Das Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig (FZML) ehrt John Cage zum 100. Geburtstag mit Musik, Performances, Ausstellungen und vielem mehr. Dabei beschränken sich die Veranstalter nicht nur auf Leipzig. Cages Kunst strahlt von hier aus in die ganze Welt – und das ein Jahr lang. Über Cage-Interpretation im 21. Jahrhundert, die Intention dieses Festivals und die internationale Beteiligung hat die nmz mit dem Künstlerischen Leiter von FZML und CAGE100, Thomas Chr. Heyde, gesprochen.
neue musikzeitung: Warum haben sich das Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig und Sie dazu entschieden, John Cage hier in Leipzig so groß zu ehren?
Thomas Chr. Heyde: In der Bachstadt Leipzig gibt es einerseits eine große Traditionspflege, die zum Teil schon neurotische Züge annimmt. Andererseits ist Leipzig eine junge Kunststadt, in der auch die zeitgenössische Musik aufblüht. Bei Bach hat man es mit der ausgefeiltesten Figur der Musikgeschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu tun. Die Stadt ist mit einem solchen Monument ganz gut dafür geeignet, dass man ihr eine Figur der Musikgeschichte vorsetzt, die wie kein anderer Komponist vorher die Moderne und alles, was danach folgte, in Maß, Zahl und Form gefasst hat.
nmz: Muss man dem Monument Bach dann also auch ein Monument John Cage gegenüberstellen? CAGE100 läuft ein ganzes Jahr lang.
Heyde: Das war eine grundsätzliche Überlegung. Wir haben uns drei Jahre Gedanken gemacht, wie man einen Komponisten ehren kann, der die traditionellen Formen und Formate derart infragegestellt hat. Wir sind zur Antwort gekommen, dass das nicht im klassischen Konzertsaal oder in der klassischen Ausstellung funktioniert. Wir wollten keine epigonale Betrachtung Cages, sondern haben ihn als Inspirationsquelle genommen. Wir arbeiten nun unter anderem mit zeitgenössischen Künstlern zusammen, um Cages Gedankenwelt fortzuschreiben.
nmz: Drei Jahre Planung für ein Jahr Cage?
Heyde: Inklusive mir waren wir vier Dramaturgen. Wir haben versucht, das Œuvre im Gesamten zu fassen, stellten dabei aber fest, dass Teile meist gar nicht beleuchtet werden – auch im Zuge des gesamten Cage-Feuerwerkes in diesem Jahr. Wir merkten schnell, dass es eine Menge aufzuarbeiten gibt, denn sein Werk umfasst auch Ideen, die mit herkömmlichen Mitteln nicht zu realisieren sind. Nehmen wir „Fifteen domestic minutes“, ein Projekt, an dem neun Radiostationen deutschlandweit beteiligt sind und sein Werk zeitgleich aufführen. Cage ist mit seiner Umwelt in Kontakt getreten und hat damit die Administrationen und Rezipienten immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. Das wollen wir gerne weitertragen.
nmz: Ein Jahr Cage kostet viel Geld. War es schwer, Förderer und Unterstützer zu überzeugen?
Heyde: Ohne die Förderung von Land und Bund wäre dieses Projekt nicht zustande gekommen. Auch Leipzig hat etwas gegeben – allerdings nichts über die normale Förderung hinaus. Viele internationale Partner machen ohne Honorar bei CAGE100 mit – sonst würde so etwas nicht funktionieren.
nmz: Bei CAGE100 werden 100 Werke vorgestellt. Das sind nicht alle. Wonach haben Sie ausgewählt?
Heyde: Uns war klar, dass es erstens ein globales Projekt sein sollte. Zweitens sollte es unter aktiver Beteiligung heute lebender Künstler in einer globalen Form stattfinden. Drittens wollten wir selten zu hörende Werke aufführen. Und wir wollten durch die Partizipation heute lebender Komponisten erreichen, dass sich etwas fortschreibt und auch nach dem Projekt noch etwas vorhanden ist. Wir wollen kein Feuerwerk abbrennen, sondern nachhaltig etwas erreichen. Für das kammermusikalische Modul von CAGE100 haben wir beispielsweise mit einem Mathematiker zusammengearbeitet, der mit uns Wahrscheinlichkeitsrechnungen durchgespielt hat, die wir in ein Ausstellungsformat implementiert haben. Auf einer großen Ausstellungswand haben wir das Zufallsprinzip für das Publikum sichtbar gemacht – jeden Abend neu. Wir haben das konsequent zu Ende gedacht. Denn das Publikum hat sich an diesen Zufallsapparationen mit beteiligt. Im Gegensatz zu anderen Interpretationen wussten die Musiker nicht, welchen Teil sie aus dem Werk spielen werden. Das wurde erst während des Konzertes bestimmt.
nmz: Cage war nicht nur Komponist, sondern auch Maler, Filmemacher und vieles mehr. Werden diese Komponenten dargestellt?
Heyde: Cage hatte eine große künstlerische Offenheit gegenüber anderen Richtungen. Deswegen hat sich sein Werk aber nicht verwaschen. Im Gegenteil. Das war für uns Anlass zu sagen, dass wir diese Betrachtung auch in andere Bereiche fortführen wollen zum Beispiel mit der Ausstellung, die wir mit der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig gemacht haben. Dort sind Werke zu sehen, die um Themen kreisen, die Cage berührt hat. Wir wollten nicht noch eine Reinterpretation von 4’33’’, sondern Themenkreise aufbauen, die selbstständig von Künstlern bearbeitet werden.
nmz: Vier Monate läuft CAGE100 jetzt schon. Wo ist das Festival dem Komponisten sehr nahe gekommen?
Heyde: Es fällt schwer, wenn man etwas erarbeitet hat, etwas herauszugreifen. Wir hatten mit der Galerie für Zeitgenössische Kunst einen Raum, der architektonisch Cage sehr nahe ist. Er lässt sich – bis auf die Außenhülle – komplett verwandeln. Alle Wände lassen sich neu verstellen. Dort Cages Musik aufzuführen ist ein sehr glücklicher Umstand.
nmz: Was wird es noch geben?
Heyde: Zum Beispiel „Fifteen domestic minutes“ ein Stück, an dessen Interpretation Radiostationen deutschlandweit beteiligt sind. Cage hat eine Dokumentation geschrieben, in welcher Station man welche Schallplatte aus dem Regal ziehen soll. So kommt das Gesamtwerk zustande. Heute geht das digital. Ein zweites großes Vorhaben ist das „Watermusic Project“ mit den Partnerstädten Leipzigs. Außerdem gibt es das Turmglockenprojekt, bei dem in 50 Städten weltweit Carillon-Spieler zu hören sind. Und natürlich Mitte 2013 einen opulenten Abschluss, bei dem über 100 Kompositionen, die gerade erstellt werden, aufgeführt werden. „Party Pieces“ heißt das Stück, für das wir mehr als 100 Komponisten aus Amerika und Deutschland gefunden haben. Wie bei einem Kinderspiel, bei dem von einem Reim die letzte Zeile weitergegeben wird und der nächste wieder einen Vierzeiler dichtet, hat Cage das auf ein Kompositionsprinzip übertragen. Wir haben das erweitert. Es ist wichtig, dass alle Komponisten handschriftlich schreiben. Sie haben extra ein dafür hergestelltes, transparentes Blatt. Das Interessante ist, dass man über 100 kleine Kunstwerke bekommt. Das verbindet sich dann wieder mit Cage-Partituren, die ja auch zum Teil graphische Arbeiten sind.
nmz: Wonach wurden die Komponisten für „Party Pieces“ ausgewählt?
Heyde: Wir haben uns im Vorfeld die Arbeiten von je 150 bis 200 Komponisten aus Deutschland und Amerika angeschaut. Daraus haben wir eine Auswahl nach ästhetischen Gesichtspunkten getroffen. Insgesamt 128 kurze Kompositionen von maximal einer Minute wird es geben, die zusammen ein Werk bilden. Bei den Stücken ist alles möglich. Man kann frei oder auf Notenlinien komponieren. Nur die Besetzung steht fest. Jeder Komponist sieht nur den letzen Takt oder den letzten Teil des Blattes seines Vorgängers. In der Reihenfolge, in der die Stücke gerade entstehen, werden sie dann auch aufgeführt. Die Reihenfolge haben wir übrigens mit 768 Münzwürfen und dem Orakelbuch I Ging festgelegt. Das Problem an diesem Projekt ist: Wenn ein Komponist verzögert, ist die komplette Aufführung gefährdet, die parallel in New York und Leipzig stattfinden soll.
nmz: Damit sind wir bei der weltweiten Ausstrahlung von CAGE100. Wie wichtig ist die?
Heyde: Cage in Leipzig hätte keinen Sinn ergeben. Die Stadt ist zu klein. Auch Berlin wäre zu klein. Cage hat andere Dimensionen, wenn wir nur an das Radioprojekt oder das Turmglockenprojekt denken. Das Internationale hat sich logisch aus dem Werk heraus ergeben. Wenn in 50 Städten auf der Welt für Cage die Turmglocken erklingen und seine Musik spielen, dann ist das ganz in seinem Sinne.
nmz: Kann man Menschen ein ganzes Jahr lang für Cage begeistern?
Heyde: Ich glaube, man kann Menschen für Cage weniger begeistern, wenn man drei Tage lang seine Musik von früh bis abends spielt. Eine einmalige Opulenz, die es bei vielen Jubiläen gibt, wollten wir vermeiden und stattdessen dem Projekt einen langen Atem und Nachhaltigkeit verleihen. Alles andere wird ja gelegentlich zu einer Selbstbeschau der Institutionen, die es tragen. Und das wollen wir nicht. Wir wollen Cage beschauen, seine Gedanken weitertragen und ihnen Platz geben, sich neu zu transformieren. Und das mit anderen Partnern und vielen Künstlerinnen und Künstlern, die einem solchen Projekt auch gegenwärtige Lebendigkeit verleihen.
Interview: Stefan Reisner