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Identifikation, Abwertung, Zugehörigkeit und Ausgrenzung

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Interkulturelle Lebenswelten entstehen nicht von selbst
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Die Abwertung von Musik hat freilich Tradition. Michael Praetorius, gestorben 1621, Hofkapellmeister beim Herzog von Wolfenbüttel, war als anerkannter Musiker im Rahmen seines Wirkens viel in deutschen Landen unterwegs, aber niemals selbst auch nur in Italien, was er sehr bedauerte. In seinem dreibändigen Werk „Syntagma musicum“ fasste er einen großen Teil des damaligen Wissen über Musik zusammen. Band 2 thematisiert die politische und weltliche Musik außerhalb der christlichen Kirchen. Die Instrumente „zurna“ (Schalmei) beschrieb er als „schnarrende und kikakende Schalmey“ und die zweifellige Röhrentrommel „davul“ als „Teufelsglocke und Rumpelfass“. „Diese Lumpenmusic wird noch heutigen tages bey den Türcken in hohem Wert geachtet / unsere aber dagegen zum eußersten verachtet.“(vgl. Oransay 1962, 106)

Dass Musik verbindet, ist eine alte Geschichte, die immer wieder neu erzählt wird – und nicht stimmt. Sie stimmt nicht ohne den passenden Kontext. Musik trennt und vertreibt ganz schön. Supermarktbesitzer in den USA bringen durch Abspielen klassischer Musik über die Außenlautsprecher unliebsame Jugendliche dazu, das Gelände zu verlassen. Um den Musikgeschmack von Jugendlichen gibt es zwischen den Generationen erbitterte Kämpfe. Und wehe, in einer Schulklasse wird deutschen Kindern unvorbereitet ein Stück traditioneller Musik aus der Türkei vorgespielt – die Abwertung ist gnadenlos. Die Abwertung von Musik hat freilich Tradition. Michael Praetorius, gestorben 1621, Hofkapellmeister beim Herzog von Wolfenbüttel, war als anerkannter Musiker im Rahmen seines Wirkens viel in deutschen Landen unterwegs, aber niemals selbst auch nur in Italien, was er sehr bedauerte. In seinem dreibändigen Werk „Syntagma musicum“ fasste er einen großen Teil des damaligen Wissen über Musik zusammen. Band 2 thematisiert die politische und weltliche Musik außerhalb der christlichen Kirchen. Die Instrumente „zurna“ (Schalmei) beschrieb er als „schnarrende und kikakende Schalmey“ und die zweifellige Röhrentrommel „davul“ als „Teufelsglocke und Rumpelfass“. „Diese Lumpenmusic wird noch heutigen tages bey den Türcken in hohem Wert geachtet / unsere aber dagegen zum eußersten verachtet.“(vgl. Oransay 1962, 106) Die Abwertung der Musik anderer Leute ist eine Seite der Medaille. Die Identifikation mit der eigenen Musik ist die andere. Wenn es so etwas gäbe wie einen Identifizierungsfaktor für kulturelle Ausdrucksweisen – Musik wäre mit Sicherheit ganz oben auf der Skala. Die Identifikation mit Musik ist sehr hoch – wenn sie die eigene ist.

Hinter dem allgemein-menschlichen Phänomen von Identifikation und Ablehnung, von Zugehörigkeit und Ausgrenzung stehen grundsätzliche Fragen. Zum Beispiel

  • Wie lernen wir überhaupt, mit Dingen umzugehen, die wir nicht kennen?
  • Wie lernen wir Vorlieben und Abneigungen?
  • Wie lernen wir Neugier und Interesse?
  • Wie lernen wir Toleranz?

Wir sind als Menschen bestens ausgestattet mit der Fähigkeit, mit Unbekanntem umzugehen. Ohne diese Fähigkeit hätte der homo sapiens gar nicht überleben können. Als Kind verarbeitet der Mensch über Jahre hinweg täglich unglaublich viel Neues. Das Speichern, das Verarbeiten und Zuordnen von Neuem geschieht freilich nicht nur als „Informationsverarbeitung“ im Gehirn: Jede Information enthält auch so etwas wie einen Gefühlsfaktor. Wenn ein kleines Kind neugierig auf einen Gegenstand seines Interesses zukrabbelt und es gibt zwischen dem interessanten Objekt und dem Kind ein Hindernis, blickt das Kind zurück und liest im Gesicht der Mutter ab, was es von dem Hindernis halten soll. Wenn die Mutter lächelt und es ermutigt, wird das Hindernis überwunden. Wenn die Mutter bedenklich schaut, wendet sich das Kind vom Hindernis und auch vom Gegenstand seines Interesses ab. „Daraus kann man unter anderem den Schluss ziehen, dass der Säugling auf irgendeine Weise eine Entsprechung zwischen dem eigenen, innerlich erlebten Gefühlszustand, den er an oder in einer anderen Person beobachtet, herstellt, eine Entsprechung, die wir als Inter-Affektivität bezeichnen können.“ (Stern 1998, 190) Inter-Affektivität, das Bedürfnis, in gefühlsmäßiger Übereinstimmung mit denen zu sein, mit denen wir zusammen sind, zieht sich durch das ganze Leben, und dieses Bedürfnis wirkt in zwei Richtungen: Es schränkt die Person ein, wenn zu häufig die Signale kommen, dass das Neue, das Unbekannte unangenehm, gefährlich oder einfach „pfui“ sei. Und es macht die Person offen und neugierig, wenn sie dazu ermutigt wird, auf das Neue zuzugehen, es kennen zulernen, damit umzugehen. Wenn dazu ermutigt wird, wird das Unbekannte zum Bekannten gemacht.

Interkulturelles

Jede Gesellschaft hat irgendwann im Laufe ihrer Geschichte das Problem, mit Mitgliedern des Gemeinwesens umzugehen, die nicht schon immer im Lande gelebt haben. Immer ist es auch so, dass die neuen Mitglieder der Gesellschaft nicht „kulturlos“ sind, sie bringen ihre Alltagsästhetik, sie bringen Sprache, Kunst und Musik mit. Teile der mitgebrachten Kultur gehen dann in die vorherrschende Kultur ein – Kultur ist ein dynamisches Prinzip.

Musik ist ebenfalls ein dynamisches Prinzip – das ist die einzige überkulturelle Gemeinsamkeit der Musik der Welt. Sonst ist Musik ziemlich verschieden. Die Musikkulturen der Welt haben der unendlichen Vielzahl von Gestaltungsmöglichkeiten einen höchst unterschiedlichen Gebrauch des musikalischen Materials abgelauscht und höchst unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Der genauere Blick auf die Musikkulturen macht deutlich, wie unterschiedlich in den Ländern und Erdteilen der Welt die Ordnung der Zeit (Rhythmus) und der Tonhöhe (Tonsystem und Harmonie), die Klangfarbe (Instrument und Stimme) und die Lautstärke gestaltet und in Gebrauch sind. Alles hat freilich seinen Preis: Musik, die mehrstimmig „funktioniert“, ist rhythmisch weniger differenziert als Musik, die einstimmig bleibt. Einstimmige Musik entwickelt einen höchst differenzierten Umgang mit Tonhöhen und Rhythmen, wie beispielsweise in Indien. Mehrstimmige Musik entwickelt wiederum höchstes Raffinement in der Akkordik, wie beispielsweise in Europa. Sicher ist: Die Musik der Kulturen ist jeweils ihr gültiger Ausdruck. Das heißt: Die Menschen sind oder waren zumindest lange genau mit dem zufrieden, was sie entwickelt haben. In diesem Sinne gibt es keine weiter oder weniger weit entwickelte Musik. Die Frage wäre ja auch die des Bezugspunktes: Weiter als was, wer oder in welcher Beziehung?

Jede Musik gilt. Jede Musik ist in ihrer Kultur stimmig, wertvoll, jeder musikalische Ausdruck ist in seinem kulturellen Umfeld angemessen und richtig. Ein Qualitätsvergleich der Musikkulturen macht keinen Sinn. Soll man Äpfel mit Mangos, Birnen mit Ananas vergleichen? Soll man Rhythmus gegen Klangfarbe, Harmonik gegen Tonsystem setzen?

Die Haltung des nicht bewertenden Hinschauens fällt dem alten Europa immer noch relativ schwer, der Eurozentrismus sitzt tief. Das Selbstverständnis von einer europäisch-abendländischen kulturellen Überlegenheit ist längst nicht abgearbeitet. Und die Angst, es koste etwas – im Sinne von Preisgabe –, wenn man sich dem anderen intensiv zuwende, ist durchaus nicht abgebaut.

Alle be- und verurteilenden Gedankengebäude entstehen allmählich in der Biografie eines jeden Menschen. Wie das in Kopf und Gefühl geschieht, hat die Vorurteilsforschung hinreichend untersucht (vgl. Allport 1971). Diese Gedankengebäude beschreiben nicht die Wirklichkeit – sie konstruieren sie. Der Kopf macht die Werte, die Beurteilungen, die Verurteilungen, die Urteile. Die innere Wirklichkeit hat mit der äußeren Wirklichkeit oft nichts gemein.

Interkulturelles und Musik

Deutschland klingt heute anders als vor 30 Jahren. Die Entwicklung des Industriestandorts Deutschland hat das interkulturelle Thema ins Land gebracht, besser gesagt, geholt. Mit den Arbeitnehmern ist auch deren Musikkultur gekommen. Die Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ hat mittlerweile viele Stadien durchlaufen: Von der Verdrängung über die Forderung nach Anpassung bis zum Respekt vor der jeweiligen Identität. Der Begriff des Interkulturellen hat immer noch den „Geruch“ des Pädagogischen, wie auch ein Blick ins Internet zeigt. „Interkulturell“ – das ist das Sich-bemühen-um. Ja, interkulturelle Erziehung, interkulturelles Zusammenleben ist Arbeit, weil Veränderung immer auch Arbeit ist. Arbeit der inneren und äußeren Art. Wird diese Arbeit freilich zu sehr mit moralischem Anspruch überfrachtet, wird alles sehr anstrengend.

Die wichtigsten Grundsätze für interkulturelle Arbeit kurz zusammengefasst:

  • Der kulturelle Hintergrund einer jeden Person wird respektiert.
  • Es gibt ein gegenseitiges Bemühen, die jeweiligen kulturellen Hintergründe kennen zu lernen.
  • Gleichzeitig bleiben das Recht auf Verschiedenheit, auf den eigenen Geschmack und das Recht auf die eigene Identität unangetastet.
  • Es gibt keinen Zwang, Musik gut finden zu müssen, die einem eigentlich nicht gefällt.
  • Es gibt aber das Recht darauf, neugierig zu sein und dazulernen zu können.

Die Hauptschule in Elze bei Hannover heißt seit 1992 Adorno-Schule. Ihr Leiter Norbert Hilbig versteht Schule als einen Ort, den Kinder mögen, der Kinder ermutigt, interessiert und neugierig zu bleiben, einen Ort, der Kinder ermutigt, sie selbst zu bleiben – in Wärme. Schule als Ort, der Kinder nicht zu innerlich gefrorenen Personen macht. „Neben der Aufklärung muss ein schulisches Leben installiert werden, das jene humanen und befriedigenden Wirkungen zeitigt, die aufgrund eines guten Lebens ein aggressives Ausagieren von Versagungen überflüssig machen“ (vgl. Hilbig 1997). Eines der Merkmale der Schule ist die Projektarbeit: „Inszenierung von Lebenswelten“. Da wird auch Musik zum Teil der Lebenswelten. Fremde Musik erfahrbar als Teil einer Lebenswelt und nicht nur als losgelöstes ästhetisches Ereignis – hier verbinden sich Interkulturelles und Inter-Affektivität. So soll’s sein.

  • Allport, G. W. (1971) Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch
  • (1997) Mit Adorno Schule machen. Beiträge zu einer Pädagogik der kritischen Theorie; Theorie und Praxis der Gewaltprävention. Bad Heilbrunn: Klinkhardt
  • (1998) Die Lebenserfahrung des Säuglings. 6. Aufl. Stuttgart. Klett-Cotta
  • Oransay, G. (1962) Von der Türcken dölpischer Music. Die Musik der türkischen Bauern und die abendländische Kunstmusik. In: Südosteuropa-Jahrbuch. Bd. 6

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