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Sir Neville Marriner, Armin Jordan, Kurt Masur, Yuri Temirkanow – es waren wieder Dirigenten von Rang, die in diesem Sommer mit dem Weltorchester der Jeunesses Musicales zusammenarbeiteten. Die Stars ließen sich nicht durch Assistenten vertreten, sondern probten wirklich (Temirkanow sogar für zwei Programme). Im Vorjahr hatte das teilweise noch anders ausgesehen, wenn das Weltorchester als Anfängerensemble eingeschätzt worden war. Wer dann aber die konzentrierte Hingabe, das professionelle Können und die Disziplin der jungen Musiker und Musikerinnen kennengelernt hatte, revidierte diese Meinung schnell. An Umfang und Art der Proben konnte man den gewachsenen Respekt der Dirigenten am besten erkennen.
Mehr als Neville Marriner, der sein Berlioz-Chopin-Schubert-Programm eher routiniert absolvierte, beeindruckte Armin Jordan die jungen Musiker. Der Chef des Orchestre de la Suisse Romande hatte nichts Geringeres vor als eine Aufführung des ersten „Walküre"-Aktes. Gewiß: Das Orchester hatte bereits drei Wochen zuvor an Ort und Stelle geprobt. Außerdem brachte Jordan noch vier Tubisten zur Verstärkung mit. Das Ergebnis war dann aber auch für den Dirigenten so bemerkenswert, daß er im privaten Gespräch meinte, es übertreffe alle früheren „Walküre"-Erfahrungen mit anderen großen Orchestern.
Kurt Masur hatte sich ein Programm von nicht geringerer Stringenz ausgedacht, ergänzte er doch Prokofieffs berühmte Ballettmusik „Romeo und Julia" durch César Francks späte und selten gespielte Symphonische Dichtung „Psyché". In den Proben erläuterte er ausführlich die Liebesgeschichte von Amor und Psyche, die der Komponist den „Metamorphosen" des Apuleius entnommen hatte. Aus der Verbindung zwischen beiden sei schließlich „Joy" hervorgegangen, was Masur auf das Finale der Neunten Symphonie bezog. Bis heute ist die Autorschaft des Textes, den der kommentierende Chor singt, ebensowenig geklärt wie die Gattungszugehörigkeit des gan-
zen Werkes. Formal ist es noch stark der Wagnerschen Sequenztechnik verpflichtet, während das impressionistische Klangbild schon auf Debussys „Pelleas und Melisande" verweist. Masur deutete das Werk auf persönliche Weise um, indem er die solistische Tenorpartie durch eine Rezitation ersetzte. Die Schauspielerin Marthe Keller, eine der Mitbegründerinnen des Verbier-Festivals, sprach melodramatisch zur Musik einen Text Jean de La Fontaines. Wieweit diese Wendung der Symphonischen Dichtung zum Melodram in sich schlüssig war, kann nur bei genauerer Kenntnis der Vorlagen beurteilt werden. Musikalisch allerdings überzeugten die subtilen Übergänge in den Streichern, die Beweglichkeit der Holzbläser, die gute Klangbalance mit den Sängern des Genfer Choeur La Psallette und die wirkungsvoll angesteuerte Apotheose im schweren Blech.
Trotz Kurt Masurs Engagement für César Franck, von dessen geringen Erfolgen zu Lebzeiten er sprach, blieb „Psyché" dem Orchester immer noch fremder als Prokofieffs „Romeo und Julia"-Suite. Das Interesse hierfür war spürbar größer. Masur, der bei den Proben wie auch im Konzert grundsätzlich auf den Stab verzichtete, brauchte hier weniger weit auszuholen. Er ging gleich in medias res, sang, hauchte oder knurrte vor, wie er sich den Ausdruck einer Liebesmelodie oder einer Bläserattacke vorstellte. Manche Celloeinsätze mußten nicht weniger als sechs Mal wiederholt werden, bis sie ihm endlich gefielen. Dann aber verwandelte sich seine Unzufriedenheit in hohes Lob, worauf sich die Gesichter der Musiker aufhellten. Wie dann das Konzert – einer der musikalischen Höhepunkte des ganzen Festivals – zeigte, hatte sich die gründliche Probenarbeit gelohnt. Die Prägnanz des Ausdrucks in allen Sätzen, von der Attacke bis zum schmelzenden Melos, begeisterte so sehr, daß ein Satz wiederholt werden mußte. Wenn der Dirigent danach allen Musikern der ersten Pulte die Hände schüttelte und sich beim Abschied ans Herz faßte, war dies keine leere Geste. Bei einer nachfolgenden Podiumsdiskussion mit der Schriftstellerin Christa Wolf konnte man aus Masurs Mund hören, die Zusammenarbeit mit diesem Orchester habe ihn – trotz seiner Sorgen wegen zunehmender Subventionskürzungen für die Kultur – wieder zuversichtlich gemacht hinsichtlich der Zukunft unserer Musikkultur.
Zukunftswerkstatt
Mit der Einladung des Weltorchesters zu einem mehrwöchigen Aufenthalt wurde auch Verbier zur Zukunftswerkstatt. Aufbauarbeit geschah darüber hinaus in den Meisterkursen, in diesem Jahr mit den Fächern Violine (György Pauk, Dmitry Sitkovetsky), Violoncello (Julian Lloyd Webber, Lynn Harrell), Klavier (Joseph Kalichstein, Bella Davidovich), Gesang (Hakan Hagegard, Theo Adam und Roger Vignoles) sowie Tanz (Jean-Laurent Sasportes). Die täglichen Kurse sind für Besucher kostenlos zugänglich wie die Proben mit dem Orchester oder die Kammermusik mit bekannten Solisten. Im großen Zelt neben der Bergbahn konnte man etwa verfolgen, wie Martha Argerich zusammen mit Dmi-try Sitkovetsky, Julian Rachlin, Lyda Chen und Natalie Clein Schumanns Klavierquintett op. 44 erarbeitete. Vor dem Konzert konnte man sich so genauer in ein Werk und seine Probleme hineinhören. Wer es genauer wissen wollte, konnte jeweils vor den Abendkonzerten Werkeinführungen im Café-Schubert besuchen. Martin Engström, der Intendant des nun zum vierten Mal durchgeführten Festivals, läßt die Kulinariker unter den Musikfreunden zwar weiter zu ihrem Recht kommen; jedoch hat er in diesem Jahr die Bildungsmöglichkeiten noch vergrößert. Mit der Einladung des Genfer Ensemble Contrechamps sowie der Komponisten Michael Jarrell, Stefano Gervasoni und Toshio Hosokawa wuchs außerdem deutlich der Anteil der zeitgenössischen Musik (allerdings separat, als Festival im Festival).
Wie im Winter, wenn der Skisport alles beherrscht, ist Verbier auch im Sommer ein Ort für Aktivisten - für Musikaktivisten. Nicht das Publikum und die Werke stehen im Mittelpunkt, sondern die bekannten oder noch zu entdeckenden Künstler. Engströms Spezialität sind spontane Begegnungen, die „Rencontres inédites". Feste Kammerensembles mögen über den musikantischen ad-hoc-Charakter die Nase rümpfen. Die feurige Intensität können sie aber kaum übertreffen, mit der etwa Gidon Kremer, Mischa Maisky und Martha Argerich beim e-Moll-Trio op. 67 von Schostakowitsch zum ersten Mal zusammentrafen. Bei solchen Ereignissen, auch in einem Konzertmarathon Martha Argerichs und ihrer Freunde, wehte der Geist von Lockenhaus nach. In Verbier allerdings gibt es keine Zentralfigur. Die Clans mischen sich und mit ihnen die Sprachen Englisch, Französisch und Russisch (das Deutsche spielte trotz der Anwesenheit von Kurt Masur, Theo Adam und Christa Wolf nur bei den Liedkursen eine prominentere Rolle).
Zu den spontansten und unauffälligsten Musikern gehörte Nigel Kennedy, der sich abends unter das Konzertpublikum mischte, bei nächtlichen Jazzimprovisationen an der Hotelbar aber zur vielbewunderten Höchstform auflief. Er beherrschte wohl am virtuosesten jenes musikantische Cross-Over, dem sich beim diesjährigen Verbier-Festival auch die King’s Singers, eine Saxophonisten-Gruppe vom Montreux Jazz Festival und der Gitarrist Martin Mastik widmeten. In gewisser Weise gehörte zu diesem Thema auch die lange Konzertnacht Martha Argerichs, die am Ende in konzertante Piazzola-Tangos einmündete, gespielt von argentinischen Freunden. Die Perkussionisten des Weltorchesters schließlich bewiesen bei einem eigenen Auftritt mit Kompositionen wie „Rock Etude" (Douglas/Udow) oder „Take That" (Albright), daß sie für die Zusammenarbeit mit Lalo Schifrin in seinem Programm „Jazz Meets the Symphony" durchaus gewappnet waren. Wie im Vorjahr bei Bobby McFerrin mußte man dabei höllisch aufpassen, um die unkonventionelle Zeichengebung dieses Auch-Dirigenten zu verstehen.
Kein Kult um die Stars
Trotz Künstlerphotos in fast allen Schaufenstern treibt Verbier nicht eigentlich Starkult. Die eher moderaten Eintrittspreise reduzieren sich für Einheimische zusätzlich. So wurde auch ein Konzertabend mit gleich drei Solokonzerten nicht gleich zum Jahrmarkt der Eitelkeiten, obwohl ein Programm mit Lynn Harrell und dem 1. Cellokonzert von Saint-Saens, mit Gil Shaham und dem e-Moll-Violinkonzert von Mendelssohn sowie Yefim Bronfman und dem dritten Klavierkonzert von Rachmaninov auf den ersten Blick nicht weniger verrückt wirkt als ein Auftritt der drei Tenöre.
Was schließlich interessierte, waren die unterschiedlichen Kommunikationsformen der drei Solisten: wie Harrell sich mit spielerischer Leichtigkeit und Eleganz fast ausschließlich auf das Publikum bezog, Shaham dagegen dialogisch auf das Weltorchester und seinen Dirigenten Yuri Temirkanow einging, während schließlich Dmitri Alexejew (der für den erkrankten Bronfman einsprang) sich eher monologisierend in das Werk versenkte. Wo sonst kann man eine solche Programmfolge in der Besetzung erleben? Und wo sonst spielen die gleichen drei Solisten am folgenden Abend als Klaviertrio Schuberts op. 99 – in uneitlem Miteinander?