Poesie ist das Wesen von Younghi Pagh-Paans Musik, in jedem ihrer Werke als ganz eigene Farbe einer Situation, einer Handlung, eines Bildes präsent. „Poesie, Image und Stimme“ nannte sich auch ein Symposium, das zum 70. Geburtstag der koreanischen Komponistin in Berlin veranstaltet wurde.
Es stand unter der Leitung der koreanischen Musikwissenschaftlerin Shin-Hyang Yun, doch mit Ausnahme des in Montreal lehrenden Komponisten Sandeep Bhagwati kamen die übrigen Referenten aus Deutschland – schon dies ein Symptom für die vielschichtige Verortung dieser Künstlerin. Schnell wurde auch deutlich, dass der Begriff „Poesie“ nicht im einschlägigen Sinne zu verstehen war, schon gar nicht als Klischeevorstellung von „asiatischer“ Kreativität – also keine Pinselstriche, Lotosblüten, Schmetterlinge. „Ich denke immer, auch Komponisten müssen die Augen und Ohren offenhalten für das Geschehen in der Welt, in der wir leben; ich kann nicht einfach darüber schreiben, wie schön die Blumen sind, oder nur Meditation komponieren“, bekannte sich Pagh-Paan später im Gespräch zu einer Kunst der Auseinandersetzung.
L‘art pour l‘art“ ist nichts für diese energiegeladene Frau, die 1945 im südkoreanischen Cheongju als Tochter eines Brückenbauingenieurs geboren wurde. Der Vater spielte für sie Bambusflöte, sie sang für ihn, nachdem er nach dem Verlust zweier seiner Söhne im Koreakrieg schwermütig geworden war. Das waren erste musikalische Anregungen in einer Familie, die nicht unbedingt künstlerisch ausgerichtet war, aber Wert auf Bildung legte. Also lernte Younghi auch Klavierspielen, wie dies für Mädchen aus gutem Hause ähnlich wie im Deutschland des 19. Jahrhunderts üblich war, und schloss erste Bekanntschaft mit der europäischen Kunstmusik. Weit stärkere Impulse aber gingen von den Pansori-Sängern auf dem Markt ihrer Heimatstadt aus, die ihre episch langen traditionellen Gesänge auf einer Fasstrommel begleiteten. Nicht nur Pagh-Paans Vokalmusik ist bis heute davon geprägt. Doch ihre koreanischen Wurzeln entdeckte sie nach einer Ausbildung an der Universität Seoul erst während des Studiums bei Klaus Huber in Freiburg, konnte sie von da an für eine eigene, das westliche Vokabular modifizierende Sprache fruchtbar machen. Seit dem Orchesterstück „Sori“ ist ihr Schmerz und zornige Anklage fast immer eingeschrieben: Während der Arbeit sah Pagh-Paan die Fernsehbilder der brutalen Niederschlagung der südkoreanischen Demokratiebewegung – und änderte radikal ihr Konzept. Das Werk verschaffte ihr den Durchbruch in Donaueschingen 1980.
Seit dem frühen Tod des Vaters hat die damals Dreizehnjährige nie wieder gesungen. „Doch ich sang innerlich“ – und tatsächlich sind Stimme und Laut, Wort und Phonem, ob gesungen oder gesprochen, Kennzeichen fast aller ihrer Stücke. Fast immer ist das Sujet ein Literarisches: „Ich liebe Literatur; als Kind habe ich ununterbrochen gelesen, und damals wollte ich Schriftstellerin werden.“ Das geht so weit, dass dem Werk „Dorthin, wo der Himmel endet“ ein ins Deutsche übertragenes chinesisches Gedicht zugrunde liegt, dem zwar der Titel und die grundlegende Idee des Stückes entnommen, das jedoch, anders als koreanische und deutsche Texte sowie eine fast nur noch als phonetisches Klangband formulierte Klage der altgriechischen Sagenfigur „Io“(nach Aischylos), nicht vertont wurde. Andreas Meyer von der Musikhochschule Stuttgart bezeichnete dieses Werk mit seinem Nebeneinander verschiedener Sprachen als exemplarisch für Pagh-Paans „hybride“ Ausdrucksweise, die (eigene) Situation von Fremdheit und Heimatlosigkeit auszudrücken. Laut Meyer zielt der Begriff „kulturell hybrid“ (=vermischt) auf die Theorie des Postkolonialismus-Forschers Hami Bhabba eines „dritten Ortes“, in dem sich verschiedene Ebenen eines vorübergehenden Heims und eines historischen Ortes vermischen, ein Nicht-Ort, Utopie also. „Ich wohne in Deutschland und lebe doch in meiner Heimat“, sagt die Komponistin dazu, wobei sie mit „Heimat“ eher die sie umgebenden Menschen meint als einen bestimmten Ort – Utopie allemal. Dass man Distanz braucht, um die Qualität eines Aufenthalts, eines Beziehungsnetzes überhaupt erkennen zu können, fügt sie hinzu – im Vertrauten ist das Fremde aufzusuchen, Emanzipation im Fremden zu betreiben. Wo einer überhaupt hingehört, welche Wurzeln sich durchkreuzen, wird zunehmend brisant. Die Gestalt der „Io“, die vor dem ihr nachstellenden Zeus bis nach Ägypten floh, wo sie zur Fruchtbarkeitsgöttin Isis wurde, beschäftigt sie jetzt wieder. „Sie ist eigentlich der erste Flüchtling der Geschichte – ein schlechtes Wort, ‚Schutzsuchende‘ sollte man besser sagen.“
„Ne Ma-Um“ für Akkordeon, von Frank Böhme (Hamburg) vorgestellt, bedeutet koreanisch „Mein Herz“ und umschließt als geheimen, ungesagten Inhalt das Gedicht „Mein Herz“ des Österreichers Hans Carl Artmann, welcher der Überzeugung war, man könnte Dichter sein, ohne jemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben. Die Mystik der Simone Weil vereint sich hier für Pagh-Paan mit der fernöstlichen Weisheit, die die „übernatürliche Freiheit“ als „unendlich Kleines“, das Ganze im Nichts sieht. Ein zartes, klangsensibles Stück, dennoch wichtiger Vorläufer der Kammeroper „Mondschatten“, die mit Sophokles’ „Ödipus auf Kolonos“ den Konflikt der Generationen thematisiert – Pagh-Paan bekümmert die hohe Selbstmordrate älterer Ehepaare in Korea. „Warte nur, balde“ erklang nach der Tagung als Uraufführung der Neufassung von 2015; das berühmte Goethe-Gedicht hatte die Komponistin als Kind auf koreanisch auswendig gelernt und es wie ein buddhistisches Gebet empfunden. Der fremden Sprachgestalt fügt sie erstmals altkoreanische Instrumente, die Bambusflöte Daegeum, die zweisaitige Geige Haegeum und die Zither Gayageum hinzu; zusammen mit Sopran, Violoncello und Glissandoflöte entsteht nicht exotische Buntheit, sondern die Beklemmung stiller langer Linien, – aber die einander so fremden Instrumente „haben sehr gut miteinander gelebt“, meint Younghi Pagh-Paan.
„Flammenzeichen“ für eine sich selbst mit Schlagwerk begleitende Frauenstimme befasst sich mit dem Widerstand der „Weißen Rose“. Sandeep Bhagwati deckte die unterschiedlichen Elemente theatraler Traditionen auf, die ebenso Operngesang wie die Pansori-Tradition oder gesprochene Sprache umfasst – dies jedoch immer nur momentweise, fragmentarisch, direkt gegeneinander geschnitten. Pagh-Paan hatte zunächst Skrupel, das komplexe Thema anhand eines von ihr ausgewählten Extraktes aus Flugblättern, Bibelstellen und letzten Briefen zum Tode Verurteilter in Kunstmusik zu setzen. Schon gar nicht eine der massenwirksamen, agitatorischen Art. „Ich sehe mich nicht als politische Komponistin“, sagt die einem buddhistisch angehauchten Katholizismus zuneigende Künstlerin, die sich gerade mit der Vertonung der „Sieben Worte Jesu am Kreuz“ beschäftigt. „Ich bin nicht so mutig, und Mut hat auch viele Facetten. Was wir heute brauchen, ist nicht Mut, sondern Liebe, Nächstenliebe. Mein Beitrag ist nur eine Meinungsäußerung, wie eine bestimmte Situation auf mich gewirkt hat.“ Ihre Musik, davon ist sie überzeugt, kann die Welt nicht ändern, und doch gibt sie dem Hörer immer wieder die Chance zur Nachdenklichkeit, Begegnung mit seinen Gefühlen, Entdeckung faszinierender klanglicher Schönheit.