Leipzig steht es historisch zu, am ausgiebigsten und prächtigsten zu feiern. Und das tut es denn auch, etwa wenn der Künstler Silvan Baer Bachs Konterfei aus zwischen Rathaus und Universitätshochhaus aufgespannten Wimpeln in den Lüften flattern lässt. Sogestalt zum Luftwesen entmaterialisiert, ist Bach gewissermaßen wie ein schlechtes Gewissen stets zugegen. Das schlechte Gewissen wäre auch nötig, denn seinerzeit, 1723, hatte man noch nicht so hohe Stücke auf den jetzigen Lieblingssohn gehalten. Man hatte zunächst bei Fasch, Graupner und, vielleicht in visionärer Hinsicht auf zukünftige Kommunikationsformen und deren Vermarktbarkeit, bei Telemann angeklopft, die ihnen damals als die ersten im Lande galten. Die erste Wahl aber hatte damals abgewunken, vermutlich hatten Fasch, Graupner und Telemann keine Lust, die im Vertrag wohl klein gedruckte Verpflichtung zu wöchentlichen Kantaten durchs ganze Kirchenjahr zu erfüllen. Das nämlich war der Leipziger Pferdefuß an der Stellenausschreibung gewesen. Bach war da nicht so wählerisch. Freilich war er den argwöhnischen Auguren schon in Arnstadt als misstönender Störer des geregelten Kirchenbetriebs aufgefallen. So war man skeptisch. O-Ton Leipziger Rat: „Da man die Besten nicht haben konnte, musste man auf Mittleres zurückgreifen.“ Das tat man denn auch, Bach wurde in Sold und Pflicht gestellt und heute freut sich Leipzig.
Vom richtigen Timing hat Johann Sebastian Bach gewiss viel verstanden. 1685 geboren, zusammen mit Georg Friedrich Händel und Domenico Scarlatti, jahrhundertversetzt noch mit Schütz und Berg, löste er vor eineinhalb Jahrzehnten ein groß proklamiertes „Jahr der Musik“ aus. Das vergangene Jahrhundert, das jeden halbwegs aufgeblasenen Event zum Saeculums-Ereignis hochputschte, konnte schon hier ins Volle greifen. Im richtigen Abstand ist Bach dann gestorben. Nach 65 Jahren und noch dazu in einem von katholischer Seite verordneten heiligen Jahr. Das verhilft unserem auf 50er-Raster programmierten Gedenktags-Bewusstsein zur gerade passenden Entspannung von 15 Jahren, wo das „Jahr der Musik“ noch verblassend nachschimmert und zugleich das Bedürfnis nach Nachschub im geleerten Darm des Musikbetriebs schon wieder angewachsen ist. Pünktlich also naht der 250. Todestag einer unwidersprochen akzeptierten Jahrtausendfigur. Bachs Konterfei aus Wimpeln schwebt über der Leipziger Innenstadt (c) Volkmar HeinzLeipzig steht es historisch zu, am ausgiebigsten und prächtigsten zu feiern. Und das tut es denn auch, etwa wenn der Künstler Silvan Baer Bachs Konterfei aus zwischen Rathaus und Universitätshochhaus aufgespannten Wimpeln in den Lüften flattern lässt. Sogestalt zum Luftwesen entmaterialisiert, ist Bach gewissermaßen wie ein schlechtes Gewissen stets zugegen. Das schlechte Gewissen wäre auch nötig, denn seinerzeit, 1723, hatte man noch nicht so hohe Stücke auf den jetzigen Lieblingssohn gehalten. Man hatte zunächst bei Fasch, Graupner und, vielleicht in visionärer Hinsicht auf zukünftige Kommunikationsformen und deren Vermarktbarkeit, bei Telemann angeklopft, die ihnen damals als die ersten im Lande galten. Die erste Wahl aber hatte damals abgewunken, vermutlich hatten Fasch, Graupner und Telemann keine Lust, die im Vertrag wohl klein gedruckte Verpflichtung zu wöchentlichen Kantaten durchs ganze Kirchenjahr zu erfüllen. Das nämlich war der Leipziger Pferdefuß an der Stellenausschreibung gewesen. Bach war da nicht so wählerisch. Freilich war er den argwöhnischen Auguren schon in Arnstadt als misstönender Störer des geregelten Kirchenbetriebs aufgefallen. So war man skeptisch. O-Ton Leipziger Rat: „Da man die Besten nicht haben konnte, musste man auf Mittleres zurückgreifen.“ Das tat man denn auch, Bach wurde in Sold und Pflicht gestellt und heute freut sich Leipzig. Kantaten als QualWas damals dann folgte war eine Qual für Bach und vielleicht auch – ich bekreuzige mich ob des Frevels – für die Musikgeschichte. In knapp einem halben Jahrzehnt entledigte sich Bach weitgehend der Fronarbeit, wie besessen Musik schreibend um endlich wieder den Kopf zum Komponieren frei zu bekommen. Freilich hielt eine Erscheinung wie Bach auch unter solch angespannten Situationen qualitativ stand. Gleichwohl genügen viele Kantaten im Wesentlichen der Norm, die von Bach schon seit der Wende zum 18. Jahrhundert und dann wieder nach der Kantatenfron nachhaltig unterminiert worden war. Das Begreifen seines historischen Standorts – kein Komponist davor und danach erreicht hierin den Thomaskantor – setzte er nachdrücklich in musikalische Tat um, vielleicht ahnte Bach, dass es ihm oblag, Vergangenheit und Zukunft des abendländischen Musikbewusstseins an einer maßgeblichen Scharnierstelle zusammenzubinden. Die Kantaten, die mengenmäßig ein Gutteil des Gesamtschaffens ausmachen, treten hierbei an Bedeutung hinter manch andere Arbeiten Bachs.
Nun freilich muss es zum 250. Todestag der ganze Bach sein. Die Kantaten-Produktions-Maschinerien als maßgeblicher Anschubfaktor für die weiteren Werke sind schon warm gelaufen. Die Labels Hänssler und Teldec, die auf etwa 150 bis 175 CDs den ganzen Berg bewältigen wollen, bauen auf schon vorliegendem Kantatenfundus. Hänssler hat seinen leicht biederen Hausdirigenten Helmuth Rilling, Teldec setzt, ohnehin die Gesamtausgabe aus eigenen Lagerbeständen über Lizenzen bestückend, auf das etwas vergilbte Kantaten-Projekt von Nikolaus Harnoncourt mit den Wiener Sängerknaben. Wie seinerzeit Bach in Leipzig scheinen sich auch die Labels die Masse der Kantaten in einem großen Kraftakt vom Halse schaffen zu wollen. Man hofft vielleicht insgeheim, dass sich der Rest, mithin die Hauptsache, dann gewissermaßen von selbst ergibt. Unterfüttern lassen sich die Großprojekte durch Katastrophenmeldungen. Die Botschaften vor allem aus der Berliner Staatsbibliothek, dass Bachs Manuskripte zunehmend dem sogenannten Tintenfraß zum Opfer fallen, machen in diesen Tagen verstärkt die Runde. „Jedes Blatt ist ein Patient“, verlautet aus der Berliner Sammlung, die etwa 80 Prozent des kompositorischen Nachlasses von Bach verwahrt. Und jedes Blatt braucht eine andere Therapie. Nun kommt diese Meldung, die schon seit längerem bekannt war, zeitlich richtig platziert an die Öffentlichkeit. Wem immer wieder gesagt werden muss, wie schön und erhaben die Bachschen Werke sind, der ist auch empfänglicher für den Abglanz des Verfalls. Die Bedrohung fördert den Erwerbswillen. Und der ist selbstverständlich bei solch stattlichen Paketen zu etwa 2.000 bis 2.500 Mark schon massiv vonnöten.
Bach für alle
Ansonsten aber macht es Bach seinen Vermarktern relativ leicht. Selbst die Buchstaben seines Namens sind ja schon Musik. Kein zweiter Komponist (oder allenfalls noch Mozart) ist so eine Säulenheiligen-Instanz über fast alle Musiksparten wie er. Längst ist seine Musik in Jazz und Pop vorgedrungen und zeigte sich dabei als außerordentlich flexibel und anschmiegsam. Bach lässt sich swingen und rappen, er widersetzt sich nicht der Aufbereitung durch Computer oder andere elektronische Medien, er lässt sich auf Zither, Hackbrett oder Panflöte genauso spielen wie auf dem Synthesizer. Bach ist ebenso zu Hause bei Vertretern von „kopfiger“ Musik, wie von solcher, die aus dem Bauch kommt. So braucht man nur noch zwischen zwei Bach-Würfeln aus Nougat, dem neu kreierten Pendant zur Mozart-Kugel, den von der Werbung schon erprobten Satz einflechten: „Mein Bach, dein Bach, Bach ist für uns alle da!“ Was dabei raus kommt, ist meist so öde wie die Projekte eilig sind. Und gerade auf dieser Front wird im laufenden Jahr noch einiges auf uns eindrängen.
Der Name Bach fungiert hierbei als eingetragenes Markenzeichen. Sein Sig-net, der überall prangende und nun auch über Leipzig schwebende Perückenkopf des Sechzigjährigen wirkt wie ein Wertesiegel, das Qualität garantiert. Überzeugungskraft über Logo oder Signet, über schnelle Erkennbarkeit und über spontane Identifikation, zählt heute zur werbetechnischen Grundausstattung. So wie einst die Beethoven-Büste aus Gips auf dem bürgerlichen Flügel stand (wir erinnern uns an die enervierende Szene in Kagels Film „Ludwig van“ zu Beethovens 200. Geburtstag, wo aus einer Wanne unzählige aufgeweichte Büsten entnommen wurden); so prangt nun Bachs Perücke auf allen Artikeln der Marke Bach: Bücher, Noten, CDs, Plakate, Veranstaltungshinweise. Und die Branche rechnet bewusst damit, dass sich mit der Zahl der Signet-Kontakte auch die Verkaufszahl erhöht. Wir werden, in diesem Prozess befinden wir uns derzeit, auf Bach hin konditioniert. Der Pavlowsche Hund, dem auf ein Signal hin das Wasser im Magen zusammenläuft, dem der Appetit kommt, ist eines der Urbilder dieser Strategien. Ungezügelter Appetit aber schmälert das Urteilsvermögen und macht somit den Absatz leichter.
Die Menschheit macht schon seltsame Wendungen. In Leipzig war Bach zeit seines Wirkens wohl nie als der erkannt, der er war. Nach seinem Tod war er schnell total vergessen und wenn man nach 1750 vornamelos von Bach sprach, dann meinte man in erster Linie den Sohn Philipp Emanuel. Kein Marktstratege hätte zu dieser Zeit auch nur einen Gedanken auf Johann Sebastian verschwendet. Das Bachsche Denken pflanzte sich nur in engen Kennerkreisen fort, ehe Mendelssohn Bartholdy mit der Aufführung der Matthäus-Passion 1829 eine wohl ungeahnte Renaissance einleitete. Das erwachende historische Bewusstsein, dazu noch die Situation der romantischen Musik, die sich von dem Übervater Beethoven zu befreien suchte und sich deshalb dem strengeren Denken Johann Sebastian Bachs zuwandte, bereiteten die nächsten Schritte.
Bach wurde der Musikwelt gerettet, was freilich auch beruhigende Rückschlüsse auf die Überlebensfähigkeit von Qualität zulässt, zugleich aber begann die Tradition der Verfälschung eines historischen Bildes. Im Grunde hat erst die Originalklang-Bewegung der letzten 40 Jahre an der aufgelegten Tünche nachdrücklich gekratzt. Im Millenniums-Bach-Jahr aber dürfte sich voraussichtlich nur wenig um diesen aufklärerischen Duktus geschert werden. Man baut auf ein Bild, das sich aus hypostatuierter Größe und geradezu weltmusikhafter Verbindlichkeit zusammensetzt. Nach dem Beethoven-Jahr 1970, das mit ähnlichen Mechanismen operierte, wurde der Wunsch geäußert, dass die Musik Beethovens um ihrer selbst willen einige Zeit nicht mehr erklingen sollte. Auch nach dem Bach-Jahr dürfte der Wunsch nach solch reinigenden Maßnahmen wach werden. Bis zum nächsten, wohl kleineren Bach-Jahr sind es immerhin noch beruhigende 25 Jahre.