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Kantable Polyphonie, erlesener Klangsinn

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Zu seinem 400. Geburtstag ist Johann Jacob Froberger als Visionär der Klaviermusik zu entdecken
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Johann Jacob Froberger, geboren am 18. Mai 1616 in Stuttgart, gehört – wie beispielsweise der 100 Jahre zuvor geborene Cypriano de Rore, aber auch spätere Komponisten wie Ferruccio Busoni, Max Reger, Henri Dutilleux, Alberto Ginastera, Karl Birger Blomdahl oder Bernard Stevens – zu den bedeutenden Jubilaren des Jahres 2016. Eigentlich hätte Frobergers Geburtstag Anlass zu weitbeachteten Werkpräsentationen sein müssen, denn noch Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart haben seine Musik studiert, und die Entwicklung der Klaviermusik hat von ihm entscheidende Impulse empfangen.

Froberger steht für das Paradox, unter Fachleuten in aller Munde und in der geschäftigen Musikwelt ein Unbekannter zu sein. Nicht ganz unschuldig daran ist die mittlerweile extreme Aufsplittung in Szenen: „normales“ Konzertleben, Alte Musik und Neue Musik. Frobergers Werke werden – wie auch jene von Chambonnières – heute quasi ausschließlich auf dem Cembalo oder der Orgel dargeboten, anders als etwa diejenigen von Frescobaldi, François Couperin, Bach und Söhnen, Domenico Scarlatti, Händel oder Rameau. Auch ist seine Musik nicht in weltweit bis heute von Laien gespielte Sammlungen wie das „Fitzwilliam Book“ eingegangen, was – neben dem Engagement von Pianisten wie Glenn Gould – Meistern wie William Byrd und Orlando Gibbons, aber auch Farnaby oder Bull zu beträchtlicher pianistischer Popularität verhalf.

Zumal für die Angelsachsen stand er zudem stets im Schatten seines großen Lehrers Girolamo Frescobaldi, und es kommt erschwerend hinzu, dass jene polyphonen Kompositionen Frobergers, deren Ausführung weitestgehend der Orgel obliegt – also die Capricci, Ricercaren, Fantasien und Canzonen –, tatsächlich nicht seine hauptsächliche Errungenschaft darstellen, wodurch er bei den Organisten klar im Schatten von Sweelinck, Frescobaldi, Buxtehude oder auch Pachelbel steht. Denn seine bedeutendsten Werke sind die circa 30 anfangs drei-, dann viersätzigen Partiten (oder Suiten), die in ihrer zierreich durchbrochenen Faktur (dem style brisé) so ideal fürs Cembalo geschaffen sind, wie ein halbes Jahrhundert später dann die kleinen Tondichtungen François Couperins. Es ist jedoch ein grober Fehler, dass sich die Pianisten nicht trauen, Froberger in Konzerten und auf Tonträger vorzutragen. Man muss ja nur zu unterscheiden wissen, welche seiner Stücke fürs Klavier geeignet sind und bei welchen der liegende Orgelklang idiomatischer Bestandteil ist. In Klavierrecitals einbezogen, würden Frobergers herrliche Partiten bald zu Lieblingen des allgemeinen Publikums avancieren und keine Spezialangelegenheit der Alte-Musik-Szene bleiben.

Der Bärenreiter-Verlag hat nun rechtzeitig zum Jubiläum eine elfbändige Gesamtausgabe der Werke Frobergers, akribisch ediert und mit einem vorläufigen Werkverzeichnis versehen von Siegbert Rampe, abgeschlossen. Daraus erfahren wir zuerst, dass auch die Gesamtausgabe als vorläufig anzusehen ist. Nur zwei der wunderschönen autographen Manuskripte Frobergers liegen vor (die 2. und die 4. Suitenfolge, was zumindest auf das Fehlen der 1. und 3. Folge schließen lässt), und das einzige weitere Autograph, das vor einiger Zeit aus der Versenkung auftauchte, ist umgehend wieder verschwunden: es wurde bei Sotheby’s versteigert und befindet sich in unbekanntem Privatbesitz, konnte also auch nicht in diese kritische Neuausgabe einbezogen werden. Alle anderen Werke sind nur in Abschriften vorhanden, und da Frobergers Ruhm noch auf die nächsten zwei Jahrhunderte ausstrahlte und sein Stil viel imitiert wurde, ist oft kaum unterscheidbar, ob es sich tatsächlich um eine Abschrift oder um die Unterschiebung einer Stilkopie handelt. Das erinnert ein wenig an Pergolesi! Und daher rechnet Rampe realistisch damit, dass den bisherigen Gesamtausgabe-Bänden zu gegebener Zeit weitere nachfolgen werden.

Wer sich bereits mit Froberger beschäftigt hat, dürfte so einige Schwierigkeiten haben, sich in der sicherlich plausiblen, aber eben auch schwer überschaubaren Neuordnung Rampes zurecht zu finden – hier wären zusätzliche Hinweise auf die bisherigen Nummerierungen vor allem der Partiten und ein entsprechendes Verzeichnis zum schnelleren Auffinden sehr hilfreich gewesen. Das soll den Wert dieser Neuedition keineswegs mindern – sie ist jetzt die Referenzausgabe –, aber wer zum Beispiel die passenden Noten sucht, wenn er bei einer Aufnahme von Bob van Asperen oder Glen Wilson mitlesen möchte, darf sich eingehend vorbereiten, um sich nicht nach jedem Stück durch das ganze Verzeichnis wühlen zu müssen. Es wäre also dienlicher, die Errungenschaften der Vorgänger – auch wenn diese als unzureichend betrachtet werden – mit einzubeziehen und die Geschichte sanft neu zu schreiben.

Ansonsten ist nichts zu beanstanden. Rampe hat exzellente Arbeit geleistet, hat den überall drohenden Druckfehlerteufel ins Exil geschickt und eine erstaunliche Sammlung an bekanntem und neu erschlossenem Material vorgelegt. Hier ist viel zu entdecken – vor allem für die Cembalisten und Pianisten, und letztere sollten sich unbedingt zur intensiven Beschäftigung anregen lassen: Es gibt nicht viel Musik aus der Zeit vor Bach – oder genauer: zwischen Frescobaldi und François Couperin –, die einen solch filigran-fragilen Zauber versprüht und zugleich in ihrer relativen Schlichtheit eine solche Tiefe erreicht. Bei Froberger war die viersätzige Partita interessanterweise noch in der Satzfolge langsam-schnell-schnell-langsam angeordnet: Allemande, Gigue, Courante, Sarabande.

Höhepunkte sind wohl die ausladenden, oft programmatisch überschriebenen, in ihrem ornamentischen Reichtum – der auf wunderbare Weise die Primitivität der Taktschwerpunkte überströmt – erstaunlich kohärent geformten Allemanden, die ihrem Gewicht nach dem entsprechen, was später eine französische Ouverture sein sollte. Hier zeigt sich die ganze Einmaligkeit Frobergers, auch eben das, was sich sowohl von Frescobaldi als auch von den anderen italienischen, französischen oder deutschen Meistern abhebt, oder besser: ihn in einer fusionierenden Weise, wie dies später auch bei Bach zu beobachten ist, über sie erhebt. Es ist eine Musik, die die Innigkeit der chromatisch durchtränkten, kantabel weitgezogenen Polyphonie Frescobaldis vereinigt mit der erlesen-klangsensiblen Verspieltheit der Franzosen und der geradlinigen Essenzsuche der Deutschen.

Der Abschlussband umfasst neben dem dringend benötigten, mit den Noten der Satzanfänge illustrierten Werkverzeichnis den verschwindenden Rest, der sich von Frobergers Ensemblemusik erhalten hat. Alles andere ist fürs Klavier geschrieben – welche Parallele zu Chopin. Im ersten Band findet sich außerdem eine kompakte, sachlich-ehrliche Biografie seines durchaus abenteuerlichen Lebens, das 1667 in Montbéliard am Hof der geliebten Herzogin Sibylla im Gebet endete – auf neuestem Stand, woraus vor allem hervorgeht, wie viel noch zu erforschen und entdecken wäre.

Demnächst werden wir an gleicher Stelle die neue, gleichfalls bei Bärenreiter erscheinende Urtext-Edition der Orgel- und Clavierwerke Frescobaldis vorstellen, mit der Aufforderung zumal an die Pianisten, allmählich den Weg zurück in der Zeit – von Bach und Scarlatti über Couperin, Chambonnières und Froberger zu den Meisterwerken am Übergang zur sogenannten Epoche des Barock – zu finden und die Wurzeln dessen zu entdecken, was ihr Kernrepertoire bildet. Auf diesem Wege ist Froberger als Visionär der neuen Klaviermusik eine der zentralen und wesentlichsten Erscheinungen. Der große deutsche Pianist und Komponist Eduard Erdmann hielt „Froberger und Buxtehude unter den Orgel- und Klaviermusikern für die bedeutendsten Vorgänger Bachs“, um über Froberger fortzufahren: „Die Frage, was ihn beeinflusst hat, wird dadurch für seine ästhetische Einschätzung ganz unwesentlich, dass seine Suiten, so wie sie sind, in gar nicht zu verwechselnder Weise Äußerungen und Manifestationen eben dieser einmaligen und besonderen Persönlichkeit sind.“

Johann Jacob Froberger: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Bärenreiter Urtext. Hrsg. von Siegbert Rampe. Bärenreiter-Verlag.

Band I: Libro Secondo (1649). BA 8063. € 44,50
Band II: Libro Quarto (1656) – Libro di Capricci e Ricercate (ca. 1658). BA 8064. € 46,50

Clavier- und Orgelwerke abschriftlicher Überlieferung:

Band III.1: Partiten und Partitensätze, Teil 1a. BA 8065. € 58,–
Band III.2: Partiten und Partitensätze, Teil 1b. BA 8435. € 50,–
Band IV.1: Partiten und Partitensätze, Teil 2. BA 8066. € 58,–
Band IV.2: Partiten und Partitensätze, Teil 3. BA 8434. € 56,–
Band V.1: Toccaten. BA 9211. € 49,95
Band V.2: Polyphone Werke. BA 9212. € 52,–
Band VI.1: Neue Quellen, neue Lesarten, neue Werke 1. BA 9213. € 42,95
Band VI.2: Neue Quellen, neue Lesarten, neue Werke 2. BA 9269. € 42,95
Band VII: Ensemblewerke und Verzeichnis sämtlicher Werke (FbWV). BA 9298. € 49,95
Paket: alle elf Einzelbände. BA 9299. € 399,–

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