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Georges de La Tour: Schlägerei der Musikanten. 1625–1630, Öl auf Leinwand, 94,4 × 141,2 cm
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Kastriert Kapitalismus Kreativität? – Brigitta Muntendorf & Michael Höppner

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Umfrage der nmz
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Unter dem Titel „Wieviel Ökonomie braucht die Musik?“ findet am Freitag, 20. Oktober 2017 der öffentliche Teil der Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrats statt. Im Rahmen der Veranstaltung soll vor allem das Zusammenwirken von kultur-, markt- und gesellschaftspolitischen Aspekten beleuchtet werden. Im Zentrum steht unter anderem folgende Frage: „Inwiefern kann die zunehmende Ökonomisierung unserer Gesellschaft mit künstlerischer Kreativität vereinbart werden?“ Die nmz-Redaktion ließ sich vom Thema zu einer Umfrage unter Kreativen inspirieren. Etwas verschärft fragten wir „Kastriert Kapitalismus Kreativität?“

Ich-Ideal als neues Gesicht

Der Kapitalismus hat sich rausgeputzt. Statt Heuschreckenkostüm und Konkurrenz-Attitüde erscheint er heute im radikal-libertären, individualistischen Kreativdesign. Einst versprach er Freiheit und Macht durch Reichtum, heute verspricht er Freiheit und Erfolg durch Selbstverwirklichung. Der klassische Industriekapitalismus ist nun ein ästhetischer Kapitalismus. Statt auf Konkurrenz setzt er auf Kreativität und trifft damit ins Mark von Mensch und Markt. Durch Mystifizierung des Selbst und dessen Verwirklichung in kreativen Tätigkeiten konstituiert der ästhetische Kapitalismus den Lebensbereich „Sinnsuche“ als neuen Markt und ermöglicht seinen Marktteilnehmern, von der gesellschaftlichen Norm abzuweichen und sie gleichzeitig mus­tergültig zu erfüllen. Hier wirken die Creative Industries Google, Apple, Facebook & Co, die „kreatives Denken“ unter dem Aspekt der Gewinnmaximierung fördern und unkonventionelle Lebensläufe in Büros mit Freizeitoptik hinsichtlich unkonventioneller Optimierungsstrategien ausschlachten. Eine Strategie, die jedem Menschen scheinbar die Möglichkeit zur Entäußerung bietet – aber natürlich unter der Voraussetzung, dass sich die kreativen Tätigkeiten und Produkte flexibel, dynamisch und geschmeidig in das marktkompatible Modell von Angebot und Nachfrage einfügen.

Entäußerung meint jedoch im ursprünglichen Sinne, dass sich das Selbst durch geistige oder körperliche Arbeit in einem Objekt manifestiert, etwa der Künstler im Kunstwerk, und darin aufgehoben ist. Hier zeigt sich Kreativität als das Vermögen des Menschen, schöpferisch tätig zu sein. Der traditionelle Kapitalismus hat alle Lebensbereiche in Märkte und alle Lebenden in Marktteilnehmer verwandelt. Innerhalb dieser Märkte muss Kreativität nun profitabel sein. Der kreative Akt als Verbindung von Subjekt und Welt, von Individuum und Gemeinschaft wird in seinem Wesen ausgehöhlt und als Label für die Erhaltung und Optimierung des Marktes missbraucht. Das kreative Schaffen findet somit innerhalb einer Knechtschaft statt und scheinbare Entäußerung ist nichts anderes als Entfremdung.

Der aktuelle Kapitalismus hat ein neues Phänomen evoziert: Nicht nur das kreative Erzeugnis wird als Ware gehandelt, sondern der Mensch wird selbst zur Ware. In dem Glauben an Entäußerung entwickelt er eine intrinsische Motivation, deren Konsequenzen die Selbstoptimierung und damit zusammenhängend auch die Selbstinszenierung sind. „Arbeit“ wird als Tätigkeit durch „Sein“ ersetzt und demzufolge bedeutet „Scheitern“ auch nicht Arbeitsverlust, sondern eine zerstörte Existenz. Anders formuliert: Der aktuelle Kapitalismus zwingt den Menschen dazu, seine Kreativität hinsichtlich Selbstoptimierung und Selbstinszenierung für sich selbst zu verbrauchen.

An dieser Stelle muss dem Künstler gesellschaftlich eine neue Rolle zugewiesen werden: In einer Welt, in der jeder Mensch Künstler sein kann, vielmehr sein muss, finden sich Künstler im ursprünglichen Sinne als auserkorene Verkörperungen einer alle Lebensbereiche durchdringenden Kreativität wieder. Sie werden als Ich-Ideal als neues Gesicht des Kapitalismus ausgestellt, die perfekte Matrize für das Modell des Menschen an der Spitze der Selbstverwirklichung – oder des kreativ-wütenden Zombies1. Selbst der Wunsch nach Abschaffung des alten Schöpferkultes spielt dem ästhetischen Kapitalismus in die Hände: Die Ablösung des Genies durch creative communities als Multiplikatoren für Schöpfung sind für das Wechselspiel aus Kreativität und Kapitalismus wesentlich ertragreicher und gleichzeitig schön demokratisch.

Die Entfremdung besteht heute zunehmend nicht mehr darin, dass der Fabrikarbeiter am Fließband mit dem produzierten Autoreifen nichts gemein hat, sondern darin, dass ein neuer Narzissmus geboren wird, bei dem das „Kunstwerk“ nicht Zweck der Kreativität, sondern ihr Mittel ist. Die Kreativität des Künstlers wird nicht mehr für die Kunst, sondern für ihn selbst verbraucht.

In der letzten Strophe von Rilkes Gedicht „Der Dichter“ (1907) hieß es noch:

„Alle Dinge, an die ich mich gebe, 
werden reich und geben mich aus.“

Schöner wurde die gute alte Entfremdung im Kulturbetrieb des traditionellen Kapitalismus nie gefasst. Heute müsste es schon heißen:

„Alle Dinge, die ich mir nehme
machen mich reich oder nehmen mich aus.“

Kastration ist die gewaltsame Unterbindung von Fortpflanzung des Selbst in etwas Anderem, das heißt die Beschneidung von Entäußerung. Ja, in diesem kapitalistischen System wird jede Form der Entäußerung beschnitten, indem künstlich erzeugte, „entfremdete Entäußerungen“ gefördert werden. Kapitalismus kastriert die Kreativität, indem er sie gemäß einer ökonomischen Verwertungskette ästhetisiert. Die Kastration der Kreativität des Künstlers verwandelt Kunst letztlich von einem Zweck der Fortpflanzung in ein Mittel der Masturbation. Wir befinden uns inmitten einer großen Party der spirituellen Gentrifizierung, bei der die geschaffenen „Kunstwerke“ nichts weiter als Eintrittskarten für die eigentliche Show sind – für das Spektakel der Selbstinszenierung und des narzisstischen Schöpfens. Im Rausch des authentischen Selbst im Dasein als Produktivkraft ist jedoch auf den Eintritt der Ernüchterung Verlass, wenn der Mensch sich schließlich darin „erschöpft, man selbst zu sein“2.

Wie aus einer anderen Zeit klingt in diesem Zusammenhang Donald Winnicotts Definition von Kreativität als „die Tönung der gesamten Haltung gegenüber der anderen Realität. Mehr als alles andere ist es die kreative Wahrnehmung, die dem einzelnen das Gefühl gibt, dass das Leben lebenswert ist.“ Das Phänomen „Haltung“ passt nicht in einen Kapitalismus, der Kreativität ästhetisiert und dementsprechende Ziele definiert. Es ist die kritische Reflexion der Wechselwirkung von Subjekt und Welt im kreativen Akt, die diesen zu einem künstlerischen macht und die daraus resultierende Haltung, die sich in ihrer Kontinuität der Einverleibungsmaschinerie des ästhetisierenden Kapitalismus entziehen kann.

Wir plädieren daher für ein transzendierendes, sich verflüchtigendes Selbst, das sich jeder Form von Abhängigkeitsverhältnis entzieht, statt für einen selbstinszenierten Narzissmus, der aus einer Knechtschaft heraus geboren wird. Mit Kunst als konkreter Utopie nicht entfremdeter Schöpfung zu wirken, bedeutet in der jetzigen Zeit, die Vielfalt von Lebendigkeit und Vergänglichkeit erfahrbar zu machen – durch Kreativität und nicht für Kreativität.

In jedem Falle sollten wir mit Kunst alles tun, den ästhetischen Kapitalismus zu infizieren, und ihm entweder durch Manie zum Fieberschock oder durch Depression zum Kältetod zu verhelfen.

Brigitta Muntendorf & Michael Höppner

Dieser Text entstand für die nmz in Anlehnung an die Konzeption des neuen gemeinsamen Musiktheaters „creative porn“ von Brigitta Muntendorf und Michael Höppner.

Anmerkungen

1 vgl. Markus Metz, Georg Seßlen: Wir Untote. Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Science & Pulp Fiction, Berlin (Matthes & Seitz) 2012

2 Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Berlin (Suhrkamp) 2008 

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