In seiner „Glosse über Sibelius“ aus dem Jahr 1938 erlaubt sich Theodor W. Adorno den launigen Satz: „Symphonien sind keine tausend Seen: auch wenn sie tausend Löcher haben.“ Die Frage freilich darf angeschlossen werden: Kann eine Musik, notfalls oder notwendigerweise mit tausend Löchern, das Lebensgefühl eines Landes widerspiegeln, in dem wirklich unzählige Seen weite, ja grenzenlose Flächen bilden, in dem der Lebenspuls aus Licht und Dunkel weit größer dimensioniert schwingt als in südlichen Breiten?
In seiner „Glosse über Sibelius“ aus dem Jahr 1938 erlaubt sich Theodor W. Adorno den launigen Satz: „Symphonien sind keine tausend Seen: auch wenn sie tausend Löcher haben.“ Die Frage freilich darf angeschlossen werden: Kann eine Musik, notfalls oder notwendigerweise mit tausend Löchern, das Lebensgefühl eines Landes widerspiegeln, in dem wirklich unzählige Seen weite, ja grenzenlose Flächen bilden, in dem der Lebenspuls aus Licht und Dunkel weit größer dimensioniert schwingt als in südlichen Breiten?Es wird kaum jemand geben, der nicht innere oder auch äußere Verbindungen zu entdecken glaubt. Singen oder Schall zu geben hängt wesentlich mit der akustischen Umgebung zusammen und die vergleichende Musikethnologie hat einige erstaunliche Übereinstimmungen bei nicht verwandten musikalischen Kulturen aufgewiesen, wenn diese in vergleichbaren geologischen Räumen (schroffe Gebirge, weite Ebenen, kleingliedrige Flusslandschaften etc.) angesiedelt sind; so wie es zum Beispiel in Australien – oder im Rest der Welt – einige Säugetiere gewissermaßen nochmal gibt (etwa den Maulwurf, die Ratte oder den Bär), in Australien nur als Ausgabe mit Beutel.Musik passiv und aktiv
Bei der Musik geht es aber noch weiter. Musik ist die Kunstform, die vielleicht am entschiedensten Züge des Reagierens besitzt (das Ohr ist mehr passives, das Auge hingegen mehr aktives Organ). Keine fordert so intensiv das Wahrnehmen, das Vernehmen ein, und zwar nicht nur im rezeptiven, sondern auch schon im schöpferischen Akt. Der Komponist hört sein Stück, bevor er es notiert. Und wenn man auch bei anderen Kunstformen, etwa bei der Malerei oder der Dichtung, ein vom Künstler vorweggenommenes sinnliches Erfassen reklamieren mag, so ist es doch die Musik, in der daraus immer wieder ein Mysterium, zum Beispiel das der Eingebung von oben oder von wo auch immer, gemacht wird. Aus dieser Haltung heraus wird Musik dann im Anschluss freilich aktiv, und auch hier ist sie rigide: Sie lässt nicht in Ruhe, sie fordert körperliche und geistige Präsenz. Weghören geht schlechter als Wegsehen. Darum taugt Musik zum Weitergeben von Botschaften mehr als andere Künste. Und da sie im Semantischen beschränkt ist, bedient sie sich, wenn Konkretion gefragt ist, des gesungenen oder auch anderswie in die Musik integrierten Wortes. Das wissen alle Kulturen, immer schon erhob sich die Stimme zum Sanglichen, wenn es um Mitteilung eherner Werte ging (sei es im Psalmodieren in der Kirche, sei es im buddhistischen Deklamieren von Weisheitsgrundlagen). Musik ist also – zumindest von dieser Warte aus gesehen – höchstes Vermittlungsorgan. Sie nimmt Befindlichkeiten empfindsam wahr und gibt sie nachdrücklich wieder.
Musik und Wahrheit
Auf dieser Basis stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Musik und nationaler Identität auf neue Art. Sie ist konsequent. Nie würde sie, nie könnte sie einem (über Eroberung oder Besetzung) aus dem Boden gestampften nationalen Territorium Nachdruck verleihen. Denn dem Verordneten widersetzt sie sich, zumindest wenn sie ernst genommen werden will, zugleich dumpf (also träge gegenüber diversen Bestechungsversuchen) und hellhörig. Musik macht nicht mit mit künstlichen Konstrukten: oder wenn sie mitmacht, wird sie falsch und oberflächlich. Sie notiert Befindlichkeiten, hierin ist sie letztlich unbestechlich (weil sie als Bestochene hörbar wird – lügen nämlich kann sie nur schlecht). Dass heute zum Beispiel nationale Findung in den baltischen Staaten gerade auf musikalischem Gebiet auf der Tagesordnung ganz oben steht ist kein Wunder. (Fortsetzung auf Seite 47) u
u Unter sowjetischer Oberherrschaft war dort die Musik zurückgeschnitten, Identitäten blieben weitgehend im Verborgenen, gewissermaßen unter der Erde. Beim ersten Frühlingsregen beginnt sie zu keimen.
Musik als Geistesspiegel
Somit schreibt Musik den Geist ihrer Zeit mit. Sie prägt nationale Eigenständigkeiten aus, solange diese auch gesellschaftlich relevant sind. Gibt es solche Relevanzen, dann findet gerade die Musik als empfindsam reagierende und nachhaltig vermittelnde Kunst die entschiedensten Sprachmittel. Oft werden aber, unter gesellschaftlich anderen Umständen, auch nationale Grenzen transzendiert. In der europäischen Renaissance etwa, die eine Geisteshaltung im Sinne eines frühen und fortschrittlichen Kapitalismus installierte, traten nationale Belange weitgehend zurück.
Die Musik formte damals ein neues zeitliches Denken aus, eines der Rasterung, des Messens, musikalisch: der Metrisierung. Dass ein Descartes damals das Koordinatensystem entwarf, dass er philosophisch den Ich-Punkt und die Unleugbarkeit seiner Existenz bestimmte, dass ein Giordano Bruno die Einheit des Alls proklamierte, dass ein Thomas Morus oder ein Francis Bacon teleologische Entwürfe in die Zukunft formulierten (die den Fixpunkt des Jetzt benötigen), all dies fand auf vermitteltem Wege Eingang in die Musik, die zugleich zu dieser Zeit nationale Eigenarten im Dienste der übergreifenden Bestimmung weitgehend abstreifte.
Europäische Identität im Sinne eines weltweit einzigartigen Aufbruchs in kapitalistische Produktionsbedingungen, die sowohl neue Subjektivität als auch (damit verbunden) ein neues Verhältnis zur Zeit und ihrer Einteilung verkündeten, ergriff unmittelbar das musikalische Denken. Barock, Klassik und Romantik begleiteten getreu die Stationen des Bürgertums vor, während und nach der (bürgerlichen) Revolution – und die Musik unterstrich dann auch wieder die durch den Konkurrenzdruck aufkommenden nationalen Merkmale und Eigentümlichkeiten – in den zentralen Herrschaftsbereichen, vor allem aber in Ländern, die sich freikämpfend etablierten. Gleichwohl blieb die Musik überall, und damit hatte sie doppelte Identität, dem bürgerlichen Menschenbild in Absetzung zu anderen Kulturen verpflichtet.
Das ist auch Grund dafür, dass in außereuropäischen Ländern, die sich der kapitalistischen Produktionsweise annäherten (zum Beispiel Japan, aber auch viele andere Länder), die Musik von Barock bis Romantik zumindest im rezeptiven Bereich einen verblüffenden Aufschwung erlebte: bis hin zur weitgehenden Eliminierung eigener kultureller Identität, die im neuen gesellschaftlich geistigen Umfeld gleichsam als nicht mehr zeitgemäß angesehen oder empfunden wurde.
Musik, die heute unter dem Begriff Weltmusik firmiert, verkündet nationale Offenheit, das Ende nationaler Engstirnigkeit. Da aber sollte man vorsichtig sein. Hier verbinden sich eigenartigerweise Flower-Power-Bewegtheiten mit weltumspannenden Interessen von industriellen Großkonzernen. Weltmusik läuft Gefahr, sich zur Tapetendekoration eines virtuellen Global Village anzudienern. Solange die Unterscheidung zwischen Schurkenstaaten und Regionen des Guten aufrechterhalten wird und sich im Bewusstsein festnistet, kann es so etwas wie Weltmusik nicht geben.
Und wirklich gehen Versuche in dieser Richtung (ich denke hier nicht an Pioniertaten, die gegenseitiges Kennenlernen und gegenseitige Achtung proklamieren und das Moment der Begegnung in den Mittelpunkt rücken) zumeist in Richtung oberflächlicher Entertainment-Vermischung, die zwar Eigenschaften unserer medialen Welt zu spiegeln scheinen, letztlich aber nur die Würze des Zappens zwischen beliebigen Informationen replizieren. Sie sind das musikalische Happy-Meal mit Pommes und BigMac. Musik gibt hier ihre wesentlichen Bestimmungen auf oder verwässert sie zumindest drastisch: die des genauen Hinhörens, der sensiblen Wahrnehmung und auch die der aktiven Vermittlung von Botschaften. Mithin bedeutet Weltmusik heute keineswegs das Aufheben nationaler Charaktere, sondern im Wesentlichen deren Missachtung. Sie entspricht einer postkolonialen Verwaltung der Welt, in der die Kreise, die über Knowhow und Mittel verfügen, die Macht des Sagens, des Tonangebens an sich reißen. Widerstand dagegen hat ein menschlicheres und somit letztlich progressiveres Recht. Er zieht seine Wurzeln immer noch aus dem Beharren auf nationaler Eigenart, zugleich aus dem Bewahren von Vielfalt.
Und wieder scheint es unter den Kunstsparten gerade die Musik zu sein, die diese Vielfalt der Lebensgefühle, des emotionalen Daseins-Befindens am entschiedensten wiederzugeben und facettenreich auszuspannen in der Lage ist.