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n der Nacht vom 9. zum 10. November 1936, genau zwei Jahre vor der Pogromnacht, wurde das Mendelssohn-Denkmal vor dem Leipziger Gewandhaus-Gebäude „abgerissen“. Am darauffolgenden Morgen sollte, perfekter Planung zufolge, bereits „Gras“ in Form eines Blumenbeetes über die Stelle gewachsen sein, an der das 1892 geweihte Denkmal von Fritz Stein über 44 Jahre an den berühmten Gewandhauskapellmeister erinnert hatte.
Doch Spuren roher Gewalt zeugten, für jeden sichtbar, von der Nacht- und Nebelaktion. Vorausgegangen waren, ausgelöst durch die Kreisleitung der NSDAP, mehrere Monate währende Dispute. Wie schon im Zusammenhang mit der Entlassung von Opernleiter Gustav Brecher Anfang 1933 wurde mit vermeintlich nötiger Rücksicht auf die Gefühle der „Leipziger Bevölkerung“ argumentiert.
Unter der Stadtobrigkeit herrschte über das Ansinnen noch geteilte Meinung. Vor allem Carl Goerdeler versuchte, eine Entscheidung vorerst aufzuschieben, um die überstürzte Aktion noch verhindern zu können. Dabei hoffte der Oberbürgermeister auch auf Unterstützung durch Reichspropagandaminister Joseph Goebbels sowie dessen – unter anderem für den Jüdischen Kulturbund zuständigen – Sonderbeauftragten Hans Hinkel, die solche „Bilderstürmereien“ als taktisch ungeschickt ablehnen würden. Bürgermeister Rudolf Haake, einer der Antipoden Goerdelers, hielt indes eine rasche Erledigung für geboten und inszenierte im Spätsommer eine Pressekampagne. In einem Artikel, der am 16. September 1936 in der Leipziger Tageszeitung erschien, agitierte er mit massenaufpeitschendem Ton gegen das vermeintliche Phantom einer „jüdischen Weltverschwörung“, dessen Einfluß zu bannen die „Stimme des Volkes und des völkischen Gewissens“ gebieten würde. Er suchte dabei die angeblichen Gefahren herauszustellen, die mit der Erinnerung an den einstigen Gewandhauskapellmeister, den Komponisten und ersten Studiendirektor des Leipziger Konservatoriums verbunden seien.
Gezielte Ausgrenzung
Die Notwendigkeit rigoroser Maßnahmen würde insbesondere aus einem „höchst peinlichen Vorfall“ resultieren, „der sich in diesen Tagen in einem Leipziger Gasthaus ereignet“ habe: „Die Kapelle des Gasthauses spielt die Ouvertüre zur Oper „Die Hebriden“ von F. Mendelssohn-Bartholdy, einem bekannten jüdischen Komponisten. Mit Recht lehnt ein Teil der Gäste, die kurz zuvor die Reden aus Nürnberg gehört und durchdacht hatten, diese jüdische Musik ab. Man kann dem beteiligten Kapellmeister Vorwürfe machen, die er sicher beherzigen wird. Er wird aber zu seiner Verteidigung darauf hinweisen, daß in Leipzig vor dem Gewandhaus, also an bevorzugtem Platze, das Denkmal dieses Komponisten steht, und daß bei festlichen Anlässen, zum Beispiel bei einem Empfang im Reichsgericht durch den Thomanerchor, Kompositionen Mendelssohn-Bartholdys zum Vortrag gebracht wurden.“
Bezeichnend für die in der Presse propagandistisch aufgemachten Spitzfindigkeiten ist, wie in ungezählten anderen Fällen auch, daß jedes Wort über die Qualität der Werke als überflüssig abgewiesen wurde: „Es soll hier keine Diskussion über den Wert der Kompositionen angeschnitten werden. Es geht aber wider das gesunde Empfinden des Volkes, wenn mit unerbittlicher Konsequenz der gerade auf kulturellem Gebiete vom Judentum angerichtete Schaden herausgestellt wird und dann, aller Augen sichtbar, aus falsch verstandener Pietät und Rücksicht das Denkmal eines Juden stehen bleibt.“
Die antisemitischen Angriffe auf Mendelssohn lassen sich nicht auf Attacken einiger ahnungsloser Parteifunktionäre oder auf ein gesetzlich geregeltes Verbot reduzieren. Der Verdrängungs- und Ausgrenzungsmechanismus war ein komplexer, von vielen getragener, aber auch mit Widerspruch registrierter. Mitglieder der NSDAP-Ortsgruppen konnten sich vielfach auf Äußerungen jener Kräfte stützten, von denen Aufklärung zu erwarten ist, nämlich den Fachleuten, hochrangigen Musikwissenschafts-Professoren und begabten Nachwuchs-Forschern, die in Büchern und Artikeln Mendelssohn als gefährlichen „Zwischenfall“ in der deutschen Musikgeschichte zu brandmarken suchten. Der Abriß des Mendelssohn-Denkmals – in jenem Jahr, in dem auch der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens das „deutsch“ aus dem Namen streichen mußte – schien für eine Reihe von Musikologen von Fanalwirkung gewesen zu sein. Die Zahl deutscher Musikgeschichten mit rassistisch intendierten Auslassungen nahm beträchtlich zu.
„Undeutsche“ Musik
Den Versuch, Mendelssohns Musik etwas typisch „Jüdisches“ (sprich: „Undeutsches“) zu unterstellen, unternahmen auch viele andere Musikologen. Ernst Bücken meinte, der „Grund einer gewissen Eintönigkeit“ läge „in der oft leierig werdenden Rhythmik, die schon H. von Waltershausen als ein fühlbar durchschlagendes rassisches Merkmal in Mendelssohns Musik angesprochen hat“. Robert Pessenlehner schrieb von der „allmählichen Umwandlung des arischen Rhythmusgesetzes in ein außerarisches“ und bemängelte bei Mendelssohn besonders das Fehlen „jeglicher Synkopen“, vermeintlich symptomatisch für „jüdische Musik“. Der Autor versuchte seitenlang zu belegen, daß sich anhand der Synkope „arische und nichtarische Tonsetzer“ scheiden ließen. Jedoch mußte er sich am Ende selbst eingestehen, daß die „Erklärung der Merkmale der deutschen Musik [...] nach dem Stande der gegenwärtigen Forschung auch nicht einzig und allein dem Rassengrundsatz übertragen werden“ könne. Mit der Berufung auf die Autorität Richard Wagners, des „großen Deutschen“, suchte er verbliebene Unsicherheiten zu schmälern.
Damit ist angedeutet, daß die Ausgrenzung von Mendelssohns Schaffen unter dem Verdikt des „Undeutschen“ mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten einsetzte, sondern die tragische Konsequenz einer bereits seit geraumer Zeit brodelnden Entwicklung, die hier nicht näher beleuchtet werden kann. Zurecht wird in jüngerer Zeit angemahnt, „das Verhältnis zum Judentum“ bei Wagner, der Mendelssohn einst geradezu vergöttert hatte, „nicht ausschließlich durch das Prisma des Nationalsozialismus“ (Vladimir Karbusicky) zu betrachten. Verweise etwa auf den Frust über Meyerbeer und das Pariser Musikleben, ja über die Situation der zeitgenössischen Musik überhaupt, den Wagner zu kompensieren gesucht habe, vermögen den antisemitischen Ton, der polarisierte und Feindbilder schuf, nicht moralisch zu rechtfertigen. Wagner analysierte nicht, er verteufelte. Schon gar nicht ging es ihm um eine sachliche Auseinandersetzung mit dem „Epigonentum in der Musik“ (Hartmut Wecker).
Der renommierte Verlag Breitkopf & Härtel gab Wagners Aufsatz nach der „Machtübernahme“ in einer Broschüre neu heraus, erweitert durch ein propagandistisch aufgemachtes Vorwort. In diesem zählte Hermann Killer die Schrift zu den „wertvollsten Dokumenten der Nation“, preiste sie als „völkische Bekenntnisschrift und seherische Mahnung und Warnung“, gar als „Gesamtschau des Judentums, die an dem Beispiel der Musik immer wieder die allgemeine kulturelle Situation der Zeit umreißt“.
Während zahlreiche Musikpublizisten im NS-Staat Mendelssohn als „Fremdling“ und Gefahr für die „deutsche Musik“ ausführlich zu geißeln suchten, mogelten sich andere Autoren an Mendelssohn vorbei, indem sie ihn verschwiegen. Für Joseph Müller-Blattau – seit 1935 Professor, zunächst in Frankfurt a. M., seit 1937 in Freiburg – reduzierte sich der „Fall Mendelssohn“ auf die apodiktische Notiz: „Es ist nicht die Aufgabe einer deutschen Musikgeschichte, sich mit ihm und seinen Ouvertüren, Sinfonien und Oratorien, seinen Liedern und seiner Klaviermusik zu befassen.“ Andererseits machten einige Publizisten – auch Autoren, die gemeinhin als poltisch zuverlässig galten – gerade mit Mendelssohn eine Ausnahme. So schrieb Hans Joachim Moser, von dem mehrere Publikationen über Musik und Rasse stammen, in der 1938 erschienenen Ausgabe seiner „Kleinen Deutschen Musikgeschichte“: „Anders liegen meines Erachtens (der Fall) von Felix Mendelssohn [...] Mendelssohns beste Werke [...] haben im künstlerischen Weltbild deutscher Meister wie Schumann, Brahms, Bülow, Bruch und Reger ausdrücklich eine Rolle gespielt, die zu den musikgeschichtlichen Tatsachen jener Zeit gehört [...] Wenn also auch diese [...] seit 1933 praktisch für Deutschland (ausfällt), so jedenfalls mehr aus der staatspolitischen Notwendigkeit einer Gesamthaftung des Judentums für die zuvor versuchte Überfremdung deutscher Kultur, als wegen eines absoluten Unwerts jener Werke und ihres praktisch-künstlerischen Bemühens.“
Eine bemerkenswerte Ausnahme unter den Veröffentlichungen im NS-Staat stellte die 1936 herausgegebene 14. Auflage des „Kurzgefaßten Tonkünstler-Lexikons“ dar. Der Tradition dieses von Paul Frank (= Carl Wilhelm Merseburger) begründeten Nachschlagewerkes folgend, wurde – nunmehr unter Verantwortung von Wilhelm Altmann – ein großer Kreis von Musikschaffenden anhand knapper biographischer Fakten und eines summarischen Überblicks wesentlicher Schaffensbereiche erfaßt, jedoch auf Wertungen jeglicher Art verzichtet. Nicht zu bewerten schloß ein, weder Musikschaffende aus rassistischen Gründen auszusparen noch Mendelssohn oder Mahler, Schönberg, Eisler, Klemperer und Weill – um nur einige zu nennen – in anderer Weise zu behandeln als beispielsweise den Reichsmusikkammer-Präsidenten Raabe.
Auch im öffentlichen Musikbetrieb wurden die Bestrebungen, Mendelssohns Werke zu verbieten, gelegentlich ignoriert. Noch im Märzheft der „Zeitschrift für Musik“ von 1935 lobte Grete Altstadt-Schütze nach einem Konzert in Wiesbaden „den aus innerstem Adel musizierenden Prof. Georg Kulenkampff“ gelobt, „der bewies, daß man Mendelssohns Violinkonzert in solch meisterlicher Aufmachung noch lieben“ könne. Im Februar 1935 führten die Thomaner die Motette über den Psalm 43 op. 78 Nr. 2 auf, im darauffolgenden Jahr erklang ein Chorwerk Mendelssohns sogar zu offiziellem Anlaß im Reichsgericht. In Georg Schünemanns „Führer durch die deutsche Chorliteratur“, herausgegeben im Auftrag des Amtes für Chorwesen und Volksmusik innerhalb der Reichsmusikkammer, waren Werke Mendelssohns noch verzeichnet, aber mit dem Hinweis versehen: „Darf bei Veranstaltungen der N. S. D. A. P. nicht gesungen werden.“ Die Reaktionen seitens der Parteibehörden waren konträr und hingen stark von den örtlichen Machtpositionen ab. Während Karl Straube in Leipzig persönlich nichts geschah (schützte ihn die frühe NSDAP-Mitgliedschaft seit 1926?), wurde Felix Oberborbeck, Rektor der Weimarer Musikhochschule, der 1939 ein Werk Mendelssohns in der Akademie aufführte, von seiner Tätigkeit suspendiert.
Während auf den Programmen der Konzerthäuser an Mendelssohns Stelle in der Regel stillschweigend „arische“ Komponisten rückten, ließ sich ein Werk nicht ohne weiteres ersetzen: die Musik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“. Zwar wurden schon 1934 von Theatern Aufträge an Komponisten erteilt, eine neue Musik für das populäre Stück zu schreiben, doch sollte sich zeigen, daß die Resultate nicht ohne weiteres geeignet waren, Mendelssohn aus der Erinnerung zu löschen. Dies mußten sogar ansonsten systemtreue Kritiker zugeben. So schrieb Fritz Stege, der mit Kampfbund-Taktiken gegen vermeintlich „kulturbolschewistische“ Erscheinungen vorging, nach der Premiere von Edmund Nicks Musik: „Man kann beim besten Willen nicht vermeiden, den sich aufdrängenden Vergleich mit der Mendelssohnschen Originalmusik zu unterdrücken. Mag man gegen Mendelssohn auch berechtigte Bedenken vorzubringen haben, so läßt sich nicht leugnen, daß Mendelssohn den Zauber des Waldes in einer Weise eingefangen hat, die im Stimmungsgehalt einmalig bleibt. Von Mendelssohn hätte Nick lernen können [...]. Nein: zum Sommernachtstraum gehört nun einmal Mendelssohns Musik. Es gereicht keinem Bearbeiter zur Ehre, dieses künstlerische Meisterwerk anzutasten.“
Identifikation als Reaktion
Die häufigen Aufführungen von Werken Mendelssohns in den Jüdischen Kulturbünden vermögen nicht über die zwanghafte Situation hinzuwegtäuschen, durch die sie in folgenreicher Weise bestimmt wurden. Davon zeugen nicht zuletzt die heftigen Dispute über die Relevanz des „Jüdischen“ innerhalb der Kulturbund-Veranstaltungen, die prinzipiell nur für eingeschriebene jüdische Mitglieder stattfanden, als „geschlossene Veranstaltungen“ mit aufwendiger Überwachung durch die Gestapo. Die Kontroversen wurden einerseits durch die mannigfaltigen religiösen, kulturellen und politischen Bindungen der Kulturbund-Mitglieder geschürt: Die einen forderten, sich das Recht auf das europäische kulturelle Erbe nicht verbieten zu lassen, die anderen sahen in der verstärkten Besinnung auf „jüdische Traditionen“, was immer sie darunter verstanden, einen Ausdruck der Selbstbehauptung, der Identifikation, des Solidarverhaltens. Andererseits wurden sie bestimmt durch die wachsenden Restriktionen seitens der NS-Funktionäre, welche die Programme immer stärker beschnitten und letztlich eine Beschränkung auf „jüdische“ Literatur verlangten, wobei sie allerdings von einem rassisch begründeten Begriff von jüdischer Kultur ausgingen.
„Das Dilemma lag darin“, schreibt Bernd Sponheuer in einer Studie, „daß das emphatische Insistieren auf der jüdischen Identität unter den Bedingungen des Zwangs einen unaufhebbaren Doppelcharakter annahm; Selbstbestimmung und Fremddefinition ließen sich nicht voneinander trennen: Was auf der einen Seite einen Akt der positiven Identifikation darstellte, war auf der anderen Seite ein Einschwenken in den von den Nazis vorgezeichneten Rahmen einer jüdischen Abgesondertheit. Gleich hinter dem Asyl, das im Bekenntnis zur jüdischen Identität gelegen war, begann das Ghetto als Zwischenstation eines kalt geplanten, stufenweise vollzogenen Vernichtungsprozesses.“
Vor diesem Hintergrund – zwischen Selbstbehauptung und Restriktionen, Selbstbestimmung und Fremddefinition – wurden Werke Mendelssohns im Jüdischen Kulturbund aufgeführt und es wirkte von 1933 bis 1938 ein Mendelssohn-Trio, welches neben Kammermusik des 18. und 19. Jahrhunderts vor allem Werke zeitgenössischer Komponisten jüdischer Herkunft aufführte.