Marlene Dietrich und ihren Komponisten Friedrich Hollaender 1930 über Nacht weltberühmt: Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt... Beide sollten mit dem English Waltz ihr Leben lang identifiziert werden. Marlene hing der Gassenhauer bald zum Halse heraus. Sie könne das nicht mehr hören, empörte sie sich in ihrem letzten großen Interview mit Maximilian Schell: „Ich bin von Kopf bis Fuß, ich meine wirklich, lächerlich. Auf alle Fälle, da sitze ich da auf der Tonne, nicht, und das ist überall, und die Bilder kann man kaufen, und alle sind verrückt danach, und dann sind da die Imitatoren, ist das deutsch, die Imitatorinnen, und die machen mich nach da, und da sitzen wir auf der Tonne da, mit den Beinen hoch, und ... lächerlich.“ Die Liste der Interpreten, die das Lied, das als „Falling In Love Again“ um die Welt ging, sangen, ist ellenlang: Greta Keller, Zarah Leander, Billie Holiday, The Beatles, Sammy Davis jr., Udo Lindenberg, Brian Ferry...

Das schönste aller Hollaender-Lieder entstand noch 1930 während der „Blauen Engel“-Phase. Und es war Marlene, die den Meister dazu inspiriert hat, wie Manfred Georg berichtet: „In einem Filmatelier hatte Hollaender gesessen, kurz bevor Marlene Dietrich nach Hollywood fuhr. Kalter Tag und Nebel draußen. Sie war in einer Pause hereingekommen, hatte die pappenen Dekorationen beklopft, auf das Gebrüll der Regisseure in den anderen Teilen der Halle gehorcht und war sehr müde gewesen. Da hatte sie vor sich hingesummt ‚Wenn ich mir was wünschen dürfte‘. Und Hollaender war von der Traurigkeit ihrer Stimme so gepackt worden, dass er im gleichen Augenblick noch dieses Lied schuf.“ Ein Seufzer wurde zur Melodie, wie so oft bei Hollaender seit seinen „Schall und Rauch“-Tagen. Auf der Electrola-Platte habe man Marlene stimmlich und menschlich konzentriert, meint Georg: „Da sind diese gaminhaften, hellen Obertöne, der berlinisch-sentimentale Klang, der trotz aller mitschwingenden Gefühlsverdunkelung klar und fest ist, da ist dieser angerauhte, schleifende Ton sinnlichster Einfühlung und in seinem plötzlichen Sichfallenlassen in die Tiefe jenes Schluchzen, das sich überraschend auftut und das nicht auszuloten ist.“ Marlene spielte das Lied Franz Hessel während ihres letzten Deutschlandbesuchs im Winter 1930/31 auf dem Grammophon vor. Hessel, dessen Liebesgeschichte von Truffaut auf der Leinwand verewigt worden ist („Jules et Jim“), hat diesen magischen Moment als Visionär erlebt: „Und weiter sang das Lied von dem Heimweh nach der Traurigkeit mitten im Glück. Da stand sie, die große Wunscherfüllerin, der Traum der Tausende, den Kopf seitlich geneigt zu ihrem Echo im Kasten, und hatte einen Ausdruck von Melancholie und Einsamkeit im Gesicht, aus dem die Dichter, Musiker und Filmregisseure noch viel Neues zu lernen und zu schaffen haben werden.“

Boys in the Back Room

Nach der Trennung von ihrem „Svengali“ Josef von Sternberg, der sie zum Paramount-Star geformt hatte, wurde Marlene in Hollywood zum Kassengift erklärt, bis sie 1939 mit der Westernkomödie „Destry Rides Again“ an der Seite von James Stewart ein Comeback erlebte. Eingefädelt wurde dieses von einem Berliner Triumvirat: Produzent Joe Pasternak, Autor Felix Jackson und Friedrich Hollaender. Ursprünglich hatte die Saloon-Sängerin, die Marlene verkörpern sollte, „Angel“ geheißen. Was lag also näher, als sie mit der Dietrich zu besetzen. Sternberg hat ihr zu dieser Rolle sogar geraten: „Ich habe dich als unantastbare Göttin auf ein Podest gestellt. Pasternak will dich in den Schlamm hinab zerren ... eine gütige Göttin zum Anfassen, mit Füßen aus Ton – eine ausgezeichnete Verkaufsstrategie.“ Und so war die neue Marlene geboren: „Frenchy“, das singende Flittchen. Wie sie „The Boys in the Back Room“ präsentiere, das sei ein „größeres Kunstwerk als die Venus von Milo“ schwärmte die „New York Post“. Große amerikanische Kunst: Tingeltangel im Wilden Westen. Während des Zweiten Weltkriegs hat „Captain Dietrich“ den schmissigen Honky-Tonk-Schlager vor Hunderttausenden von GIs zum Besten gegeben. Ihre Zeit bei den Soldaten im Kampf gegen die Nazis sei die glücklichste ihres Lebens gewesen, hat Marlene später gestanden. 1944 hat sie die Boys sogar auf deutsch besungen: Ja, gib’ doch den Männern am Stammtisch ihr Gift.
Ganz verloren singt Marlene 1947 in Amerika wieder ein deutsches Lied, das einst Friedrich Hollaender in den frühen Dreißigern für Anna Sten komponiert hat, und das Erinnerungen weckt an ihre Pariser Sessions im Sommer 1933, als sie Franz Wachsmanns & Max Colpets wehmütiges Chanson „Allein in einer großen Stadt“ aufnahm. Noch ganz unter dem Eindruck des Verlusts der Mutter und des letzten Geliebten Jean Gabin bekennt sie: Ich glaub’, ich gehöre nur mir ganz allein. Ganz allein in der großen Stadt Paris hat sie im Dezember 1945 an einen anderen Gefährten, Erich Maria Remarque, geschrieben: „Ich schreibe dir weil ich plötzlich akute Sehnsucht habe – nicht die, die ich sonst habe. Vielleicht brauche ich Leberwurstbrote, den Trost der Betrübten – und seelische Leberwurstbrote. Paris ist in grauem Nebel – ich sehe kaum die Champs Elysées. Ich bin durcheinander und leer und ohne Ziel.

Kein Herumlaufen mehr nach Lebensmitteln und Fliegern, die nach Berlin fliegen – keine Sorge mehr um meine Mutter – um sie durch den Winter zu füttern. Und ich weiß nicht wo ich sein soll... Ich bin nicht in der Kreuzstichhandarbeiten-Ruhe! habe mich aufgelehnt und um mich geschlagen, (nicht immer mit den fairsten Mitteln) und habe mich frei-gehauen und sitze nun in der Freiheit allein und verlassen in einer fremden Stadt. – Und finde deine Briefe! Und schreibe dir ganz ohne Grund. Sei mir nicht böse. Ich habe Sehnsucht nach Alfred, der schreibt: ‚Ich dachte Liebe ist das Wunder, dass zwei Menschen zusammen viel leichter sind als einer allein – wie Äroplanes.’ Ich dachte das auch. Dein zerfetztes Puma.“

1948 lässt Billy Wilder in „A Foreign Affair“ Marlene bei der Paramount noch einmal in den „Blauen Engel“ zurückkehren. Freilich musste das bekannte Etablissement nach dem verlorenen Krieg seinen Namen umändern. „Lorelei“ heißt der Club jetzt, und es verkehren darin hauptsächlich die Besatzer von Berlin, Amerikaner und Russen. Lola-Lola hat sich selbst geadelt, wie einst der Österreicher Josef von Sternberg. Als Erika von Schlütow stellt sie sich den Boys in den Ruinen von Berlin vor. Begleitet wird sie dabei ein letztes Mal auf der Leinwand von ihrem treuen Katerkopf Hollaender am Klavier. „Illusions“ erinnert in seiner grenzenlosen Leidenschaft für das Unglücklichsein an „Wenn ich mir was wünschen dürfte“. In diesem verrückten Leben sei man verliebt in den Schmerz, singt Marlene, die am Ende ihres Lebens Hellmuth Karasek ihre Liebe zu Wilder gestand: „Ich habe ihn geliebt, aber leider haben wir das zu spät gemerkt.“

Just a Gigolo

Anfang der 50er-Jahre wurden die Filmangebote seltener und Marlene startete eine zweite Karriere als Sängerin und Entertainerin. Zu ihrem ständigen musikalischen Begleiter wurde bald ein Mann, der sich in den Sixties zum „König Midas des Pop“ entwickelte: Burt Bacharach. Nach Hollaender und Sternberg hatte sie ihren dritten Komplizen gefunden, der sie ein letztes Mal formte. Standards von Cole Porter und Harold Arlen und die alten Berliner Lieder kleidete Bacharach für Marlene musikalisch neu ein. Mit dem Anti-Kriegslied „Sag’ mir, wo die Blumen sind“ gelang dem Traumteam Anfang der 60er-Jahre sogar in Deutschland ein Single-Hit. Und das, obwohl sie hier zu Lande noch 1960 während ihrer Tournee als „Vaterlandsverräterin“ beschimpft worden war. Nach einem Bühnenunfall zog sich die Dietrich Mitte der 70er-Jahre in ihre Pariser Matratzengruft zurück, wo sie am 6. Mai 1992 sanft entschlafen ist. Bevor sie in Maximilian Schells Dokumentation „Marlene“ zur puren Stimme des Mythos geworden war, hatte sie 1978 noch einen letzten Auftritt vor der Kamera absolviert. In der deutschen Produktion „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ war sie neben „Blow up“-Star David Hemmings und David Bowie zu sehen. Noch einmal stimmte sie ein Lied aus einer Zeit an, als die Welt noch jung war für sie, den Roaring Twenties. David Hemmings erinnert sich: „Wenn die Leute heute hören, wie Marlene das Titellied singt, denken sie, das Lied beziehe sich auf Marlene, vor allem die letzte Zeile, dass das Leben ohne sie weitergeht. Aber darum ging es ihr überhaupt nicht. Wenn sie auf etwas ansprach, dann war es der deutsche Text, der mit den Worten endet: man zahlt, und du musst tanzen. Das war es, was sie tat: Sie tanzte noch immer, nach all den Jahren. Aber mit welch majestätischer Würde!“

Viktor Rotthaler

  • Marlene Dietrich: „Der blonde Engel“ – Retrospektive 1928–1978
    EMI 4-CD-Box-Set
  • Die Essenz: 100 Lieder aus fünf Jahrzehnten. Klassiker und unveröffentlichte Raritäten – von der „Besten Freundin“ bis zu „Just A Gigolo“.
    DVD
  • „Der blaue Engel“ (BMG Video in Kooperation mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, der Transit-Film GmbH und dem Filmmuseum Berlin – Deutsche Kinemathek) Josef von Sternbergs & Friedrich Hollaenders Meisterwerk.
  • „Sag mir, daß Du mich liebst...“. Erich Maria Remarque – Marlene Dietrich. Zeugnisse einer Leidenschaft, hrsg. von Werner Fuld und Thomas Schneider, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001
    Herzzerreißender Briefwechsel.
  • Werner Sudendorf: Marlene Dietrich, dtv, München 2001
    Kompaktes Porträt der Weltbürgerin. Unentbehrlich für Neueinsteiger.
  • Marlene Dietrich, hrsg. von Peter Riva und Jean Jacques Naudet. Mit Kommentaren von Maria Riva, Nicolai Verlag, Berlin 2001
    Das Fotobuch der „Säsong“.
  • Linde Salber: „Marlene Dietrich“. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2001
    Sehr brauchbare rororo-Monografie mit kleinen Fehlern.

Ausstellung

  • Marlene Dietrich: Forever Young. Bis 17. Februar 2002 im Filmmuseum Berlin. Mit Filmretrospektive im Arsenal-Kino.
    Rundfunk
  • „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre“ Lange Nacht zu Marlene Dietrich am 21. beziehungsweise 22. Dezember im Deutschlandradio/Deutschlandfunk.
  • „... ich gehöre nur mir ganz allein“. Szenischer Dialog aus Dokumenten und Liedern von Hans Bräunlich, Live-Sendung am 26. Dezember, Koproduktion des Bayerischen Rundfunks, des Hessischen Rundfunks, des Mitteldeutschen Rundfunks und des Hebbel-Theaters Berlin.

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