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Im Rhythmus der großen Pendlerströme

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Hochschulen für Kirchenmusik suchen gemeinsam neue Formen der Liturgie
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Mit einem gemeinsamen künstlerischen Großprojekt im Stuttgarter Hauptbahnhof leisteten die Hochschulen für Musik und Kirchenmusik aus Trossingen, Stuttgart, Tübingen und Rottenburg einen ambitionierten Beitrag zum Deutschen Evangelischen Kirchentag. Während der vier Tage des Kirchentages fanden an einem für die „Kunstausübung“ ungewöhnlichen Ort, im und am Stuttgarter Hauptbahnhof, fast rund um die Uhr musikalische, szenische und mediale Aktionen statt, die durch geistliche Andachten unterbrochen wurden. Beteiligt waren fast 150 Studierende und Dozenten. Den Abschluß bildete am 19. Juni ab 18 Uhr eine musikalisch-liturgische Nacht in der Frauenkirche Esslingen. Idee und Konzeption für das Projekt stammen von Orgel-Professor Christoph Bossert und Pfarrer Dr. Walter Eher vom Fachbereich Kirchenmusik der Trossinger Musikhochschule. Mit künstlerischen Mitteln wollten die Initiatoren zum Gedenken an die Opfer von Gewalt aufrufen: „Das 20. Jahrhundert ist durch eine Entfesselung der Gewalt gekennzeichnet. Zwei Weltkriege, die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und das kommunistische Regime im Osten haben die soziale Welt der letzten hundert Jahre geprägt.“ Die Dynamik von Gewalt, die hier regierte, kann nach Auffassung von Christoph Bossert und Walter Eller auch nicht spurlos an der Musik vorüberziehen. In Abwandlung des Kirchentagsmottos „Ihr seid das Salz der Erde“ fragen sie: „Und wenn das Salz kraftlos wird...?“ Zum Gedenken an die Opfer der Gewalt plazierten sie ihre Mahnung an einem Ort, der durch seine historischen Bezüge geeignet schien: im Stuttgarter Hauptbahnhof, über dessen Schwelle zwischen Vorhalle und Hauptgebäude ein „Kriegsengel“ schwebt. Erbaut in der Zeit des ersten Weltkrieges, war der Hauptbahnhof für ungezählte Menschen der Ort des In-den-Krieg-Ziehens. Andreas Kolb unterhielt sich mit Christoph Bossert über das Hochschulprojekt. nmz: Herr Bossert, wie nahmen ihre Studenten das Projekt auf? Christoph Bossert: Es gab quer durch alle Klassen eine enorme Unterstützung. Jedes der vier baden-württembergischen Kirchenmusikinstitute leistete seinen spezifischen Beitrag. Das Tübinger Institut mit dem Holliger Psalm zum Beispiel. Hervorheben kann man auch den Beitrag der Rhythmikklasse von Elisabeth Gutjahr in Trossingen sowie die Arbeit der Klasse von Hugo Noth aus Rottenburg. Die Stuttgarter Chorklasse von Dieter Kurz interpretierte die Matthäuspassion ganz hervorragend. Von Trossinger Seite war die Aufführung der „Cantiones in circulo cirante“ von Klaus Huber ein bemerkenswerter Kraftakt. Ein großer Wert der Aktion liegt darin, daß die Institute auf diese Weise überhaupt kooperiert haben. nmz: Ist die Aktion beim Publikum, wenn man davon in einem Bahnhof sprechen kann, angekommen? Sie standen auch in Konkurrenz zu einem musikalischen Überangebot während des Kirchentags. Bossert: Wir hatten immer wieder Publikumsmagneten, bei Aufführungen des Wohltemperierten Klaviers oder der Matthäuspassion zum Beispiel. Man darf nicht unterschätzen: Ein großer Teil der Kirchentagsbesucher kam über den Hauptbahnhof und kam dadurch mit unserem Projekt in Berührung. Was ich ganz hoch veranschlagen möchte, sind die Eintragungen in unser Buch zum Gedenken an die Opfer der Gewalt. Es waren beeindruckende und berührende Dokumente, die da niedergelegt wurden. nmz: Zum Kirchentag legten Sie und Walter Eller ein kirchenmusikalisches Manifest vor. Erfüllt ihr Projekt die Kriterien, die Sie im Manifest aufstellen? Bossert: Das, was uns bei der Ausarbeitung dieses Konzeptes bewegt hat, und das, was wir dann als Quintessenz im Manifest formulierten, ging Hand in Hand. Wir sehen vor allem einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Kunst und Liturgie. Was sich in dem Wechselspiel von Andachten, Lesungen, Aufführungen an Beziehungsebenen eröffnet, das ist für uns eigentlich das Verständnis von lebendiger Liturgie. Der Begriff der Lebendigkeit hat für uns oberste Priorität. (siehe auch Abdruck des Manifestes auf Seite 44) nmz: Die Halle des Stuttgarter Hauptbahnhofs weckt zwar in ihren Dimensionen Erinnerungen an einen Sakralbau, vielleicht an eine Kathedrale. Dennoch ist es ein profaner Ort. Mit welcher Absicht sind Sie mit ihrem Projekt in den Hauptbahnhof gegangen? Bossert: Das Grundanliegen war, ein Signal zu setzen: Wir wollen keine abgehobene Sache betreiben, sondern zeigen, wie sehr Kunst mit dem Leben selber und seinen Schnittlinien zu tun hat. Man konnte sich von den Menschen im Hauptbahnhof, von den Prozessen, die durch diese Menschen in Bewegung gesetzt wurden, regelrecht tragen und inspirieren lassen. Es gab auch immer wieder direkte, wohltuende menschliche Begegnungen. Fazit: Das Ganze hat uns glücklich gemacht, und alle Initiatoren und Mitwirkende sind sich einig, daß das Projekt nach einer Fortsetzung schreit.

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