Habent sua fata termini – auch Begriffe haben ihre Schicksale. Sie tauchen auf, machen kleine oder große Karrieren, bleiben länger, bleiben kürzer oder verlieren sich wieder. Rund um die Definition von Behinderung, um die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen, rund um Unterricht und Therapie und um Inklusion sind lange Jahre viele Diskussionen mit zahlreichen Wortschöpfungen geführt worden. Die allgemeine Pädagogik und Didaktik spricht von Heil-, Sonder- und Förderpädagogik, von inklusiver Pädagogik und inklusiver Didaktik und von umfassender Inklusion. Die fächerbezogene Didaktik und Methodik spricht von adaptivem Unterricht, von innerer Differenzierung und Individualisierung. Die pädagogische Tätigkeit oszilliert in ihrem Selbstverständnis gelegentlich zwischen pädagogischem, therapeutischem und pädagogisch-therapeutischem Handeln.
Diverse Voraussetzungen
Die Grenzöffnungen nicht nur innerhalb des Schulsystems – Stichwort Migration und Inklusion – lassen Klassen oder Lerngruppen entstehen, deren Schülerinnen und Schüler auf vielen Ebenen hoch Unterschiedliches mitbringen: unterschiedliche Beeinträchtigungen und Extremerfahrungen, unterschiedliche Erfahrungen mit dem häuslichen Erziehungsstil, unterschiedliches kulturelles Kapital und als Folge von alldem auch unterschiedliche Lernvoraussetzungen. Das System Schule braucht angesichts der Entwicklungen nicht nur Antwort von außen, von der Sozialarbeit über die Erziehungsberatung bis zum Gesundheitswesen, es muss auch Antworten von innen heraus geben. Aber was kann die Schule leisten? Was ist ihr – erweiterter – Auftrag? Kann, darf, muss Schule nicht nur Unterricht, sondern auch Therapie?
Auch Musiktherapie?
Es ist noch nicht lange so, aber die Antwort ist: im Prinzip ja. Das Beispiel der Freien und Hansestadt Hamburg zeigt, wie es gehen kann. Die hamburgische Behörde für Schule und Berufsbildung formuliert in den „Grundlagen und Handreichungen für inklusive Bildung und sonderpädagogische Förderung“: Die Umsetzung der inklusiven Bildung auf der Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention sieht, wie in § 12 HmbSG verankert, eine ganzheitliche Leistungserbringung zur Sicherstellung von Teilhabe und fairen Bildungschancen vor. Dazu gehören für einzelne Kinder und Jugendliche Therapieangebote unterschiedlicher Art (Logopädie, Physiotherapie, Ergotherapie und Psychotherapie) durch therapeutische Fachkräfte auf ärztliche Verordnung, die während des Ganztages in den allgemeinen Schulen realisiert werden können. Der weitere Textverlauf des Dokumentes erläutert den Weg: Einbindung der Eltern – ärztliches Rezept – Zusammenarbeit mit therapeutischen Fachkräften – Therapieort innerhalb oder außerhalb der Schule – Antragsformular und anderes mehr.
Musiktherapie kommt in diesem Kontext nicht vor. Das überrascht nicht, denn sie ist im Heilmittelkatalog nicht enthalten – ganz generell ein für die Musiktherapie großes Hindernis. Musiktherapie kann nicht über den Heilmittelkatalog verschrieben und nicht über die Krankenkasse abgerechnet werden. Seltene Ausnahmen der Kassen bestätigen die Regel. Welchen Weg in Sachen Musiktherapie und Schule hat Hamburg nun beschritten?
Die Jugendmusikschule – ebenfalls in der Zuständigkeit der hamburgischen Behörde für Schule und Berufsbildung – hat einen professionellen Fachbereich Musiktherapie eingerichtet, vertreten durch akademisch ausgebildete Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten, die „ein niedrigschwelliges Hilfs- und Unterstützungsangebot für Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf oder spezifischen Schwierigkeiten“ bereitstellen. Musiktherapie ist also Teil des Unterrichtsangebots der Jugendmusikschule. Die Kosten entsprechen den Gebühren und Bedingungen der Musikschule für Einzel- oder Gruppenunterricht. Wie in vielen anderen Musikschulen auch, kann freilich ein Antrag auf Ermäßigung oder Erlass gestellt werden. Über die Kooperation von Schule und Musikschule wird Musiktherapie vielleicht nicht unbedingt im Ort der eigenen Schule, aber letztlich im Kontext Schule möglich – in klarer Rollentrennung und in klarer situativer Trennung. Unterricht ist Unterricht und Therapie ist Therapie.
Mit Begriffen komponieren
Das war nicht immer so. Das große und manchmal etwas verschwurbelte Thema Musik und Emotion, die vermuteten oder tatsächlichen Transferwirkungen der Musik und der Wunsch zu fördern und zu helfen ließen manche Konzepte entstehen, deren Autorinnen und Autoren die Musik in schulischen und außerschulischen Kontexten zum gemischt-pädagogischen und therapeutischen Einsatz brachten. Vor allem in den Jahren, in denen „Behinderung“ und „Therapie“ noch sehr nahe zusammengedacht waren, entstanden sowohl von Seiten der Pädagogik als auch von Seiten der Therapie Konzepte mit immer neuen Komposita: Sonderpädagogische Musiktherapie, heilpädagogische Musiktherapie, pädagogische Musiktherapie, therapeutischer Musikunterricht, therapeutisches Musizieren, musikalische Heilpädagogik, Musiktherapie als Heilpädagogik, Musiktherapie als Fördermaßnahme, heilpädagogisch-musiktherapeutische Förderung – kaum eine Zusammenstellung aus den Grundbegriffen Sonderpädagogik, Heilpädagogik, Unterricht, Förderung oder Therapie, die ausgelassen wurde.
Die meisten dieser Begriffe sind wieder verschwunden oder führen heute ein eher wenig spektakuläres Leben. Von Seiten der Musiktherapie gibt es allerdings immer wieder Vorstöße in Richtung Schule: „Musiktherapie in der Schule“ titeln die Veröffentlichung von Rosemarie Tüpker, Natalie Hippel und Friedemann Laabs im Jahr 2005 und ein Themenheft der Zeitschrift Musik und Gesundsein im Jahr 2012, „Musiktherapie als Fördermaßnahme in der Schule“ erscheint 2014 als Promotion von Eric Pfeifer, heute Professor an der Katholischen Fachhochschule Freiburg und „Musiktherapie in pädagogischen Settings“ wird als Ergebnis einer Fachtagung im Jahr 2017 veröffentlicht. Hin und wieder erscheinen Artikel zum Thema in der Musiktherapeutischen Umschau, dem Berufsorgan der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft. Hier sprechen Positivbeispiele für die Wirksamkeit der musiktherapeutischen Arbeit in strukturellen Sondersituationen in der Schule und/oder in Forschungsprojekten; immer wieder taucht aber auch die Klage über die geringe Resonanz auf Musiktherapie von Seiten der Schule im ganzen deutschsprachigen Raum auf.
Selbstverständlich geworden ist heute in allen Argumentationen rund um Unterricht und Therapie der Aspekt der Rollen- und Beziehungsklarheit. Das Gütekriterium des „Safe Place“ gehört zum Feld der Therapie und meint ebenso den ungestörten Raum wie die vertrauensvolle therapeutische Beziehung. Probehandeln im therapeutischen Raum ist anders experimentell als die Improvisation im Unterricht – Therapie„empfänger“ dürfen meist mehr und anders „testen“ als im Unterricht. Experimentieren mit Instrumentalklängen – können das nicht Therapie und Unterricht in gleicher Weise? Passiert nicht in Unterricht und Therapie Gleiches oder Ähnliches? Gibt es nicht genügend Spielliteratur „für Unterricht und Therapie“? Als Beispiel ein psychotherapeutisch orientiertes Spielmodell aus der Sammlung „trommelnderweise“ von Wolfgang Meyberg. Das Setting: In einer Runde sitzen Kinder oder Jugendliche, jede Person hat eine Conga vor sich. Die Regel: Alle trommeln wie sie wollen – hebt dann jemand aus dem Kreis die Hände und ruft laut „stop“, hören alle so lange auf, bis der Rufer oder die Ruferin die Hände wieder sinken lässt und weiterspielt. Das kann gut und lange so gehen, bis alle dran waren, die möchten – das Spiel ist energetisch außerordentlich aufladend. Was macht den Unterschied zwischen Unterricht und Therapie? Im Unterricht geht es vielleicht um Spiel und Nichtspiel, um Aktion und Pause, um Trommelklang und Trommelbau, um die Auseinandersetzung mit musikalischer Regelhaftigkeit oder Regelfreiheit. Im therapeutischen Setting geht es vielleicht um das „Stop“ selbst: Was passiert, wenn ich „stop“ sage? Welche Erfahrungen habe ich gemacht, wenn ich laut oder leise oder fast unhörbar oder überhaupt nicht „stop“ gesagt habe? Kann ich das „Stop“ ausprobieren, kann ich mich trauen, kann ich üben, mich zu trauen? „Stop“ sagen beim Trommeln als Probehandeln für das richtige Leben… da wäre Unterricht vielleicht doch nicht der richtige Rahmen.
Musikunterricht und Inklusion: Ja, wir brauchen professionell-guten, inspirierten und inspirierenden Unterricht für die Situation des gemeinsamen Lernens – und wir brauchen in der Praxis kein Sparprogramm, sondern angemessene Bedingungen. Der Satz zum (Musik-)Unterricht „Wir brauchen keine Sonderpädagogik, wir brauchen nur eine besonders gute Pädagogik“, vor zehn Jahren von der Autorin so oder so ähnlich in dieser Zeitung formuliert, hat im Übrigen für ein gründliches Missverständnis gesorgt: Gemeint war natürlich nicht die Abschaffung der pädagogischen Qualitäten und Kompetenzen, die von der Sonderpädagogik in das System Schule eingebracht werden, sondern gerade umgekehrt die Erweiterung des musikpädagogischen Handlungsrepertoires aller Lehrenden um sonderpädagogische Grundkompetenzen, die ja gleichzeitig allgemeine, die ja gleichzeitig normale pädagogische Kompetenzen sind. Ja, alle Lehrerinnen und Lehrer brauchen heute ein Grundwissen über die Vielfalt der Lernbedingungen und ein breites Repertoire musikpädagogischen Handelns für das Unterrichten einer nicht-homogenen Schülerschaft. Die Grundlagen hierzu werden idealerweise im Studium gelegt: Es ist Aufgabe der Hochschulen, die Lehramtstudierenden auf die berufliche Realität vorzubereiten und mit musikalischen und musikpädagogischen Kompetenzen für einen Unterricht auszustatten, den sie wiederum gerne und erfolgreich erteilen. Gemeint ist ein Musikunterricht für alle, der fordernd und fördernd dazu beiträgt, dass aus Schülerinnen und Schülern früher oder später Kulturnutzer, Kulturgenießende und Kulturproduzent*innen werden.
- Die Autorin ist Professorin im Ruhestand für das Lehrgebiet Musikerziehung und Musiktherapie in Pädagogik und Rehabilitation bei Behinderung an der Universität Dortmund